Alfred Kubin – Die andere Seite

An einem trüben Novembertag bekommt der Protagonist, der namenlos bleibt, Besuch von einem Fremden, der sich als Agent eines alten Jugendfreundes, Claus Patera, ausgibt. Die Überraschung des Protagonisten, der wie der Autor Zeichner ist, steigert sich im Verlauf des folgenden Gespräches zunehmend. Durch wundersame Zufälle sei sein Jugendfreund Claus Patera zu märchenhaftem Reichtum gelangt, mit dem er sich in den Steppen Asiens ein eigenes Reich, das Traumreich, erschaffen habe. Der Agent übergibt eine Einladung ins Traumreich über zu siedeln sowie 100.000 Mark, die als Reisegeld vorgesehen sind. Nach einigem Zweifel reisen der Zeichner und seine Frau mit allen verfügbaren Verkehrsmitteln quer durch die Welt , bis ihre Reise nach Wochen in den Weiten der asiatischen Steppe auf dem Rücken von Kamelen vor der gigantischen Mauer, die den Zugang ins Traumreich kontrolliert, ein Ziel findet.
Der Zugang zum Traumreich ist nur denjenigen gestattet, die vom Herrn selbst eingeladen wurden. Wie sich später zeigt, soll die Mauer, wie so viele, nicht nur die Bewohner und das Reich vor unerlaubten Eindringlingen beschützen, sondern auch den Bewohnern das Verlassen des Landes unmöglich machen.
Im Traumreich scheint keine Sonne, sind keine Sterne, ist kein Mond zu sehen. Alles ist in ein dämmriges Zwielicht getaucht. Das Ehepaar findet in der Hauptstadt „Perle“ Unterkunft und der Zeichner bald sogar eine Anstellung bei einer Zeitschrift. Die gesamte Architektur der Stadt besteht aus Gebäuden, die komplett aus Europa stammen, für viel Geld erworben, demontiert, und hier wieder aufgebaut wurden. Außerdem sind es alles alte Häuser, die schon mitunter deutliche Verfallspuren zeigen. Allerdings erweist sich dieses Ambiente als inspirierend und die Besucher leben sich rasch ein. Sie gewöhnen sich an die altmodische Art der Bewohner sich zu kleiden. Etwas schwerer dagegen fällt den beiden allerdings die Geldwirtschaft. Dinge, die in Europa teuer sind, bekommt man im Traumreich sehr billig. Dafür sind andere Artikel, zum Beispiel Streichhölzer, extrem kostspielig, sodass den beiden sehr bald das Geld ausgeht.
Hinzu kommen weitere eigenartige Sitten. So kann es vorkommen, dass plötzlich Menschen vor der Tür stehen und die Begleichung einer Rechnung fordern, die nie gestellt wurde. Das Amt funktioniert nach bester Kafkascher Art, (dieser Roman hatte einigen Einfluss auf Kafka, sodass man eigentlich sagen müsste, dass die Mechanismen der Bürokratie, die er beschreibt, der Art Kubins folgen), Eingaben werden verschlampt, Anliegen verschleppt, Akten mit Federn ohne Tinte beschrieben.
All das stört die Bewohner nicht, sie folgen ihren Spleens und lassen es sich so gut gehen. Beispielsweise besucht der Protagonist regelmäßig einen Friseurladen, dessen Inhaber ständig philosophische Vorträge hält und stattdessen einen Affen namens Giovanni Battista das Geschäft führen lässt, was dieser mit Leidenschaft und Perfektion zu tun versteht.
Realität und Traum verschwimmen im Traumreich, allderdings wirkt das alles in der ersten Hälfte des Romans zwar skuril aber dennoch liebenswürdig ja anregend.
Erst mit dem Tod seiner Frau beginnen sich die Dinge für den Zeichner in einem anderen Licht zu zeigen. Je weiter die Krankheit seiner Frau fortschreitet, desto unheimlicher wird ihm auch sein Umfeld. Er sucht nach Antworten, nach Gründen für die vielen seltsamen Begebenheiten und stößt doch nur auf noch mehr Fragen. Seiner zunehmdenen Renitenz begegnen die anderen Einwohner mit Skepsis und Zurückhaltung. Sie haben akzeptiert, dass Auflehnung keinen Sinn und erst Recht keine Chance hat. Der Herrscher des Reiches ist kaum zu Gesicht zu bekommen aber doch immer gegenwärtig, selbst in den Augen der Einwohner. Nach unbekanntem Gesetz herrscht er über sein Reich, Absichten und Ziele dieser Herrschaft bleiben so unsichtbar wie er selbst. Die Bewohner sind ihm ausgeliefert, haben nur die Chance der Anpassung, des Arrangements mit den bestehenden Verhältnissen.
Doch irgendetwas ist ab nun anders. Die Dinge scheinen aus dem Ruder zu laufen. Erst vergammelt und verwest alles Material, dann bricht eine schreckliche Plage über die Bewohner von Perle. Während die Einwohner einer zunehmenden Agonie ausgeliefert sind, vermehren sich alle übrigen Lebewesen scheinbar explosionsartig, zu Beginn die Insekten, später auch alle übrigen Tiere. Wölfe, Bären und Tiger ziehen durch die Straßen und reißen die verängstigten Bewohner. Irgendwann ergreift die Einwohner eine Art von kollektiver Psychose, die sich in unglaublichen Szenen abspielt. Wüste Orgien wandeln sich zu Gewaltexzessen.
