Edward Gibbon – Verfall und Untergang des römischen Imperiums

Als man Mommsen bat, sein schon zur damaligen Zeit monumentales Werk über den Tod Caesars hinaus mit einer Darstellung der römischen Kaiserzeit fortzusetzen, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass Inhalt und Form von Gibbons Darstellung nicht zu übertreffen seien und somit der Geschichte des langwierigen Niedergangs des Römischen Reiches nichts mehr Substantielles hinzugefügt zu werden könne. Diese Sichtweise darf man mit guten Gewissen anzweifeln, ruht doch Gibbons Werk fast ausschließlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen, ganz im Gegensatz zu Mommsen, der nicht nur das Glück hatte auf Ergebnisse der noch jungen Wissenschaft von der Archäologie zurückgreifen zu können, sondern der ebenfalls in einem bis dahin (und bis heute) nicht gekannten Ausmaß vor allem epigraphisches Material für seine Untersuchung heranzog.
Dennoch oder gerade deswegen ist Gibbons Werk nur um so beeindruckender. Aus dem ebenso reichhaltigen wie problematischen Quellenmaterial arbeitet er die Gründe für den Verfall und den zwangsläufigen Untergang des Römischen Reiches im Westen heraus. Der Verfall der Sitten, allgemeine Dekadenz, die egoistische Suche nach Luxus und Macht zerstörten in einem überraschend langwierigen Prozess von fast 500 Jahren die so unerschütterlich scheinenden Fundamente des Römischen Reiches. Das Werk reicht von Augustus bis beinahe zu Karl dem Großen, geht also über den eigentlichen Untergang des Römischen Reiches im Jahre 476 n.Chr hinaus, als der letzte Kaiser, der kurioserweise nach dem sagenhaften Gründer der Stadt sowie nach dem großen Augustus benannt wurde, Romolus Augustulus, den kaiserlichen Purpur ablegte zugunsten von Odoaker, der Abstammung nach der Sohn eines Barbaren, die bereits seit langer Zeit die Geschicke des Römischen Reiches lenkten. Odoaker ließ dem Kaiser des Oströmischen Reiches in Konstantinopel ausrichten, in Italien bräuchte man keinen „Augustus“ mehr, weshalb der den Titel eines Rex Italiae annehmen wolle.
Präzise und mit einem guten Schuss Ironie verfolgt Gibbon die wechselhaften Ereignisse dieser 500 Jahre. Gerade die ironische manchmal sogar zynische Darstellung verhindert, dass das immerhin 3000 Seiten starke Werke unter detaillreichen Last der reinen Nacherzählung in tödlicher Langeweile erstarrt. Vielmehr bleibt der gesamte Bau auf diese Weise geschmeidig unterhaltsam, gelegentlich sogar amüsant.
Gibbon hat, wie Mommsen, den Mut die Ereignisse einer rein subjektiven Wertung zu unterziehen, die lediglich auf den ersten Blick von dem scheinbaren Rückgriff auf den common sense der Aufklärung objektiviert wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, die herrschenden politischen Zustände im Europa der zweiten Hälften des 18. Jahrhunderts anzugreifen und zu kritisieren. Dadurch dass er immer wieder Analogien zwischen den antiken Verhältnissen und den zeitgenössischen schafft, gerät das Werk im Grunde zu einer Art von „Germania“ des aufgeklärten Absoutismus aus dem Blickwinkel des „bürgerlich-liberalen“ Englang. Tacitus wollte mit seiner Schrift bekanntlich nicht zeigen, wie einfach und naturverbunden die scheinbar so wilden Germanen in ihren dunklen Wäldern lebten, sondern er wollte Im Spiegel des Gegenteils die eigene Kultur der Dekandenz und der hemmungslos egoistischen Gier nach Reichtum und Macht darstellen.
Gibbon zeigt nur auf den ersten Blick Fremdes. Die zeitgenössischen Verhältnisse erscheinen im Abstand von 1200 Jahren greller und bedrohlicher. Abgemildert wird diese sich durchziehende Kritik an den bestehenden Verhältnissen durch typische aufklärischerische Anmerkungen über die bedeutenden Fortschritte, die im Laufe der Zeit auf den verschiedenen Feldern eines Gemeinwesens erreicht wurden. Nicht immer überzeugen diese Anmerkungen, schon gar nicht aus der Perspektive eines Lesers des 21. Jahrhunderts, dem der Gedanke eines teleologischen Geschichtsverständnisses, das hinter diesen Anmerkungen steckt, wohl eher reichlich schal vorkommen dürfte, als dass er sich dafür faszinieren könnte.
Bemerkenswert sind aber vor allem die ausführlichen Abschnitte über das Christentum, das sich genau in dieser Zeit von einer kleines Sekte zur Staatsreligion wandelt. Mit deutlichen Vorbehalten schreibt Gibbon eine herrlich erfrischende Geschichte der Frühzeit des Christentums und zertrümmert mit kritischen Geist die althergebrachte Tradition der panegyrischen Kirchengeschichtsschreibung. So wie überall Egoismus, Ruhmsucht, Lüge, Missgunst und Neid herrschen, so auch in den Institutionen der jungen, sich entwickelnden Kirche. Gibbon unterscheidet auch hier mit feinem Gespür zwischen Heuchlern und Heiligen, wie er auch im Wühltisch der politischen Geschichte unter der großen Zahl schlechter, ja unfähiger Herrscher die fähigen Politikern und Feldherren mit sicherer Hand findet.
Das große Problem von Gibbons Darstellung ist der Primat der politischen Geschichte. Es ist ein kaum zu vermeidendes Grundübel politischer Geschichtsschreibung, dass sie leicht der Versuchung nachgibt, die Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten zu reduzieren. Gibbon kann sich dem nur teilweise entziehen. Der Primat von Politik und Militär ist deutlich und im Hinblick auf die Entstehungzeit des Werkes auch keineswegs anrüchig. Fast völlig ausgeblendet bleiben Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, womit auch er Hauptunterschied der geschichtswissenschaftlichen Methodik zwischen Gibbon und Mommen bezeichnet wäre.
Zum Schluss noch eine Warnung. Man sollte nicht in einen überflüssigen Geschichtspessimismus verfallen, nachdem man dieses umfangreiche Werk gelesen hat. Sicher kann sich einem der Gedanke aufdrängen, die Geschichte der Menschheit werde vorangetrieben durch die wechselhaften Ergebnisse militärischer Auseinandersetzungen, der Krieg als Vater aller Dinge also, und von einer kleinen Anzahl Männer je nach ihren individuellen Fähigeiten und Eitelkeiten blind in irgendeine Richtung gelenkt.
Die Geschichte der Menschen kennt keine Richtung, sie läuft schon gar nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, das in allen seinen schillernden Ausprägungen immer nur eine ideologische Fiktion war. Die Geschichte der Menschen hat demnach auch keinen Sinn. Nicht Resignation sollte die Folge dieser Schlussfolgerung sein, sondern vielmehr Antrieb, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern, um unseren Nachkommen genau das auch zu ermöglichen.