Das Traumreich geht zugrunde. Immer schrecklicher werden die Visionen des Untergangs, die der Protagonist schildert, immer grausamer und abartiger die Taten der verstörten Bewohner. Einem amerikanischen Fabrikant für Büchsenfleisch, Herkules Bell, ist es unterdessen gelungen , sich den Zutritt zum Traumreich zu erschwindeln. Nun beginnt er mit Agitationen gegen Patera mit dem Ziel, eine Revolution hervorzurufen, an deren Ende er sich selbst zum Herrscher über das Traumreich aufzuschwingen gedenkt.
In einer letzten Vision schildert der Zeichner den Kampf zwischen Patera und Bell als grandioses Zerrbild in den mythischen Bildern einer apokalyptischen Kosmologie.
Am Ende steht der Satz: „Der Demiurg ist ein Zwitter.“
Das Traumreich beginnt zu sterben als die kalte, rationale Vernunft die Grenze des Reichs übertreten kann. Bell steht für diese, Patera als Herrscher des Traumreichs für jene. Das Universum zerfällt in Gegensätze, die sich gegenseitig bekämpfen. Leben und Tod, Traum und Realität, Amerika und Asien etc. In Pateras Reich zerfließen diese Grenzen, für einen Neuling eine faszinierende Erfahrung, aus der heraus eine ungeheure schöpferische Kraft fließt. Das Unbewusste als Quelle der menschlichen Kreativität. Ein starker Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke an Freuds „Traumdeutung“, das 1900 erschien. Kubins Roman erschien 1909 zum ersten Mal und ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu lesen, Gesetzmäßikeiten des Unbewussten mit den Mitteln der Kunst nachzuspüren, zu simulieren, ja erst zu bestimmen. Was für den Neuling faszinierend war, wird für denjenigen, der zu lange im Reich des Traumes zu Gast war, zu einer alles überwältigenden Horrorvision, die den Träumer selbst zu vernichten droht. So ist das Reich des Traums nicht nur eine Spielwiese unserer eigenen kreativen Anlagen, sondern gleichzeitig auch ein uns selbst bedrohendes Monster, das wir nicht besiegen können, dem wir uns aber immer wieder zu stellen haben, vom dem wir uns aber nie überwältigen lassen dürfen.
Endet Kubins Roman mit der Erkenntnis der Gegensätzlichkeit aller Dinge und dem nie endenden Kampf derselben gegeneinander, so heißt das aber auch, dass im Menschen dieser Kampf ebenso tobt und es unsere Aufgabe ist, Herrscher unseres Traumreichs zu bleiben, es gegen die Realität draußen wie gegen die Monster drinnen zu behaupten. Damit ist das totalitäre Regime Pateras nur unter einem sozio-kulturellen Blickwinkel als negativ und bedrohlich zu betrachten und ich denke, dass ein solcher Blickwinkel dem Werk nur sehr wenig gerecht wird. Kubin war Künstler und ihn bewegten die Ausdrucksweisen und Möglichkeiten, die ihm die Bilder aus dem Unbewußten des Menschen für seine Kunst boten mehr als die Frage nach den bestehenden politischen Verhältnissen und der Kritik an denselben.

Gustave Flaubert – Die Erziehung des Herzens

Frédéric Moreau ist ein junger Mann, der zu einigen Hoffnungen Anlass gibt. Gut ausgebildet und mit ein wenig Vitamin B ausgestattet darf es durchaus als wahrscheinlich gelten, dass er im Frankreich der 1840er Jahre seinen Weg machen wird. Der Leser begegnet ihm in genau dieser Situation. Allerdings lernt er auf der Heimreise in die Provinz die Ehefrau eines durchtriebenen Geschäftsmannes kennen und verliebt sich in sie. Diese Frau, Madame Arnoux, ist es, um die seine Gedanken in der Zukunft kreisen und dieser unerfüllbaren Liebe ist zu einem Gutteil sein Versagen anzulasten.
Moreau ist ein Mann großer Pläne, darin vielleicht allen jungen Menschen ähnlich, die die Kraft, den Willen und die Fähigkeit in sich spüren, den Dingen ihren Stempel aufzudrücken. Die Zeit, in der sich Moreau und seine Altergenossen bewegen, scheint den Wünschen und Hoffnungen der jungen Menschen entgegen zu kommen, denn es ist eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der sich immer mehr beschleunigend in Jahre 1848 seinen Höhepunkt findet. Vieles, ja alles scheint möglich. Und so sind die Pläne des Protagonisten und seiner Freunde und Bekannten ebenso ehrgeizig und groß wie bunt. Der eine setzt auf Politik, der andere auf eine Karriere in der Wirtschaft, Pellerin auf die Kunst, Moreau mal auf das eine mal auf das andere. Das genau ist Moreaus großes Problem. Er ist schnell dabei einen Plan aufzustellen, aber leider besitzt er nicht die nötig Geduld, Hartnäckigkeit und Konzentration, um auch nur einen davon in die Tat umzusetzen. So beschließt er sein Leben als alternder Jungeselle in bescheidenen Verhältnissen. Sein zwischenzeitlicher Reichtum fällt zum einen einer dandyhaften Verschwendungssucht zum Opfer, der keinerlei Einkünfte durch eigene Arbeit entgegenstehen, zum anderen seinen oft gut gemeinten aber unvorsichtigen Investitionen zugunsten einiger befreundeter Damen und Herren.
Letztlich ist Moreau unfähig zu handeln, unfähig zu entscheiden und nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Er weiß selbst nie genau, was er will, er ist beeinflussbar wie vielleicht jeder jungen Mensch bis zu einem gewissen Grad.
Seine Pläne werden stets durchkreuzt. Drei unterschiedliche Instanzen hemmen Moreau in dieser Hinsicht: die unberechenbaren Wechselfälle des sozio-politschen Umfelds, die Menschen in seinem Umfeld und letztlich seine eigene Persönlichkeit, seine Unfähigkeit, eine Sache zu verfolgen und zu Ende bringen. Er will alles und das gleichzeitig. Er liebt Mdme Arnoux, kann aber von der „Prostituierten“ Rosanette nicht lassen und steigt gleichzeitig, Reichtum und Einfluss im Sinn, der edlen Madame Dambreuse nach und möchte auch noch die naive, aber in ihren Gefühlen stets ehrliche Louise Rogent, das typische Mädchen vom Lande, heiraten, mehr um sie nicht zu enttäuschen als aus Liebe zu ihr. Eine reist ihn immer von der anderen weg, oft gerade dann, wenn er sich kurz vor seinem Ziel glaubt.
So jagt er seinen Plänen und Leidenschaften hinterher, oft auch denen seiner Bekannten und Freunde unter denen sich Personen jeglichen Standes und jeglicher politischer Couleur finden, versucht es allen recht zu machen und erreicht nur kurzfristig etwas, das er mit Erfolg verwechselt: das vorübergehende Abnehmen dieser Verpflichtungen und das kurzweilige Glück bei einer der Frauen. Er ist also, wie Jules Barbey d’Aurevilly in seinem großartigen Verriss schreibt, eine „Marionette der Geschehnisse“.
Der Titel mag in die Irre führen, denn selbst wenn es eine solche „Erziehung“ gäbe, bestünde ihr Ziel in einem recht indifferenten Hinweis auf das Motiv der Entsagung.
Und vielleicht äußert sich eben gerade darin die Meisterschaft Flauberts, den man gerne als einen Realisten bezeichnet, dass dieser Roman, im weiteren Sinne als Bildungsroman zu betrachten, und die Welt, die in diesem gestaltet wird, eben keinen als vorbildlich zu erkennenden Weg anbietet und somit von einer beinahe schockierenden Offenheit ist, vor allem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Romanproduktion in der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sinnstiftende Instanzen sind verloren, das Individuum noch nicht in der Lage diese Lücke durch das Absolutsetzen der eigenen Individualität zu füllen. In diesem Sinne wäre der Roman als protomoderner Antibildungsroman zu bezeichnen. Dass Flaubert ein grandioser Erzähler ist, dessen behutsame Liebe zum Detail frühe Krititker dazu veranlasst hat, ihn einen Materialisten zu nennen, muss nicht eigens erwähnt werden. Die Übersetzung aber, ob gut oder schlecht kann ich nicht beurteilen, und die darin zu ahnende Schönheit der Sprache Flauberts sollte einen dazu ermutigen, seine Französischkenntnisse aufzufrischen.

Samuel Beckett – Murphy

Ich kenne Beckett nicht so gut, um zu erkennen, warum er diesen Roman aus den Dreißiger Jahren später nicht mehr gemocht hat. Dieses kleine Buch hat auch wenig Anklang gefunden, als es zum ersten Mal erschien. Kein Wunder, wenn man die grotesken Figuren und die absurden Dialoge betrachten. Allerdings ist es gerade das, was den Roman so reizvoll macht. Der Protagonist, Murphy, verbringt seine Zeit am liebsten nackt in seinem Schaukelstuhl, wo er in schaukelnder Meditation Erlösung vom Dasein sucht. Murphy leidet an der ihm unüberwindbar scheinenden Kluft zwischen eigener Innerlichkeit und den Anforderungen der Welt, die in Murphys Augen allesamt weitgehend zweitrangig, ja letztliche irrelevant sind. Murphy liebt Celia, die seinetwegen ihre Karriere als Prostituierte vorübergehend aufgegeben hat. Allerdings gestaltet sich das Überleben zu zweit schwierig, da nun keiner von beiden einer Arbeit nachgeht. Der Egoist Murphy findet erst nach langem Lavieren eine Arbeit, die ihm nicht sinnlos erscheint. Diese allerdings nimmt ihn so gefangen, dass er darüber seine Liebe zu Celia vergisst und sie wegen des Jobs verlässt, den er sich ja nur auf ihr Drängen hin gesucht hat.