Kafka, Kohlhaas, Windmühlen und Fujitsu-Siemens

Ich weiß, eigentlich gehört das nicht hierher.Aber loswerden muss ich es trotzdem. Seit dem 4.3.08 ärgere ich mich mit einem fehlerhaften Laptop herum, habe reklamiert, das Gerät einmal eingeschickt, ein anderes Mal eingeschickt, die immergleiche Geschichte immer anderen unverbindlich besorgten Callcenter-Mitarbeitern erzählt, ohne dass sich etwas getan hätte. Ein Tipp von homberle half weiter und nach weiteren Emails, Briefen und Anrufen, bequemte der Hersteller sich, das Gerät doch auf Kulanz zurückzunehmen. Als ich das Gerät zum Händler zurückschickte, glaubte ich mich bereits auf der sonnigen Straße des Erfolgs, bis mich eine Mail erreichte, in der man mir mitteilte, dass man mir den Betrag erst vergüte, wenn auch der fehlende Akku eingetroffen sei. Ich habe diesen Akku aber eingepackt… Nach Beteuerungen meinerseits und einigem Herumlavieren auf Seiten des Händlers andererseits, löste sich die Sache am vergangenen Donnerstag in Wohlgefallen auf. Ein Anruf des Händlers teilte mir mit, dass sie eben einen defekten Akku einbauen würden und das Gerät dann zum Hersteller zurückschicken würden. Von mir aus. Heute endlich, ist das Geld, alles bis auf den letzten Cent, wieder zurück auf meinem Konto. Was lange währt…
Die Situation glich einer Szene aus einem Roman Kafkas, dem Prozeß beispielsweise. Man bekommr Ratschläge, ja sogar Anweisungen, die man unbedingt auszuführen hat, um zum Ziel zu kommen. Doch die selben Instanzen weisen alles von sich, geben unklare Erklärungen, machen die Sinnlosigkeit und die Widersinnigkeit ihres eigenen Systems deutlich, ohne es durchbrechen zu können. K. im Prozeß resignierte schließlich, passte sich an, wollte dem Henker selbst das Beil aus der Hand nehmen, um sich in einem letzten Akt des vorauseilenden Gehorsams selbst zu richten.
Neben der Resignation, der ich mehr als einmal sehr nahe war, wäre noch die Auflehnung geblieben. Auflehung gegen einen verlogenen kapitalistischen Apparat, dem der einzelne Konsument nur noch ein notwendiges Problem im Zusammenhang des Produktabsatzes ist – Auflehung gegen eine unpersönliche Instanz, die sich in ihrer Ignoranz und Aroganz dem Endverbraucher in allen Bereichen überlegen fühlt und so sich immer neue Mittel und Wege einfallen lässt, berechtigte Ansprüche abzulehnen oder hinauszuzögern. Aber hätte ich, wie Kohlhaas, das Recht in meine eigenen Hände nehmen und FSC die Bude anzünden sollen? ch fühlte mich im Recht, wenn aber niemand dieses Recht anerkennt? Leider kann ich mir mein Recht eben nicht selbst schaffen, kann die Zentrale von FSC in München nicht mit Brand und Zerstörung überziehen, wie Kohlhaas das getan hat, obwohl mir mehr als einmal dieser oder ähnliche Gedanken kamen. Aber was nachvollziehbar, vielleicht sogar gerecht ist, muss darum noch lange nicht richtig sein. Schließlich hätte mich der weise Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zurückgehalten.
Dieser Gedanke ist Kohlhaas fremd. Er setzt sein Recht und vor allem sein Rechtsempfnden absolut und erkennt dabei eines nicht. Dass es Instanzen gibt, die, wenn nicht über oder jenseits des Rechts stehen, so aber doch genügend Einfluss haben, das Recht zu beeinflussen, zu dehnen oder gar straflos zu brechen. Siemens und andere machen nach, was Kleist die Mitglieder der Familie Tronka, die mindestens so verzweigt ist und ebenso gute Beziehungen zu den entscheidenden Stellen im Staat hat, vormachen ließ. Kohlhaas hätte also nur eine Möglichkeit gehabt. In dem Moment als er den Boden des herrschenden Rechts verlässt, hätte ihm klar sein müssen, dass es keinen Weg zurück geben kann, solange das herrschende Recht nicht durch ein anderes ersetzt ist. Erst wenn seine Rebellion in eine Revolution umgeschlagen wäre und die herrschenden Zustände umgestürzt haben würde, hätte er sein Recht kompromisslos durchsetzen können. Aber dazu kann er sich dann doch nicht unterstehen. Insofern ist Kleists Novelle als indirekter Aufruf zur Revolution zu verstehen. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Entstehung des Kohlhaas eine gewagte Tat.
Bleiben noch die Windmühlen. Aber hier sollte man vorsichtig sein. Zwar nimmt man die Windmühlen als Ungeheuer, die keine sind, gegen die daher aller Kampf und jede Anstregung vergebens ist, aber man sollte nicht vergessen, wer gegen diese kämpft. Don Quichotte ist ein verwirrter Träumer, der die Realität nicht mehr von der ihm so gewohnten Welt seiner Ritterromane

unterscheiden kann. So ist sein Kampf nicht nur sinnlos, sondern schlicht lächerlich. Aber wenn Träumer lächerlich sind, dann lasse ich mich gerne als lächerliche Person bezeichnen…

Alfred Kubin – Die andere Seite

An einem trüben Novembertag bekommt der Protagonist, der namenlos bleibt, Besuch von einem Fremden, der sich als Agent eines alten Jugendfreundes, Claus Patera, ausgibt. Die Überraschung des Protagonisten, der wie der Autor Zeichner ist, steigert sich im Verlauf des folgenden Gespräches zunehmend. Durch wundersame Zufälle sei sein Jugendfreund Claus Patera zu märchenhaftem Reichtum gelangt, mit dem er sich in den Steppen Asiens ein eigenes Reich, das Traumreich, erschaffen habe. Der Agent übergibt eine Einladung ins Traumreich über zu siedeln sowie 100.000 Mark, die als Reisegeld vorgesehen sind. Nach einigem Zweifel reisen der Zeichner und seine Frau mit allen verfügbaren Verkehrsmitteln quer durch die Welt , bis ihre Reise nach Wochen in den Weiten der asiatischen Steppe auf dem Rücken von Kamelen vor der gigantischen Mauer, die den Zugang ins Traumreich kontrolliert, ein Ziel findet.
Der Zugang zum Traumreich ist nur denjenigen gestattet, die vom Herrn selbst eingeladen wurden. Wie sich später zeigt, soll die Mauer, wie so viele, nicht nur die Bewohner und das Reich vor unerlaubten Eindringlingen beschützen, sondern auch den Bewohnern das Verlassen des Landes unmöglich machen.
Im Traumreich scheint keine Sonne, sind keine Sterne, ist kein Mond zu sehen. Alles ist in ein dämmriges Zwielicht getaucht. Das Ehepaar findet in der Hauptstadt „Perle“ Unterkunft und der Zeichner bald sogar eine Anstellung bei einer Zeitschrift. Die gesamte Architektur der Stadt besteht aus Gebäuden, die komplett aus Europa stammen, für viel Geld erworben, demontiert, und hier wieder aufgebaut wurden. Außerdem sind es alles alte Häuser, die schon mitunter deutliche Verfallspuren zeigen. Allerdings erweist sich dieses Ambiente als inspirierend und die Besucher leben sich rasch ein. Sie gewöhnen sich an die altmodische Art der Bewohner sich zu kleiden. Etwas schwerer dagegen fällt den beiden allerdings die Geldwirtschaft. Dinge, die in Europa teuer sind, bekommt man im Traumreich sehr billig. Dafür sind andere Artikel, zum Beispiel Streichhölzer, extrem kostspielig, sodass den beiden sehr bald das Geld ausgeht.
Hinzu kommen weitere eigenartige Sitten. So kann es vorkommen, dass plötzlich Menschen vor der Tür stehen und die Begleichung einer Rechnung fordern, die nie gestellt wurde. Das Amt funktioniert nach bester Kafkascher Art, (dieser Roman hatte einigen Einfluss auf Kafka, sodass man eigentlich sagen müsste, dass die Mechanismen der Bürokratie, die er beschreibt, der Art Kubins folgen), Eingaben werden verschlampt, Anliegen verschleppt, Akten mit Federn ohne Tinte beschrieben.
All das stört die Bewohner nicht, sie folgen ihren Spleens und lassen es sich so gut gehen. Beispielsweise besucht der Protagonist regelmäßig einen Friseurladen, dessen Inhaber ständig philosophische Vorträge hält und stattdessen einen Affen namens Giovanni Battista das Geschäft führen lässt, was dieser mit Leidenschaft und Perfektion zu tun versteht.
Realität und Traum verschwimmen im Traumreich, allderdings wirkt das alles in der ersten Hälfte des Romans zwar skuril aber dennoch liebenswürdig ja anregend.
Erst mit dem Tod seiner Frau beginnen sich die Dinge für den Zeichner in einem anderen Licht zu zeigen. Je weiter die Krankheit seiner Frau fortschreitet, desto unheimlicher wird ihm auch sein Umfeld. Er sucht nach Antworten, nach Gründen für die vielen seltsamen Begebenheiten und stößt doch nur auf noch mehr Fragen. Seiner zunehmdenen Renitenz begegnen die anderen Einwohner mit Skepsis und Zurückhaltung. Sie haben akzeptiert, dass Auflehnung keinen Sinn und erst Recht keine Chance hat. Der Herrscher des Reiches ist kaum zu Gesicht zu bekommen aber doch immer gegenwärtig, selbst in den Augen der Einwohner. Nach unbekanntem Gesetz herrscht er über sein Reich, Absichten und Ziele dieser Herrschaft bleiben so unsichtbar wie er selbst. Die Bewohner sind ihm ausgeliefert, haben nur die Chance der Anpassung, des Arrangements mit den bestehenden Verhältnissen.
Doch irgendetwas ist ab nun anders. Die Dinge scheinen aus dem Ruder zu laufen. Erst vergammelt und verwest alles Material, dann bricht eine schreckliche Plage über die Bewohner von Perle. Während die Einwohner einer zunehmenden Agonie ausgeliefert sind, vermehren sich alle übrigen Lebewesen scheinbar explosionsartig, zu Beginn die Insekten, später auch alle übrigen Tiere. Wölfe, Bären und Tiger ziehen durch die Straßen und reißen die verängstigten Bewohner. Irgendwann ergreift die Einwohner eine Art von kollektiver Psychose, die sich in unglaublichen Szenen abspielt. Wüste Orgien wandeln sich zu Gewaltexzessen.
Das Traumreich geht zugrunde. Immer schrecklicher werden die Visionen des Untergangs, die der Protagonist schildert, immer grausamer und abartiger die Taten der verstörten Bewohner. Einem amerikanischen Fabrikant für Büchsenfleisch, Herkules Bell, ist es unterdessen gelungen , sich den Zutritt zum Traumreich zu erschwindeln. Nun beginnt er mit Agitationen gegen Patera mit dem Ziel, eine Revolution hervorzurufen, an deren Ende er sich selbst zum Herrscher über das Traumreich aufzuschwingen gedenkt.
In einer letzten Vision schildert der Zeichner den Kampf zwischen Patera und Bell als grandioses Zerrbild in den mythischen Bildern einer apokalyptischen Kosmologie.
Am Ende steht der Satz: „Der Demiurg ist ein Zwitter.“
Das Traumreich beginnt zu sterben als die kalte, rationale Vernunft die Grenze des Reichs übertreten kann. Bell steht für diese, Patera als Herrscher des Traumreichs für jene. Das Universum zerfällt in Gegensätze, die sich gegenseitig bekämpfen. Leben und Tod, Traum und Realität, Amerika und Asien etc. In Pateras Reich zerfließen diese Grenzen, für einen Neuling eine faszinierende Erfahrung, aus der heraus eine ungeheure schöpferische Kraft fließt. Das Unbewusste als Quelle der menschlichen Kreativität. Ein starker Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke an Freuds „Traumdeutung“, das 1900 erschien. Kubins Roman erschien 1909 zum ersten Mal und ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu lesen, Gesetzmäßikeiten des Unbewussten mit den Mitteln der Kunst nachzuspüren, zu simulieren, ja erst zu bestimmen. Was für den Neuling faszinierend war, wird für denjenigen, der zu lange im Reich des Traumes zu Gast war, zu einer alles überwältigenden Horrorvision, die den Träumer selbst zu vernichten droht. So ist das Reich des Traums nicht nur eine Spielwiese unserer eigenen kreativen Anlagen, sondern gleichzeitig auch ein uns selbst bedrohendes Monster, das wir nicht besiegen können, dem wir uns aber immer wieder zu stellen haben, vom dem wir uns aber nie überwältigen lassen dürfen.
Endet Kubins Roman mit der Erkenntnis der Gegensätzlichkeit aller Dinge und dem nie endenden Kampf derselben gegeneinander, so heißt das aber auch, dass im Menschen dieser Kampf ebenso tobt und es unsere Aufgabe ist, Herrscher unseres Traumreichs zu bleiben, es gegen die Realität draußen wie gegen die Monster drinnen zu behaupten. Damit ist das totalitäre Regime Pateras nur unter einem sozio-kulturellen Blickwinkel als negativ und bedrohlich zu betrachten und ich denke, dass ein solcher Blickwinkel dem Werk nur sehr wenig gerecht wird. Kubin war Künstler und ihn bewegten die Ausdrucksweisen und Möglichkeiten, die ihm die Bilder aus dem Unbewußten des Menschen für seine Kunst boten mehr als die Frage nach den bestehenden politischen Verhältnissen und der Kritik an denselben.

Gustave Flaubert – Die Erziehung des Herzens

Frédéric Moreau ist ein junger Mann, der zu einigen Hoffnungen Anlass gibt. Gut ausgebildet und mit ein wenig Vitamin B ausgestattet darf es durchaus als wahrscheinlich gelten, dass er im Frankreich der 1840er Jahre seinen Weg machen wird. Der Leser begegnet ihm in genau dieser Situation. Allerdings lernt er auf der Heimreise in die Provinz die Ehefrau eines durchtriebenen Geschäftsmannes kennen und verliebt sich in sie. Diese Frau, Madame Arnoux, ist es, um die seine Gedanken in der Zukunft kreisen und dieser unerfüllbaren Liebe ist zu einem Gutteil sein Versagen anzulasten.
Moreau ist ein Mann großer Pläne, darin vielleicht allen jungen Menschen ähnlich, die die Kraft, den Willen und die Fähigkeit in sich spüren, den Dingen ihren Stempel aufzudrücken. Die Zeit, in der sich Moreau und seine Altergenossen bewegen, scheint den Wünschen und Hoffnungen der jungen Menschen entgegen zu kommen, denn es ist eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der sich immer mehr beschleunigend in Jahre 1848 seinen Höhepunkt findet. Vieles, ja alles scheint möglich. Und so sind die Pläne des Protagonisten und seiner Freunde und Bekannten ebenso ehrgeizig und groß wie bunt. Der eine setzt auf Politik, der andere auf eine Karriere in der Wirtschaft, Pellerin auf die Kunst, Moreau mal auf das eine mal auf das andere. Das genau ist Moreaus großes Problem. Er ist schnell dabei einen Plan aufzustellen, aber leider besitzt er nicht die nötig Geduld, Hartnäckigkeit und Konzentration, um auch nur einen davon in die Tat umzusetzen. So beschließt er sein Leben als alternder Jungeselle in bescheidenen Verhältnissen. Sein zwischenzeitlicher Reichtum fällt zum einen einer dandyhaften Verschwendungssucht zum Opfer, der keinerlei Einkünfte durch eigene Arbeit entgegenstehen, zum anderen seinen oft gut gemeinten aber unvorsichtigen Investitionen zugunsten einiger befreundeter Damen und Herren.
Letztlich ist Moreau unfähig zu handeln, unfähig zu entscheiden und nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Er weiß selbst nie genau, was er will, er ist beeinflussbar wie vielleicht jeder jungen Mensch bis zu einem gewissen Grad.
Seine Pläne werden stets durchkreuzt. Drei unterschiedliche Instanzen hemmen Moreau in dieser Hinsicht: die unberechenbaren Wechselfälle des sozio-politschen Umfelds, die Menschen in seinem Umfeld und letztlich seine eigene Persönlichkeit, seine Unfähigkeit, eine Sache zu verfolgen und zu Ende bringen. Er will alles und das gleichzeitig. Er liebt Mdme Arnoux, kann aber von der „Prostituierten“ Rosanette nicht lassen und steigt gleichzeitig, Reichtum und Einfluss im Sinn, der edlen Madame Dambreuse nach und möchte auch noch die naive, aber in ihren Gefühlen stets ehrliche Louise Rogent, das typische Mädchen vom Lande, heiraten, mehr um sie nicht zu enttäuschen als aus Liebe zu ihr. Eine reist ihn immer von der anderen weg, oft gerade dann, wenn er sich kurz vor seinem Ziel glaubt.
So jagt er seinen Plänen und Leidenschaften hinterher, oft auch denen seiner Bekannten und Freunde unter denen sich Personen jeglichen Standes und jeglicher politischer Couleur finden, versucht es allen recht zu machen und erreicht nur kurzfristig etwas, das er mit Erfolg verwechselt: das vorübergehende Abnehmen dieser Verpflichtungen und das kurzweilige Glück bei einer der Frauen. Er ist also, wie Jules Barbey d’Aurevilly in seinem großartigen Verriss schreibt, eine „Marionette der Geschehnisse“.
Der Titel mag in die Irre führen, denn selbst wenn es eine solche „Erziehung“ gäbe, bestünde ihr Ziel in einem recht indifferenten Hinweis auf das Motiv der Entsagung.
Und vielleicht äußert sich eben gerade darin die Meisterschaft Flauberts, den man gerne als einen Realisten bezeichnet, dass dieser Roman, im weiteren Sinne als Bildungsroman zu betrachten, und die Welt, die in diesem gestaltet wird, eben keinen als vorbildlich zu erkennenden Weg anbietet und somit von einer beinahe schockierenden Offenheit ist, vor allem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Romanproduktion in der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sinnstiftende Instanzen sind verloren, das Individuum noch nicht in der Lage diese Lücke durch das Absolutsetzen der eigenen Individualität zu füllen. In diesem Sinne wäre der Roman als protomoderner Antibildungsroman zu bezeichnen. Dass Flaubert ein grandioser Erzähler ist, dessen behutsame Liebe zum Detail frühe Krititker dazu veranlasst hat, ihn einen Materialisten zu nennen, muss nicht eigens erwähnt werden. Die Übersetzung aber, ob gut oder schlecht kann ich nicht beurteilen, und die darin zu ahnende Schönheit der Sprache Flauberts sollte einen dazu ermutigen, seine Französischkenntnisse aufzufrischen.

Theodor Mommsen – Römische Geschichte

Sicher nicht unbedingt ein Werk für jeden, gerade deshalb aber genau richtig an diesem Platz. Für jemanden, der kein Historiker ist, mögen die mehr als 3000 Seiten sicherlich abschreckend wirkend und manche Passagen sind wohl in der Tat nicht jedem bloß historisch Interessierten eine angenehme Lektüre sein, obwohl das gesamte Werk durchgehend von hoher literarischer Qualität ist. Nicht umsonst bekam Mommsen dafür im Jahre 1902 den Nobelpreis für Literatur verliehen.