Der Egoismus aller handelnden Personen ist ein hervorstechendes Merkmal dieses Romans: Ms. Counihan will Murphy wiedersehen, Neary will Murphy wiedersehen, da er Miss Counihan überzeugen möchte, Murphy aufzugeben und sich für ihn zu entscheiden. Wiley will Murphy aus den selben Gründen aus dem Weg räumen.
Murphy überwindet sein egoistisch pathologisches Phlegma nur scheinbar und findet Arbeit in einer Einrichtung für psychische Kranke.
Nur Celia scheint nicht vom Egoismus besessen zu sein. Sie gibt für Murphy ihren Beruf auf, was ihr nicht schwerfallen dürfte. Gelegentlich kümmert sie sich um den alten Kelly, hilft ihm beim Drachensteigenlassen. Dort aber bandelt sie schließlich mit neuen Kunden an, woraus man schließen darf, dass dies einer alten Gewohnheit entspricht und Kelly womöglich eher eine Art Zuhälter ist als ein alter Freund oder Verwandter.
Die Figuren leben mit ihren Spleens und Neurosen in einer scheinbar normalen Welt, die aber alles andere als das ist. Der Egoismus der Menschen und das Streben nach Erfüllung ihrer Gelüste machen aus dem zivilisierten London einen grotesken Ort des Absurden, ja Verrückten im pathologischen Sinne. Die Welt ist einfach wie sie ist, ohne übergeordneten Plan, ohne Ziel, ohne Sinn außer dem, den jeder selbst und auf eigene Faust in ihr sucht. Nur so finden sich Personen auf Zeit zusammen, in der irrigen, ja verrückten Idee, das Gleiche zu wollen, es gemeinsam zu wollen und gemeinsam verwirklichen zu können.
Die Gegegebenheiten der Welt führen dazu, dass die Figuren von ihrem ursprünglichen Plan abweichen müssen, aber nur um sich in einer anderen Spur sofort wieder an ihren ureigenen Spleen zu klammern. So ändert sich die Welt, die Menschen bleiben dieselben.
Die Sonne ist Symbol und stummer Zeuge dieses unerbittlichen Gangs des Kosmos, wie uns der erste Satz, einer der größten Anfangsätze der Literaturgeschichte, auf groteske Weise deutlich macht:
„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
Murphy findet in der Irrenanstalt endlich einen Menschen, von dem er sich verstanden glaubt. Allerdings ist jener Insasse, Mr. Endon, entweder aufgrund seiner psychischen Disposition nicht in der Lage, Murphys Gefühle und Wünsche zu erwidern oder er möchte lieber, wie Murphy ja ursprünglich auch, in seiner Einsamkeit verharren, was für Murphy jedenfalls ein und dasselbe ist. Über dieser Enttäuschung verliert Murphy endgültig seinen Lebenswillen und begeht Selbstmord.
Seine Asche soll zurück in die irische Heimat gebracht werden. Allerdings gerät der Bote mit der Asche in eine Schlägerei, in deren Verlauf sich Murphys Asche über den mit allerlei Unrat bedeckten Boden einer Kneipe verteilt und am darauf folgenden Tag mit samt dem restlichen Dreck im Müll landet.
Wenn mir nun jemand das Buch geschenkt hätte, was hätte diese Person mir damit sagen wollen?
Vielleicht, dass die Welt dort draußen eine verrückte ist, die weder gut noch schlecht, sondern einfach nur grotesk und verrückt ist, so dass man sich in einen radikalen Individualismus flüchten sollte?
Allerdings ist es genau dieser übersteigerte Egoismus, der die Welt zu der macht, als welche sie uns in diesem Roman erscheint! Warnt uns dieser Roman also im Gegenteil vor dem typisch modernen Individualismus, der hier als pathologisches Moment der modernen Gesellschaft in den grellen Signalfarben des Absurden gemalt wird?
Möglicherweise soll es aber auch ein raffiniert versteckter Hinweis zu sein, sein persönliches Verhältnis von Innerlichkeit und Welt zu überdenken.
Ich finde heute keine Lösung, es käme natürlich auch auf den Schenkenden an.
Letztendlich kann auch einfach die herrlich absurde Geschichte, die neben der kräftigen Komik auch eine guten Schuss Melancholie enthält, der Grund sein, diesen kleinen Roman zu verschenken, in dem der spätere Meister des Absurden bereits in allen wesentlichen Zügen zu erkennen ist.

Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“

Bildungsbürgerlicher Scheißdreck oder literarische Sensation, wunderbare Satire auf die deutsche Klassik oder blasierte Schreibereien eines ehemaligen Philosophiestudenten mit mathematischen-naturwissenschaftlichen Ambitionen? Die Geister spalten sich anscheinend, wenn es um dieses Buch von Jungautor Daniel Kehlmann geht. So jedenfalls meine Erfahrung, wenn man mit Leuten darüber ins Gespräch kommt. Ich fand es jedenfalls echt nicht schlecht, ziemlich subtil und vor allem wichtig: Gut gelacht habe ich auch an einigen Stellen. Bei der „Vermessung der Welt“ handelt es sich um eine Doppelbiographie. Im Wechsel der Kapitel erzählt Kehlmann, meist sehr raffiniert in indirekter Rede seiner Figuren, die sehr skurrilen Lebenswege und Abenteuer zweier genialer deutscher Wissenschaftler: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Beide begeben sich von unterschiedlichen Richtungen her kommend auf die Vermessung der Welt. Der eine von Seiten der Mathematik herkommend, der andere von Seiten der Naturwissenschaften. Der Leser erfährt einiges über den Lebenswandel der beiden: Während Humboldt durch den Dschungel robbt, fast an Selbstversuchen mit giftigen Pflanzen krepiert, unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte und auch fast seine Lebens Sechstausender in Lateinamerika und lavaspeiende Vulkane ersteigt, nur um dort Messungen vorzunehmen, denkt Gauss schon als 16jähriger die herkömmliche Geometrie an seine Grenzen, errechnet später sagenhafte Formeln und beweist nebenbei die Krümmung des Raumes. Beiden Helden kommen die genialsten Ideen und Erfindungen, sehr zur Erheiterung des Lesers, meist in den banalsten Situationen. Gauss unterbricht zum Beispiel den Beischlaf mit seiner Braut während seiner Hochzeitsnacht, um ein paar wichtige Formeln zu notieren. Die Braut und manch anderer, dem Gauss auf diesen 300 Seiten begegnet, fühlt sich im Umgang mit dem Mathematiker manches Mal wie von einem Pferd getreten. Beide Figuren sind in ihrem Streben, die Welt zu erkennen und rational zu druchdringen absolut kompromisslos und dadurch gleichzeitig weltfremd. Humboldt ist in auf seinen Expeditionen ein geistiger Verwandter von Aguirre, ein Fitzcarraldo, ein Mr Kurtz. Gauss ist der Inbegriff des irren Professors. Beide dringen durch ihre Forschung aus der Finsternis der Aufklärung hinaus, erahnen nebenbei das Ende des absolutistischen Zeitalters und treten in die lichte, entzauberte Welt der naturwissenschaftlichen Rationalität. Und das alles mit beschwingender Leichtigkeit. Kehlmann kann reduzieren, das ist wohl das vielleicht geniale Verdienst hier in diesem Buch. Er hat es geschafft, diese beiden vitae auf einige essentielle Zeitspannen herunterzukürzen, so dass in ihnen sehr schön und klar Mentalität, Zeitgeist an der Schwelle einer neuen Epoche sichtbar werden. Die mathematischen Ausführungen zu dem Gaussschen Treiben jedoch, seien sie noch so mühevoll simplifiziert und reduziert, habe ich aber natürlich wieder nicht verstanden. Ich sag nur: Mathe 1 Punkt.

Fragmente aus dem Hinterhof: I – An Beckmann

Hallo Beckmann. Es gibt dich also noch! Ich habe dich gesehen gestern Abend. Kurz vor sieben standest du schon vor der Tür, draußen im kalten Wind. Hast du also Hamburg verlassen. Dort gab es ohnehin nichts mehr, was dich dort hätte halten können. Als ich die Tür öffnete, kamst du mit kleinen hinkenden Schritten die Treppe hinauf. Ich stand oben und sah dich langsam nach oben steigen. Einen alten, grauen, hinkenden Mann. Das Treppensteigen scheint dir schwer zu fallen. Qäult dich die alte Verletzung noch immer? Hat sie je aufgehört zu schmerzen? Du wirktest so verloren dort auf der Treppe. Ein kleiner Mann und solch eine breite Treppe. Ich trat einen Schritt zur Seite, damit du dich bis zum Treppenabsatz am Geländer stützen konntest. Oben, neben mir, hobst du schwach die Hand, ohne mich anzusehen. Drehtest dich um und stiegst die Stufen ins nächste Stockwerk hoch. Ich kannte dich nicht. Deinen Namen nanntest du nicht. Ich konnte ihn nicht ins Protokoll eintragen. Normalerweise hätte ich dich danach fragen müssen. Andere, die hierher kommen, sehen mich an und erkennen einen Neuen, Fremden. Dann