Shakespeare- Was ihr wollt (Badisches Staatstheater Karlsruhe, 29.4.2008)

Ein Mädchen aus gutem Hause, Viola, überlebt mit knapper Not einen Schiffbruch und strandet an der Küste Illyriens. Sie hält ihren Bruder, der mit ihr auf dem Schiff fuhr für tot und tritt als Mann verkleidet in die Dienste des Herzogs Orsino, der seinerseits unsterblich und leider unglücklich in Olivia verliebt ist. Diese weist alle männlichen Annäherungsversuche ab, seit ihr vor Kurzem der geliebte Bruder starb. Viloa, jetzt Cesario wird im Auftrag von Orsino bei Olivia vorstellig, um sie von Orsinos Liebe zu überzeugen.
Scheint soweit alles klar, doch jetzt beginnen die Verwicklungen. Olivia verliebt sich in Cesario (Viola), Viola aber verliebt sich in ihren Herrn Orsino. Als sei das noch nicht kompliziert genug mischen auch noch Olivias Onkel, Sir Toby und dessen Kumpan Sir Andrew mit, die außer Saufen und F…. wenig im Sinn haben. Auf der unstillbaren Suche nach einem Mittel gegen die fürstliche Langeweile der eigenen Existenz fällt ihnen nichts besseres ein als zusammen mit Olivias Zofe Maria (mittelmäßig gespielt von der dafür umso bezaubernderen Anna-Magdalena Beetz) dem Hofmeister der Olivia, Malvolio, der sich durch Pedanterie und Unterwürfigkeit auszeichnet, einen Streich zu spielen. Maria fälscht einen Brief an Malvolio, in dem sie diesem ihre angebliche Liebe gesteht und ihn auffordert, in gelben Strümpfen vor ihr zu erscheinen.
Nun sieht man den Spießer sich wandeln. Aus dem kuschenden Diener wird der despotische Herr und verrückte Geliebte, der sich die Rache für all den erlittenen Unbill von Seiten Sir Tobys schon in allen Einzelheiten ausmalt.
Aber sein lächerlicher Auftritt endet für ihn im Kerker. Der offenbar Geisteskranke wird weggesperrt.
Alles geht auf auf großartige Weise durcheinander, man liebt, was man sieht, ohne das Wesen des Gegenüber zu kennen.
Als Violas Bruder auftaucht, der den Schiffbruch ebenfalls überlebt hat, kommt es schließlich zum Showdown. Die Verwicklungen lösen sich zur Vorteil aller auf. Viola bekommt Orsino, der von seiner unglücklichen Liebe zu Olivia genesen ist, Olivia bekommt den Bruder Violas/Cesarios, Sir Toby und Sir Andrew werden von Violas Bruder Sebastian übel verdroschen, somit wäre auch der schlimme Streich an Malvolio gesühnt.
Eine Doppelhochzeit besiegelt das Glück.
Die Aufführung besticht durch eine mutige moderne Inszenierung, die aber nicht mehr wirklich beidruckend findet, wer hin und wieder im Staatstheater ein Stück ansieht. Die Bühne wird dominiert von einem Kunstrasen in einem schreienden Grün, das sich sogar die Wände hinaufzieht, von denen herab Viola zu Beginn sich abseilen die ersten Verse des Textes spricht. Alle Schauspieler befinden sich permanent auf der Bühne, die mit zahlreichem Gartengerät und einem angedeuteten Zaun ausgestattet, den Eindruck gartenmäßiger Künstlichkeit erweckt. Irritierend aber wohl in dieselbe Richtung zielend darf man wohl den Hintergrund verstehen, auf der der Mond bzw. diverse Planeten abgebildet sind.
Alles atmet die Amosphäre des Künstlichen. Illyrien ist nicht das ferne, unbekannte Land, sondern ein ganz und gar künstlicher Ort, an dem die Illusion vorherrscht und keineswegs eine naturnahe Ausgeglichenheit des Gemüts anzutreffen ist.
Nichts ist, was es zu sein scheint ist, und doch hängen alle so am sehr an diesem Schein, das man sich wundert, dass die Sache überhaupt ein Lösung finden kann. Diese Lösung ist daher auch letztlich zufällig. Kein Geschick, kein Gott und schon gar nicht der Narr, der mit seinen Liedern auf allen Seiten präsent ist, bringt dir Lösung. Verwicklung und Lösung sind letztlich dem blinden Zufall des menschlichen Handels und der Hegemonie des Zufalls zu danken. Ja nicht einmal die allgegenwärtige Liebe hat die Macht, die Verhältnisse zu ordnen. Vielmehr sind die Sehnsüchte der Figuren so sehr an die Äußerlichkeiten des Gegenüber wie an das eigene Empfinden geknüpft, dass man erleichtert ist, dass die ganze Verwicklung nicht in einer Katastrophe endet. Das Stück spielt auf der schmalen Grenze zwischen unverbindlicher Unterhaltung und tragischer Erschütterung. Wie schmal der Grad zwischen Komödie und Tragödie ist, zeigt das Schicksal Malvolios, dem von Toby und Andrew wirklich übel mitgespielt wird. Selbst als jener im Kerker liegt, setzen sie ihren boshaften Scherz fort und quälen ihn weiter. Zwar wird er am Ende aus seinem finsteren Loch entlassen und der üble Scherz kommt ans Licht, aber das war es auch schon. Hier zeigt sich nicht nur der tragische Zug des Stücks, sondern auch, wenn man so weit gehen will, ein Ansatz zur Kritik am abgehobenen, irrelevanten, rücksichtslosen Gebaren einer feudalen Minderheit, die sich nicht um die Konsequenzen seiner Handlungen schert.
Der Text scheint mir gekürzt, aber auf jeden Fall mal mehr mal weniger schonend modernisiert. Hin und wieder werden zeitgenössische Pointen eingeflochten (Mindestlohn für Briefträger).
Besonders Lob gebührt der Darstellerin der Viola (Cesario) (Annika Martens). Nur durch ihren Sprachduktus allein gelingt es ihr, die feine Unterscheidung zwischen den eigenen Gefühlen der Viola und ihrer Rolle als Cesario zu unterstreichen.
Von den zahlreichen eingeflochtenen Gags, die in bester Slapstickmanier, aber dennoch nicht überdreht, eingestreut werden sowie von den kleineren Highlights (Joints aus Kunstrasen etc.) schweige ich an dieser Stelle schmunzelnd.