nennen sie ihren Namen und ihr Geburtsdatum von selbst. Du aber hobst nicht einmal den Blick. Als kämst du schon seit Jahren, so als wäre das dein Haus, stiegst du die Stufen empor, hinauf zu deinem Zimmer mit dem Etagenbett, in der alten Küche, die blinde Armaturen aus den grauen Fließen streckt, neben den stinkenden Toiletten. Das Zimmer gehört dir allein, nicht wahr Beckmann? Keiner stört dich dort. Und wenn das Haus an einem besonders frostigen Abend mehr als gefüllt ist, kommt keiner zu dir ins Zimmer, um sich in das freie Bett zu legen. Sie liegen lieber auf dem schmutzigen Fußboden in einem der überfüllten, stickenden Zimmer als dich in deinem kalten Zimmer zu stören. Schämen sie sich? Ich habe dich nie mit ihnen sprechen sehen, Beckmann. Ich habe dich nie sprechen hören. Meiden sie dich Beckmann, weil sie deine Geschichte kennen? Aber wer gibt hier schon was auf Geschichte. Jeder schleppt seine eigene mit sich herum und alle hatten kein Happy-End. Meiden sie dich, weil du der letzte bist? Der allerletzte von denen, die nach Hause kamen und nichts mehr wiederfanden, nicht mal eine Chance? Meiden sie dich deshalb, Beckmann, weil sie ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie dich sehen? Weil sie mindestens eine Chance hatten und nichts daraus machen konnten? Weil sie um eine Chance reicher waren, als du? Fürchten sie sich vor sich selbst, wenn sie dich sehen? Sehen sie ihre Fehler, ihre Verbrechen, ihre vertane Chance, die sie in der Hitze haben verdorren, im Regen haben ersaufen lassen? Die sie im Zorn ausgerissen, vor Wut zu Boden geschmettert haben? Ist es so, Beckmann? Sprichst du nicht mit ihnen, weil du sie wegen ihrer vertanen Chance verachtest? Oder sprichst du nicht mehr, weil du ohnehin keine Antworten mehr bekommst? Und, mittlerweile, nach so vielen Jahren auch keine mehr brauchst, weil du sie alle gehört hast, sie dir selbst so oft vorgesagt hast, während all der langen Spaziergänge, beim Taubenfüttern, während der ewig langen Stunden auf den immerselben Parkbänken in den immergrünen Parks und den Fußgängerzonen der Städte, die sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher wurden? Keiner da, der mit dir spricht. Sogar der andere ist verstummt. Wozu noch reden. Ich sehe dich auf dem Amt in einem Zimmer sitzen, versunken in den viel zu großen Mantel, eingeschüchtert von der fetten Wärme der Heizung, gelangweilt von den Zimmerpflanzen, den gutgemeinten Sermon der drallen Dame in den bunten Kleidern stumm über dich ergehen lassend. Du hast schon schlimmeres erlebt. Nach einer halben Stunden lässt sie dich gehen. Schau doch die Dame wenigsten einmal an, Beckmann. Vielleicht würde dich das zum … Aber nein, ich glaube, du lachst nicht mehr, Beckmann, wozu auch.
Morgens gegen sieben gehe ich durchs Haus und wecke die Männer. Viele sind schon wach. Du bist schon gegangen. Lange vor den anderen. Kannst du noch immer keinen Schlaf finden Beckmann? Nach so vielen Jahren schreckt dich dein Traum noch immer auf? Gehst aus dem Haus, um den Einbeinigen nicht zu begegnen. Jagen dich die elf, angeführt vom zwölften? Heute morgen aber stand ich früher auf, nein, ich schlief nicht einmal. Dein sauberes kaltes Zimmer liegt über meinem. Im Dunklen lag ich auf dem Klappbett und horchte nach oben. Als ich dich gehen hörte, stand ich auf, trat vor mein Zimmer, sah auf die Uhr. Es war gegen Fünf. Wartete vor meinem Zimmer auf dich, Beckmann. Langsam stiegst du die Treppen herunter und kamst ein paar Meter direkt auf mich zu gelaufen, Beckmann. Ich wollte dich nicht ansprechen, nur sehen, wann du gehst. Vielleicht warst du überrascht, als du mich bemerktest. Wo ich stand, sollte keiner stehen um diese Zeit. Für einen Moment konnte ich in deine Augen sehen, Beckmann. In ihnen sah ich ganz weit hinten Freude, Stolz und Glück glimmen. Glücklich, stolz und froh hättest du in einem anderen Leben deinen Sohn und später deine Enkeln ansehen können. Leicht hob sich deine Hand, dann stiegst du hinab zur Tür, hinaus in den dunklen Morgen. War es ein Gruß, Beckmann?
Lange habe ich mich gefragt,Beckmannn, warum du immer so früh das Haus verlässt? Vielleicht brauchst du den dunklen Morgen, damit dir die Laternen eine Richtung zeigen.

Georg Kreisler – Gibt es gar nicht

Zugegeben: Diese Biographie über Georg Kreisler ist eine Liebhaber-Geschichte. Wer die bitterbösen Lieder des Wiener Chansoniers kennt und schätzt, wird sie sich früher oder später zur Brust nehmen. Trotzdem ist es kein Fehler, ihr eine Blogg-Besprechung zu würdigen, da es sich bei dem Herrn mit der schweren schwarzen Hornbrille (s. Bild) um eine faszinierende Persönlichkeit mit einer interessanten Künstler-Vita in einer spannenden Wirkungszeit, die der 40er und 50er Jahre, handelt. – Zunächst zur Person und seinem musikalischen Oeuvre: Kreisler wird 1922 in Wien geboren. Kindheit und frühe Jugend sind unglücklich. Der Vater ist zu streng und beharrt auf einem Brotberuf für seinen Sohnemann. Dazu ist er noch Jude. Mit der Familie flieht er nach der Annektion Österreichs durch das Dritte Reich in die USA, wo er seine musikalische Laufbahn am Konzertflügel aufnimmt und in typischen Humphrey Bogart-Bars und Kaschemmen spielt. Er wird eingezogen in die US-Army und zieht aus in den Krieg. 1955 kehrt er nach zahlreichen Misserfolgen nach Wien zurück und kommt als Kabarettist in der ausgehenden 50ern und in den 60er Jahren zu Ruhm. Kreisler schreibt „schwarze“ Chasons und hat für alles Etablierte und Bornierte, Heuchlerische und Angepasste ein böses poetisches Wort, eine verbale Ohrfeige übrig. Heute lebt Kreisler fünfundachzigjährig nach drei verschlissenen Ehen, von der Welt vergessen, in der Nähe von Salzburg. Er schreibt Opern, mehr zur eigenen Erfüllung als zur Aufführung. – Die Autoren des Buches, Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert, führen den Betrachter zu den wichtigen Stationen in Kreislers Leben und das vor allem in Gestalt gut und amüsant geschriebener Anekdoten. In diesen ganzen kleinen Geschichten, die in den Zeit der großen Umwälzungen und an den faszinierendsten Settings wie Hollywood, L.A., Berlin und Wien im Nachkriegsdeutschland spielen, erscheint der kauzige Kreisler als rebellischer Anarcho-Musiker, der seine Lieder schreibt, mal mehr, mal weniger fürs Publikum. Und bevor man sich versieht erlebt der Leser die ganz große Weltgeschichte im Kleinen. Einige Stories seien mal erwähnt: Die Biographie beginnt beispielsweise mit dem Familienbetrieb in Wien, in dem das Fußpuder „Teddy“ hergestellt wird. Hier begegnet man kurz einem arbeitslosen Künstler und Graphiker mit einem lächerlichen Schnauzbärtchen, der gelegentlich Aufträge für Werbetafeln gegen Schweißfüße in den Strassenbahnen zeichnet. Nach der Annektion taucht bei der jüdischen Familie Kreisler/Hochberg die Gestapo auf und verlangt alle Skizzen des frischgebackenen Reichskanzlers und ehemaligen Werbedesigners Hitler zurück. In seiner Zeit als GI wird wird Kreisler mit Henry Kissinger zum Verhörspezialisten ausgebildet, über den Kreisler kein einziges gutes Wort verliert. Nach dem Krieg leitet Kreisler die Vernehmungen von Nazi-Exgrößen wie Streicher (Chef des Völkischen Beobachters) in Nürnberg. Dieser erinnert sich lediglich und sehr beharrlich daran ein vertrottelter Volksschullehrer zu sein (was ja so unrichtig nicht ist). Auch Göhring gehört zu seinen Schäfchen. Göhring will Kreisler zum persönlichen Mitstreiter gegen den Russen machen und kreuzt dann zum letzten Gespräch dann doch nicht mehr auf. Zurück in den Staaten tingelt Kreisler mit seinen schwarz-humorigen Shows durch die Kneipen in L.A. und macht sich bei dem amerikanischen Kleinbürgertum der 50er Jahre eher unbeliebt durch seine Lieder „My psychoanalyst is an idiot“, „Please shoot your husband“. Und wie immer in Hollywood kommt dann auch zum Film. Er schreibt Filmmusik für Charley Chaplin, spielt selbst in kleinen Nebenrollen in Filmen mit. Der große Durchbruch erfolgt dann jedoch in Wien. Das Lied „Taubenvergiften“ gehört zwar zu seinen größten und wohl bekanntesten Hits. Er selbst hasst es wie die Pest. Die Größe liegt in den unauffälligeren Liedern, in denen er oft virtuos klassische Musikstücke zitiert („Die Triangel“). In den 68ern schlägt er sich auf die Seite der Studentenbewegung und singt das Lied von der durchbrochenen „Bannmeile“ und „Wer schützt die Polizei“. Ungeachtet der Publikumswünsche wendet er sich dann Dadaistischer Wortspielereien zu („Max auf der Rax“) und macht seit den achziger Jahren konsequent sein eigenes Ding. – Wie angedeutet, zuletzt hörte man von Kreisler, dass er an einer ganzen Opernserie schreibt… und das nur für die Schublade. Kreisler gibt keine Interviews (außer für Freunde wie Fink und Seufert), verweigert jegliche Preise, die man ihm für sein Lebenswerk andrehen will. Österreich, das ihn wieder als Bürger und Ehrenbürger haben will, wirbt heute täglich um ihn. Kreisler schickt jegliche Post zurück und besteht am Telefon für alle, die ihn nun totloben wollen, darauf: „Kreisler gibt es gar nicht!“ – Kreislers Lieder sind historische Aufnahmen. Als solche muss man sie als solche hören. Und vor allem, um ein Gefühl und vielleicht eine Begeisterung entwickeln zu können, muss man die Lieder live hören. Kreisler tritt ja selber nicht mehr auf und auf CD ist die Magie und Kraft oft nicht mehr spürbar. Am 12. Dezember gibt es allerdings in der Durlacher Orgelfabrik einen Kreislerabend, an dem Konstantin Schmidt am Flügel einen Auszug aus dem Kreislerschen Werk präsentiert. Dazu ist zu raten, auch wenn Schmidt ein dummer Lackaffe ist (wie ich neulich im Gespräch bemerken durfte). – Schlussendlich: Nette Biographie (keine Weltliteratur!) zu sehr guten Chasons eines zynischen Querulanten.