Samuel Beckett – Murphy

Ich kenne Beckett nicht so gut, um zu erkennen, warum er diesen Roman aus den Dreißiger Jahren später nicht mehr gemocht hat. Dieses kleine Buch hat auch wenig Anklang gefunden, als es zum ersten Mal erschien. Kein Wunder, wenn man die grotesken Figuren und die absurden Dialoge betrachten. Allerdings ist es gerade das, was den Roman so reizvoll macht. Der Protagonist, Murphy, verbringt seine Zeit am liebsten nackt in seinem Schaukelstuhl, wo er in schaukelnder Meditation Erlösung vom Dasein sucht. Murphy leidet an der ihm unüberwindbar scheinenden Kluft zwischen eigener Innerlichkeit und den Anforderungen der Welt, die in Murphys Augen allesamt weitgehend zweitrangig, ja letztliche irrelevant sind. Murphy liebt Celia, die seinetwegen ihre Karriere als Prostituierte vorübergehend aufgegeben hat. Allerdings gestaltet sich das Überleben zu zweit schwierig, da nun keiner von beiden einer Arbeit nachgeht. Der Egoist Murphy findet erst nach langem Lavieren eine Arbeit, die ihm nicht sinnlos erscheint. Diese allerdings nimmt ihn so gefangen, dass er darüber seine Liebe zu Celia vergisst und sie wegen des Jobs verlässt, den er sich ja nur auf ihr Drängen hin gesucht hat.
Der Egoismus aller handelnden Personen ist ein hervorstechendes Merkmal dieses Romans: Ms. Counihan will Murphy wiedersehen, Neary will Murphy wiedersehen, da er Miss Counihan überzeugen möchte, Murphy aufzugeben und sich für ihn zu entscheiden. Wiley will Murphy aus den selben Gründen aus dem Weg räumen.
Murphy überwindet sein egoistisch pathologisches Phlegma nur scheinbar und findet Arbeit in einer Einrichtung für psychische Kranke.
Nur Celia scheint nicht vom Egoismus besessen zu sein. Sie gibt für Murphy ihren Beruf auf, was ihr nicht schwerfallen dürfte. Gelegentlich kümmert sie sich um den alten Kelly, hilft ihm beim Drachensteigenlassen. Dort aber bandelt sie schließlich mit neuen Kunden an, woraus man schließen darf, dass dies einer alten Gewohnheit entspricht und Kelly womöglich eher eine Art Zuhälter ist als ein alter Freund oder Verwandter.
Die Figuren leben mit ihren Spleens und Neurosen in einer scheinbar normalen Welt, die aber alles andere als das ist. Der Egoismus der Menschen und das Streben nach Erfüllung ihrer Gelüste machen aus dem zivilisierten London einen grotesken Ort des Absurden, ja Verrückten im pathologischen Sinne. Die Welt ist einfach wie sie ist, ohne übergeordneten Plan, ohne Ziel, ohne Sinn außer dem, den jeder selbst und auf eigene Faust in ihr sucht. Nur so finden sich Personen auf Zeit zusammen, in der irrigen, ja verrückten Idee, das Gleiche zu wollen, es gemeinsam zu wollen und gemeinsam verwirklichen zu können.
Die Gegegebenheiten der Welt führen dazu, dass die Figuren von ihrem ursprünglichen Plan abweichen müssen, aber nur um sich in einer anderen Spur sofort wieder an ihren ureigenen Spleen zu klammern. So ändert sich die Welt, die Menschen bleiben dieselben.
Die Sonne ist Symbol und stummer Zeuge dieses unerbittlichen Gangs des Kosmos, wie uns der erste Satz, einer der größten Anfangsätze der Literaturgeschichte, auf groteske Weise deutlich macht:
„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
Murphy findet in der Irrenanstalt endlich einen Menschen, von dem er sich verstanden glaubt. Allerdings ist jener Insasse, Mr. Endon, entweder aufgrund seiner psychischen Disposition nicht in der Lage, Murphys Gefühle und Wünsche zu erwidern oder er möchte lieber, wie Murphy ja ursprünglich auch, in seiner Einsamkeit verharren, was für Murphy jedenfalls ein und dasselbe ist. Über dieser Enttäuschung verliert Murphy endgültig seinen Lebenswillen und begeht Selbstmord.
Seine Asche soll zurück in die irische Heimat gebracht werden. Allerdings gerät der Bote mit der Asche in eine Schlägerei, in deren Verlauf sich Murphys Asche über den mit allerlei Unrat bedeckten Boden einer Kneipe verteilt und am darauf folgenden Tag mit samt dem restlichen Dreck im Müll landet.
Wenn mir nun jemand das Buch geschenkt hätte, was hätte diese Person mir damit sagen wollen?
Vielleicht, dass die Welt dort draußen eine verrückte ist, die weder gut noch schlecht, sondern einfach nur grotesk und verrückt ist, so dass man sich in einen radikalen Individualismus flüchten sollte?
Allerdings ist es genau dieser übersteigerte Egoismus, der die Welt zu der macht, als welche sie uns in diesem Roman erscheint! Warnt uns dieser Roman also im Gegenteil vor dem typisch modernen Individualismus, der hier als pathologisches Moment der modernen Gesellschaft in den grellen Signalfarben des Absurden gemalt wird?
Möglicherweise soll es aber auch ein raffiniert versteckter Hinweis zu sein, sein persönliches Verhältnis von Innerlichkeit und Welt zu überdenken.
Ich finde heute keine Lösung, es käme natürlich auch auf den Schenkenden an.
Letztendlich kann auch einfach die herrlich absurde Geschichte, die neben der kräftigen Komik auch eine guten Schuss Melancholie enthält, der Grund sein, diesen kleinen Roman zu verschenken, in dem der spätere Meister des Absurden bereits in allen wesentlichen Zügen zu erkennen ist.

Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes

Normalerweise vertraue ich fast ausschließlich dir Lynkeus, wenn es um die Empfehlung von Literatur geht Ich habe eine Ausnahme gemacht – und wurde nicht enttäuscht.

Barcelona, vierziger Jahre. Daniel ist ein Heranwachsender, seine Mutter starb, sein Vater ist Buchhändler. Als dieser die Zeit für richtig hält, führt er seinen zehnjährigen Sohn zum Friedhof der vergessenen Bücher. Schier endlose, verzweigte, verwinkelte Gänge und Gassen, bis an die steinernen Decken gefüllt mit abertausenden Büchern. Ein Geheimnis. Jeder, der es entdecken darf, übernimmt die Patenschaft für eines von ihnen und muss dafür sorgen, dass es niemals in Vergessenheit gerät. Daniel entscheidet sich für „Der Schatten des Windes“ eines gewissen Julian Caráx und liest es in einer Nacht. Die inhaltliche Geschichte des Buches wird nie wirklich behandelt, vielmehr treten ab jetzt die Hintergründe der Entstehung und vor allem die Geschichte rund um Julian Caráx in den Vordergrund. Mit dem Zeitpunkt, an dem Daniel das Buch zum ersten mal beiseite legt, beginnt die Verschmelzung zwischen ihm, Caráx und dem Schatten des Windes.
Er begibt sich, getrieben von kindlicher Entdeckungslust, auf die Suche nach Hintergründen und Antworten, die er hofft, vom Autor des für ihn so prägenden Werkes zu finden. Immer verwirrender – sowohl für den Leser, als auch für den Protagonisten – werden die Entwicklungen und Zusammenhänge, die ihn auf der Reise begleiten. Jedesmal wenn er denkt, er käme dem Geheimnis rund um die Existenz Caráx´ einen Schritt näher, tun sich vor ihm weitere Verzweigungen, Abgründe und Verwirrungen auf, die ihn jedoch nicht davon abhalten, weiterzuforschen.

Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“

Bildungsbürgerlicher Scheißdreck oder literarische Sensation, wunderbare Satire auf die deutsche Klassik oder blasierte Schreibereien eines ehemaligen Philosophiestudenten mit mathematischen-naturwissenschaftlichen Ambitionen? Die Geister spalten sich anscheinend, wenn es um dieses Buch von Jungautor Daniel Kehlmann geht. So jedenfalls meine Erfahrung, wenn man mit Leuten darüber ins Gespräch kommt. Ich fand es jedenfalls echt nicht schlecht, ziemlich subtil und vor allem wichtig: Gut gelacht habe ich auch an einigen Stellen. Bei der „Vermessung der Welt“ handelt es sich um eine Doppelbiographie. Im Wechsel der Kapitel erzählt Kehlmann, meist sehr raffiniert in indirekter Rede seiner Figuren, die sehr skurrilen Lebenswege und Abenteuer zweier genialer deutscher Wissenschaftler: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Beide begeben sich von unterschiedlichen Richtungen her kommend auf die Vermessung der Welt. Der eine von Seiten der Mathematik herkommend, der andere von Seiten der Naturwissenschaften. Der Leser erfährt einiges über den Lebenswandel der beiden: Während Humboldt durch den Dschungel robbt, fast an Selbstversuchen mit giftigen Pflanzen krepiert, unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte und auch fast seine Lebens Sechstausender in Lateinamerika und lavaspeiende Vulkane ersteigt, nur um dort Messungen vorzunehmen, denkt Gauss schon als 16jähriger die herkömmliche Geometrie an seine Grenzen, errechnet später sagenhafte Formeln und beweist nebenbei die Krümmung des Raumes. Beiden Helden kommen die genialsten Ideen und Erfindungen, sehr zur Erheiterung des Lesers, meist in den banalsten Situationen. Gauss unterbricht zum Beispiel den Beischlaf mit seiner Braut während seiner Hochzeitsnacht, um ein paar wichtige Formeln zu notieren. Die Braut und manch anderer, dem Gauss auf diesen 300 Seiten begegnet, fühlt sich im Umgang mit dem Mathematiker manches Mal wie von einem Pferd getreten. Beide Figuren sind in ihrem Streben, die Welt zu erkennen und rational zu druchdringen absolut kompromisslos und dadurch gleichzeitig weltfremd. Humboldt ist in auf seinen Expeditionen ein geistiger Verwandter von Aguirre, ein Fitzcarraldo, ein Mr Kurtz. Gauss ist der Inbegriff des irren Professors. Beide dringen durch ihre Forschung aus der Finsternis der Aufklärung hinaus, erahnen nebenbei das Ende des absolutistischen Zeitalters und treten in die lichte, entzauberte Welt der naturwissenschaftlichen Rationalität. Und das alles mit beschwingender Leichtigkeit. Kehlmann kann reduzieren, das ist wohl das vielleicht geniale Verdienst hier in diesem Buch. Er hat es geschafft, diese beiden vitae auf einige essentielle Zeitspannen herunterzukürzen, so dass in ihnen sehr schön und klar Mentalität, Zeitgeist an der Schwelle einer neuen Epoche sichtbar werden. Die mathematischen Ausführungen zu dem Gaussschen Treiben jedoch, seien sie noch so mühevoll simplifiziert und reduziert, habe ich aber natürlich wieder nicht verstanden. Ich sag nur: Mathe 1 Punkt.