P.S.:
Ebenfalls hörenswert: Kreislerplatte von der Punk-Band „Die Kassierer“

Thomas Karlauf – Stefan George. Die Entdeckung des Charisma

Das ist es also. Vor einigen Jahren schon nahm ich mir vor, eines Tages eine Biographie Georges zu schreiben. Eine, die jenseits des hagiographischen Schrifttums der George-Jünger aber auch abseits der negativen Blickwinkel ihren Platz finden und George den ihm gebührenden in der deutsch-europäischen Literaturgeschichte zuweisen sollte. Mit dem Erscheinen von Karlaufs Biographie sehe ich mich dieser Aufgabe weitgehend enthoben. Als ich zum ersten Mal bewusst mit George in Berührung kam, führte keiner der großen Taschenbuchverlage eine Ausgabe seiner Werke im Programm. Das hat sich mittlerweile geändert. Es schien, als habe man George vergessen. In die Welt zwischen 68 und Mauerfall schien diese Gestalt und vor allem sein Werk nicht zu passen. Und ehrlich gesagt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es auch in unsere heutige Zeit nicht passt. Aber das muss auch nicht sein. Mehr noch als sein Werk, das dem Leser einiges abverlangt und das weit ab von den bunten Brackwasserlachen eines Erich Fried und Konsorten liegt, musste gerade den 68ern die Person verdächtig erscheinen. Oft, und auch nicht zu Unrecht, wurde George zum Vorwurf gemacht, dass seine Vorstellungen eines „Geheimen Deutschland“ die Ideologie des Nationalsozialismus bereichert und gestützt haben. Von einem neuen „Reich“ ist in seinem Werk die Rede, von einem mit quasi göttlicher Legitimation ausgestatteten „Führer“, von Opfertod und Unterordnung, vom Untergang des Alten und der Erschaffung eines Neuen aus dem Geist der Kunst. George starb Ende 1933, Avancen des neuen Staates, wie den Vorsitz einer neuen Akademie der Schönen Künste lehnte er ab, vom Politischen hatte er nie viel gehalten, ja ein Grundzug seines Denkens ist gerade die radikale Trennung des Politischen von der Kunst. Und doch kann man ihm einen mehr oder weniger latenten Antisemitismus vorwerfen, wie vielen seiner Zeitgenossen übrigens auch. Andererseits fühlten sich gerade viele deutsche Juden zu seinem Kreis angezogen, was diesen wiederum in rechten Kreisen verdächtig gemacht hat. Zu seinem Kreis gehörten begeisterte Anhänger der Nationalsozialisten und entschiedene Gegner wie Boehringer, grandiose Gelehrte wie Gundolf, Kommerell und Kantorowicz und krude Spinner wie Alfred Schuler. Kein Wunder, dass George mit Vorsicht zu genießen ist. Ohne Probleme kann man ihn einen Apologeten Hitlers nennen, einen unpolitschen, weltabgewandten, um die Folgen seiner Gedanken fahrlässig unbekümmerten, ja ignoranten Poeten, einen Päderasten, einen bedeutenden Pädagogen im Sinne einer ästhetischen Welterfahrung, einen Förderer der Kunst und einen egomanischen Homosexuellen mit einem ins Gegenteil gesteigerten Minderwertigkeitskomplex, der zur Befriedung seiner sexuellen Begierden wie seiner charakterlichen Defizite einen bestimmten Schlag von Männern um sich scharte und einige von ihnen in den Suizid trieb.
Schmal ist der Grad, auf dem sich der Biograph bewegt und tief der Abgrund über dem er steht, wenn er sich zu einem Georgebuch entschließt. Die Aufgabe wird durch den Umstand erschwert, dass jede Veröffentlichung zu George dem potentiellen Verdacht ausgesetzt ist, in den Kreis der sich im Castrum Peregrini versammelnden Verehrer Georges gezogen zu werden, die bis heute eine mehr oder minder starke, aber auf jeden seltsam anmutende, quasi-religiöse Verehrung George üben, die spätestens an der Schwelle eines neuen Jahrtausends jedem als gefährlich erscheinen muss, der auch nur flüchtig auf der 20. Jahrhundert zurückblickt.
Gäbe es nicht einen Namen, ein Mitglied jener „geheimnisvollen“ männderbündischen Sekte, einen Namen, den man in Deutschland jeden Tag mit „Edding an die Wände“ werfen sollte, würde man George längst nicht nur literarisch beerdigt haben, sondern auch sein Werk dem völkischen Dreck zugeschlagen und George aus dem kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik getilgt haben: Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Als rettender Strohhalm des kollektiven Gewissens der Deutschen sollte ihm und seinen Mitstreitern stets Hochachtung entgegen gebracht, auch wenn er beileibe kein überzeugter Demokrat war, zu dem er von der bundesrepublikanischen Mythogenese manchmal gemacht wird.
Macht