Europa III

Erst nach einer Weile begannen die Männer zu begreifen, was da eben vor sich gegangen war. Der Marokkaner war weg. Abgehauen mit seinen Freunden in der kleinen weißen Yacht, die so elegant durch die Wellen schnitt. Am Bug lag seine blutige Taschenlampe, ein mit Schweiß, Speichel und Blut verdrecktes Zepter seiner Herrschaft. Ein schwarzer Beweis für seinen Verrat, kullerte die Taschenlampe im Bug hin und her.
Keinem der Männer war jetzt noch übel. Jeder der Männer fluchte in seiner eigenen Sprache und einer verstand den anderen in seiner Wut. Keiner der Männer wusste, was zu tun war. Kein Segel, kein Motor, kein Paddel an Bord.
Panik brach aus. Sie schrien und schlugen sich gegenseitig auf der Suche nach einem Ausweg. Als der erste über Bord ging, war es für einen Moment still. Dann riefen sie ihm nach, streckten ihre Hände nach ihm aus, fanden ihn nicht mehr, setzen sich wieder. Heftige Blitze schickten für Augenblicke weißes Licht über das schwarze Meer. Dann konnte man für einen Moment das Festland sehen. Da vorne lag es. Einer sah es, stand auf, zeigte hinaus aufs tosende Meer und rief. Europa! Die nächste Welle nahm ihn mit. Mit den bloßen Händen versuchten sie in Richtung Land zu paddeln. Man kann es schon sehen. Dort hinten. Nur noch ein kurzes Stück. Vielleicht eine Stunde, vielleicht weniger. Ihre in der Angst keimende Hoffnung trieb sie an, gemeinsam, ein letztes Mal. Sie kamen dem Land nicht näher. Im Gegenteil, es schien, als entfernten sie sich sogar davon. Der Sturm zog sie raus auf das offene Meer. Einer, der ganz vorne saß, stand auf. Er sprang einfach über Bord. Vorher rief er den anderen lachend etwas zu, das keiner verstand. Ihm folgten weitere. Manch einen sah man noch eine Weile lang, von den Wellen emporgehoben. Nur wenige konnten schwimmen. Die blieben sitzen. Endlich warf der Sturm das Boot um. Es kenterte und trieb kieloben im schwarzen Wasser. Zwölf Mann begrub es unter sich und gab sie nicht mehr frei. Was übrig war schrie. Sie klammerten sich aneinander. Zogen sich an dem anderen nach oben. So zog einer den anderen hinunter. Sie schluckten Wasser, schlugen wild um sich und versanken schließlich. Noch eine ganze Weile sah man den einen oder anderen, der schwimmen konnte, in Richtung Land schwimmen. Aber das Meer zog sie davon. Keiner von ihnen kam nach Europa.
Von den 40 Mann überlebte einer. Am nächsten Morgen trieb er in der friedlichen See, an eine schwarze Planke geklammert. Ein Frachtschiff aus Hamburg zog ihn an Bord. Beladen mit gebrauchten Autos lief es nach Dakar. Dort setzen sie den Mann an Land. Stumm ging er von Bord.

Europa II

Schwer war der große, dunkle Kahn und schwierig zu kontrollieren in der zunehmenden Dünung. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle ihren Platz im Boot gefunden hatten. So geräumig es auch auf den ersten Blick ausgesehen haben mochte, nur mir großer Mühe fanden alle darin Platz. Vorne im Kahn gab der Marokkaner der weißen Yacht Lichtzeichen. Sie setzte sich in Bewegung, zog das schwarze Boot vom Strand hinaus in die offene See. Eng aneinander gedrängt hockten die Männer in ihrem schwarzen Boot.
Mit harter Stimme befahl der Marokkaner den Männern still sitzen zu bleiben. Wer nicht auf ihn hörte oder in Folge der beengten Platzverhältnisse einen Krampf bekam, den schlug der Marokkaner mit einer schweren, schwarzen Taschenlampe. Wo die Schläge seiner Lampe nicht hinreichten, schlugen die Nachbarn auf den Missetäter ein. Jede Bewegung übertrug sich auf die anderen, die ihrerseits auswichen und dabei wieder andere anstießen. So gingen fluchende Wellen aus Zorn durchs Boot, die der Marrokaner am Bug mit seiner schweren, schwarzen Taschenlampe brach. Die um ihn herumsaßen, bekamen alle Schläge ab. Sie bluteten am Kopf, aus der Nase. Unfähig sich bei der Enge die Arme schützend vor’s Gesicht zu heben, versuchten sie ihren Kopf weg zu drehen. In ihrer Wut stießen sie den Nachbarn, der doch genauso litt und genauso hilflos war.
Der Seegang nahm zu. Vielen wurde übel. Alle hatten Angst. Aber ihre Hoffnung war stärker. Sie schlug der Angst unerbittlich ins Gesicht, wie es der Marokkaner mit den anderen tat, bis sie kuschte und für eine Weile Ruhe gab.
Wie viele Widrigkeiten hatten sie nicht durchgemacht, um an den in ihrem Rücken versinkenden Strand, in dieses Boot, zu kommen. Hunger, Hitze, Durst, Demütigung und Gewalt. Alles das hatten sie ertragen und sie würden wohl auch das bisschen Übelkeit und die Enge überstehen. Zwei, drei Stunden, hatte der Marokkaner gesagt, würde die Überfahrt dauern, nur zwei Stunden noch! Für einen kurzen Moment schien der Mond durch die aufreißenden aufreißenden. Schwere, schwarze Wolken zogen auf, die See wurde unruhig. Der Kahn stampfte, krängte, rollte zunehmend.
Keiner der Männer war je auf dem Meer gewesen. Sie wimmerten, weinten, beteten, kotzen vor Übelkeit auf den Rücken des Vordermanns. Durch den aufziehenden Sturm zog die weiße, schnittige Yacht den behäbigen, überladenen Kahn, eine Stunde vom Land entfernt. Da machte die weiße Yacht kehrt, lief direkt auf den Kahn zu. Als sie nahe genug war, sprang der Marokkaner ins Wasser, erreichte mit ein paar Zügen im schäumenden Meer die kleine weiße Yacht. Noch während er an Bord kletterte, kappte man die Leine. Die kleine weiße Yacht nahm Fahrt auf und schnitt elegant durch die hohen Wellen. In einem weiten Bogen nahm sie Kurs auf zurück und verschwand nach ein paar Minuten im stürmischen Grau des Ozeans.

Europa I

Da dieser Text die hochverehrten Juroren eines bedeutenden Literaturwettbewerbs offenbar doch nicht überzeugen konnte, lege ich ihn, der besseren Lesbarkeit halber in drei Teilen, den geneigten Lesern dieses Blogs vor, damit er nicht in der Schublade verstaubt und vergessen wird.

Europa

Fragmente aus dem Hinterhof: I – An Beckmann

Hallo Beckmann. Es gibt dich also noch! Ich habe dich gesehen gestern Abend. Kurz vor sieben standest du schon vor der Tür, draußen im kalten Wind. Hast du also Hamburg verlassen. Dort gab es ohnehin nichts mehr, was dich dort hätte halten können. Als ich die Tür öffnete, kamst du mit kleinen hinkenden Schritten die Treppe hinauf. Ich stand oben und sah dich langsam nach oben steigen. Einen alten, grauen, hinkenden Mann. Das Treppensteigen scheint dir schwer zu fallen. Qäult dich die alte Verletzung noch immer? Hat sie je aufgehört zu schmerzen? Du wirktest so verloren dort auf der Treppe. Ein kleiner Mann und solch eine breite Treppe. Ich trat einen Schritt zur Seite, damit du dich bis zum Treppenabsatz am Geländer stützen konntest. Oben, neben mir, hobst du schwach die Hand, ohne mich anzusehen. Drehtest dich um und stiegst die Stufen ins nächste Stockwerk hoch. Ich kannte dich nicht. Deinen Namen nanntest du nicht. Ich konnte ihn nicht ins Protokoll eintragen. Normalerweise hätte ich dich danach fragen müssen. Andere, die hierher kommen, sehen mich an und erkennen einen Neuen, Fremden. Dann nennen sie ihren Namen und ihr Geburtsdatum von selbst. Du aber hobst nicht einmal den Blick. Als kämst du schon seit Jahren, so als wäre das dein Haus, stiegst du die Stufen empor, hinauf zu deinem Zimmer mit dem Etagenbett, in der alten Küche, die blinde Armaturen aus den grauen Fließen streckt, neben den stinkenden Toiletten. Das Zimmer gehört dir allein, nicht wahr Beckmann? Keiner stört dich dort. Und wenn das Haus an einem besonders frostigen Abend mehr als gefüllt ist, kommt keiner zu dir ins Zimmer, um sich in das freie Bett zu legen. Sie liegen lieber auf dem schmutzigen Fußboden in einem der überfüllten, stickenden Zimmer als dich in deinem kalten Zimmer zu stören. Schämen sie sich? Ich habe dich nie mit ihnen sprechen sehen, Beckmann. Ich habe dich nie sprechen hören. Meiden sie dich Beckmann, weil sie deine Geschichte kennen? Aber wer gibt hier schon was auf Geschichte. Jeder schleppt seine eigene mit sich herum und alle hatten kein Happy-End. Meiden sie dich, weil du der letzte bist? Der allerletzte von denen, die nach Hause kamen und nichts mehr wiederfanden, nicht mal eine Chance? Meiden sie dich deshalb, Beckmann, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie dich sehen? Weil sie mindestens eine Chance hatten und nichts daraus machen konnten? Weil sie um eine Chance reicher waren, als du? Fürchten sie sich vor sich selbst, wenn sie dich sehen? Sehen sie ihre Fehler, ihre Verbrechen, ihre vertane Chance, die sie in der Hitze haben verdorren, im Regen haben ersaufen lassen? Die sie im Zorn ausgerissen, vor Wut zu Boden geschmettert haben? Ist es so, Beckmann? Sprichst du nicht mit ihnen, weil du sie wegen ihrer vertanen Chance verachtest? Oder sprichst du nicht mehr, weil du ohnehin keine Antworten mehr bekommst? Und, mittlerweile, nach so vielen Jahren auch keine mehr brauchst, weil du sie alle gehört hast, sie dir selbst so oft vorgesagt hast, während all der langen Spaziergänge, beim Taubenfüttern, während der ewig langen Stunden auf den immerselben Parkbänken in den immergrünen Parks und den Fußgängerzonen der Städte, die sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher wurden? Keiner da, der mit dir spricht. Sogar der andere ist verstummt. Wozu noch reden. Ich sehe dich auf dem Amt in einem Zimmer sitzen, versunken in den viel zu großen Mantel, eingeschüchtert von der fetten Wärme der Heizung, gelangweilt von den Zimmerpflanzen, den gutgemeinten Sermon der drallen Dame in den bunten Kleidern stumm über dich ergehen lassend. Du hast schon schlimmeres erlebt. Nach einer halben Stunden lässt sie dich gehen. Schau doch die Dame wenigsten einmal an, Beckmann. Vielleicht würde dich das zum … Aber nein, ich glaube, du lachst nicht mehr, Beckmann, wozu auch.
Morgens gegen sieben gehe ich durchs Haus und wecke die Männer. Viele sind schon wach. Du bist schon gegangen. Lange vor den anderen. Kannst du noch immer keinen Schlaf finden Beckmann? Nach so vielen Jahren schreckt dich dein Traum noch immer auf? Gehst aus dem Haus, um den Einbeinigen nicht zu begegnen. Jagen dich die elf, angeführt vom zwölften? Heute morgen aber stand ich früher auf, nein, ich schlief nicht einmal. Dein sauberes kaltes Zimmer liegt über meinem. Im Dunklen lag ich auf dem Klappbett und horchte nach oben. Als ich dich gehen hörte, stand ich auf, trat vor mein Zimmer, sah auf die Uhr. Es war gegen Fünf. Wartete vor meinem Zimmer auf dich, Beckmann. Langsam stiegst du die Treppen herunter und kamst ein paar Meter direkt auf mich zu gelaufen, Beckmann. Ich wollte dich nicht ansprechen, nur sehen, wann du gehst. Vielleicht warst du überrascht, als du mich bemerktest. Wo ich stand, sollte keiner stehen um diese Zeit. Für einen Moment konnte ich in deine Augen sehen, Beckmann. In ihnen sah ich ganz weit hinten Freude, Stolz und Glück glimmen. Glücklich, stolz und froh hättest du in einem anderen Leben deinen Sohn und später deine Enkeln ansehen können. Leicht hob sich deine Hand, dann stiegst du hinab zur Tür, hinaus in den dunklen Morgen. War es ein Gruß, Beckmann?
Lange habe ich mich gefragt,Beckmannn, warum du immer so früh das Haus verlässt? Vielleicht brauchst du den dunklen Morgen, damit dir die Laternen eine Richtung zeigen.

Jon Krakauer – In die Wildnis / Eddie Vedder – Into The Wild

Manchmal offenbart das Leben Zufälle, die beim zweiten Hinsehen gar kein Zufall sein können, Schicksal vielleicht, aber kein Zufall. Oder gibt es da vielleicht gar keinen Unterschied? Egal, sollen sich doch andere über das Warum Gedanken machen. Ich habe vor einigen Tagen zufällig entdeckt, dass Eddie Vedder, der Sänger von Pearl Jam, sein Soloalbum „Into The Wild“ veröffentlicht hat – gesehen und gekauft. Der Soundtrack zum gleichnamigen Film, was ich spontan vernachlässige und mir auch ziemlich egal ist. Nach dem ersten Hören gefallen mir ausnahmslos alle Titel – leider nur elf an der Zahl, bei einer Spielzeit von knapp mehr als 30 Minuten – ausgesprochen gut. Diesmal nicht nur gefühlt, sondern tatsächlich viel zu kurz. Nachdem ich das letzte Buch von Jon Krakauer „In eisige Höhen“ beiseite legte, wollte ich direkt mehr. Beim Stöbern im Buchladen finde ich sein Buch „In die Wildnis“ und blättere darin. Sofort fesselt mich die Geschichte um Chris McCandless. Im Moment als ich zur Kasse gehen will, sehe ich einen Stapel Bücher vor mir, mit einem Cover, dass mir doch sehr bekannt vorkommt. Der gleiche grün-weiße Bus mit der markanten, verwitterten Nummer 142 auf der Seite. Darauf sitzend der gleiche Typ, den ich auf dem Cover der CD, die ich vor kurzem gekauft habe, für Eddie Vedder hielt. Fast schon peinlich berührt schaue ich mich um, aus Angst jemand lacht mich bei dieser Offensichtlichkeit aus. „Into The Wild“ – „In die Wildnis“ – da hätte man auch gleich drauf kommen können. Die gestapelten Bücher sind die Neuauflage der gleichen Geschichte, die nun von Sean Penn verfilmt wurde, dessen Soundtrack mich unwissentlich die letzten Tage begleitete. Die nächsten Stunden verbringe ich damit, die beiden zusammenzuführen. Ich starte die Reise.

Chris McCandless ist Anfang 20 als er beginnt das Leben zu leben, das schon immer in ihm schwelt und mit aller Macht die Zügel in die Hand nehmen möchte, und nicht mehr jenes, welches von ihm erwartet wird. Aufgewachsen in überaus soliden Verhältnissen, überdurchschnittlich begabt was schulische und sonstige vermeintlich erstrebenswerte Leistungen angeht, sucht er schon früh nach Alternativen, um aus diesem für ihn beklemmenden und einschränkenden Umfeld von Zeit zu Zeit auszubrechen. Zwar spielt er seine Rolle, kommt aber immer weniger umhin, sein wahres Ich zu verbergen. So beginnt er immer häufiger damit, jede sich ihm bietende Möglichkeit zu nutzen, um auf Reisen zu gehen. Nach seinem Universitätsabschluss kann er sein lange gehegtes Ziel endlich verwirklichen. Er bricht alle Kontakte, allen voran den zu seinen Eltern, ab, verschenkt und lässt zurück, was ihn bindet und beginnt seine Erfüllung zu leben. Auf seiner zweijährigen Reise durch den Westen der USA hinterlässt er deutliche Spuren, die Krakauer durch seine Fotos, Tagebucheinträge, die er vornehmlich in Büchern als Randnotizen verfasst und zahllosen, aber nie belanglosen Bekanntschaften, nachzeichnen kann. Der Autor schafft es wieder, wie schon in „Eisige Höhen“, eine Geschichte, deren grober Verlauf und vor allem deren Ende schon hinlängliche bekannt scheint, so zu erzählen, dass es den Leser mitreißt. Es scheint nicht wichtig zu wissen, wie es endet, wichtig ist nur, das Erzählte von Anfang an mitzuerleben. Dabei zu sein. Wie McCandless es schafft durch sein Wesen, seine Taten, seine Worte, Menschen zum Nachdenken zu bringen, ihr Leben in Frage zu stellen, Dinge zu ändern, die als selbstverständlich angesehen werden, einfach nur, weil sie schon immer so waren. Das ist das faszinierende an der partiellen Biografie in diesem Buch. Man muss ihn nicht romantisieren, diesen Menschen, der sich am Ende fast völlig unwissend der gnadenlosen Natur des „wilden Alaskas“ stellt, nur um den Tod zu finden. Denn die Frage stellt sich beim Lesen ständig: ist er einfach nur ein durchgeknallter Junge, der sich über- und den Rest der Welt unterschätzt, oder ein Suchender, der etwas findet, was er nicht suchte? Darum geht es aber nicht. Viel wichtiger als die Tatsache, dass McCandless wahrscheinlich in der Tat viel zu blauäugig in die Wildnis Alaskas zog ist doch, dass er seiner Bestimmung folgte. Er tat das, was er für richtig hielt, was ihn trieb, was für ihn das Leben bedeutete. Den Tod auf diese Weise zu finden, befinden viele als dumm und am Ende auch als gerechtfertigt – gar als logischen Schluss – dennoch glaube ich, dass hier nicht das Ende wichtig ist, sondern der Weg, den er beschritt. Bei der Kritik, die dabei immer wieder auftaucht, vergessen diejenigen, die ihn für sein Ende belächeln, dass sein Ziel nicht das Überleben in der Wildnis war. Sein Ziel war das Leben in seiner ursprünglichsten Freiheit, nur geschmälert durch Zwänge, die rein körperlicher Natur sind: Nahrung und Schlafen. Auf seiner Reise, die ihn durch fast alle Staaten der Westküste der USA bis nach Mexiko führen, finanziert durch Gelegenheitsjobs und Bettelei reduziert er sich auf sein Selbst. Er lebt das Leben eines Aussteigers bis aufs Äußerste, scheut keine Gefahren und schafft es dennoch, Menschen zu begeistern. Eigentlich könnte man meinen, dass ein Charakter mit dieser nicht zu verleugnenden misanthropen Haltung die Einsamkeit sucht, um den Menschen zu entfliehen. Vielmehr glaube ich allerdings, dass er zu sich selbst finden musste, um anderen Menschen zu begegnen. Durch Krakauers Recherchen wird deutlich, dass er das in seinen Anfängen auch schaffte.

Als McCandless sein Ziel – Alaska – im April 1992 erreicht, begibt er sich auf den „Stampede Trail“ im Denali-Natinoalpark. Nach einigen Tagen erreicht er einen verlassenen Autobus. Dieser diente in der Zeit der bald aufgegebenen Erschließung des Gebiets als Unterkunft für die Arbeiter. Auch er nutzt ihn als Basiscamp für seine, ab nun rund 110 Tage – der genaue Zeitpunkt seines Todes ist nicht mehr rekonstruierbar – dauernde Expedition bis zu seinem Ende. Er ernährt sich ab jetzt nur noch von dem, was die Natur ihm anbietet und nennt sich von nun an Alex Supertramp. Seine einzigen Begleiter sind die Moskitos und die Literatur von Thoreau, London, Tolstoi und Pasternak. Trotz mangelnder Erfahrung und Ausrüstung hält er sich wacker. Die genauen Umstände, die letzten Endes zu seinem Tode führen, sind bis heute nicht geklärt. Er wird krank und verhungert.

Georg Kreisler – Gibt es gar nicht

Zugegeben: Diese Biographie über Georg Kreisler ist eine Liebhaber-Geschichte. Wer die bitterbösen Lieder des Wiener Chansoniers kennt und schätzt, wird sie sich früher oder später zur Brust nehmen. Trotzdem ist es kein Fehler, ihr eine Blogg-Besprechung zu würdigen, da es sich bei dem Herrn mit der schweren schwarzen Hornbrille (s. Bild) um eine faszinierende Persönlichkeit mit einer interessanten Künstler-Vita in einer spannenden Wirkungszeit, die der 40er und 50er Jahre, handelt. – Zunächst zur Person und seinem musikalischen Oeuvre: Kreisler wird 1922 in Wien geboren. Kindheit und frühe Jugend sind unglücklich. Der Vater ist zu streng und beharrt auf einem Brotberuf für seinen Sohnemann. Dazu ist er noch Jude. Mit der Familie flieht er nach der Annektion Österreichs durch das Dritte Reich in die USA, wo er seine musikalische Laufbahn am Konzertflügel aufnimmt und in typischen Humphrey Bogart-Bars und Kaschemmen spielt. Er wird eingezogen in die US-Army und zieht aus in den Krieg. 1955 kehrt er nach zahlreichen Misserfolgen nach Wien zurück und kommt als Kabarettist in der ausgehenden 50ern und in den 60er Jahren zu Ruhm. Kreisler schreibt „schwarze“ Chasons und hat für alles Etablierte und Bornierte, Heuchlerische und Angepasste ein böses poetisches Wort, eine verbale Ohrfeige übrig. Heute lebt Kreisler fünfundachzigjährig nach drei verschlissenen Ehen, von der Welt vergessen, in der Nähe von Salzburg. Er schreibt Opern, mehr zur eigenen Erfüllung als zur Aufführung. – Die Autoren des Buches, Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert, führen den Betrachter zu den wichtigen Stationen in Kreislers Leben und das vor allem in Gestalt gut und amüsant geschriebener Anekdoten. In diesen ganzen kleinen Geschichten, die in den Zeit der großen Umwälzungen und an den faszinierendsten Settings wie Hollywood, L.A., Berlin und Wien im Nachkriegsdeutschland spielen, erscheint der kauzige Kreisler als rebellischer Anarcho-Musiker, der seine Lieder schreibt, mal mehr, mal weniger fürs Publikum. Und bevor man sich versieht erlebt der Leser die ganz große Weltgeschichte im Kleinen. Einige Stories seien mal erwähnt: Die Biographie beginnt beispielsweise mit dem Familienbetrieb in Wien, in dem das Fußpuder „Teddy“ hergestellt wird. Hier begegnet man kurz einem arbeitslosen Künstler und Graphiker mit einem lächerlichen Schnauzbärtchen, der gelegentlich Aufträge für Werbetafeln gegen Schweißfüße in den Strassenbahnen zeichnet. Nach der Annektion taucht bei der jüdischen Familie Kreisler/Hochberg die Gestapo auf und verlangt alle Skizzen des frischgebackenen Reichskanzlers und ehemaligen Werbedesigners Hitler zurück. In seiner Zeit als GI wird wird Kreisler mit Henry Kissinger zum Verhörspezialisten ausgebildet, über den Kreisler kein einziges gutes Wort verliert. Nach dem Krieg leitet Kreisler die Vernehmungen von Nazi-Exgrößen wie Streicher (Chef des Völkischen Beobachters) in Nürnberg. Dieser erinnert sich lediglich und sehr beharrlich daran ein vertrottelter Volksschullehrer zu sein (was ja so unrichtig nicht ist). Auch Göhring gehört zu seinen Schäfchen. Göhring will Kreisler zum persönlichen Mitstreiter gegen den Russen machen und kreuzt dann zum letzten Gespräch dann doch nicht mehr auf. Zurück in den Staaten tingelt Kreisler mit seinen schwarz-humorigen Shows durch die Kneipen in L.A. und macht sich bei dem amerikanischen Kleinbürgertum der 50er Jahre eher unbeliebt durch seine Lieder „My psychoanalyst is an idiot“, „Please shoot your husband“. Und wie immer in Hollywood kommt dann auch zum Film. Er schreibt Filmmusik für Charley Chaplin, spielt selbst in kleinen Nebenrollen in Filmen mit. Der große Durchbruch erfolgt dann jedoch in Wien. Das Lied „Taubenvergiften“ gehört zwar zu seinen größten und wohl bekanntesten Hits. Er selbst hasst es wie die Pest. Die Größe liegt in den unauffälligeren Liedern, in denen er oft virtuos klassische Musikstücke zitiert („Die Triangel“). In den 68ern schlägt er sich auf die Seite der Studentenbewegung und singt das Lied von der durchbrochenen „Bannmeile“ und „Wer schützt die Polizei“. Ungeachtet der Publikumswünsche wendet er sich dann Dadaistischer Wortspielereien zu („Max auf der Rax“) und macht seit den achziger Jahren konsequent sein eigenes Ding. – Wie angedeutet, zuletzt hörte man von Kreisler, dass er an einer ganzen Opernserie schreibt… und das nur für die Schublade. Kreisler gibt keine Interviews (außer für Freunde wie Fink und Seufert), verweigert jegliche Preise, die man ihm für sein Lebenswerk andrehen will. Österreich, das ihn wieder als Bürger und Ehrenbürger haben will, wirbt heute täglich um ihn. Kreisler schickt jegliche Post zurück und besteht am Telefon für alle, die ihn nun totloben wollen, darauf: „Kreisler gibt es gar nicht!“ – Kreislers Lieder sind historische Aufnahmen. Als solche muss man sie als solche hören. Und vor allem, um ein Gefühl und vielleicht eine Begeisterung entwickeln zu können, muss man die Lieder live hören. Kreisler tritt ja selber nicht mehr auf und auf CD ist die Magie und Kraft oft nicht mehr spürbar. Am 12. Dezember gibt es allerdings in der Durlacher Orgelfabrik einen Kreislerabend, an dem Konstantin Schmidt am Flügel einen Auszug aus dem Kreislerschen Werk präsentiert. Dazu ist zu raten, auch wenn Schmidt ein dummer Lackaffe ist (wie ich neulich im Gespräch bemerken durfte). – Schlussendlich: Nette Biographie (keine Weltliteratur!) zu sehr guten Chasons eines zynischen Querulanten.
P.S.:
Ebenfalls hörenswert: Kreislerplatte von der Punk-Band „Die Kassierer“
%d Bloggern gefällt das: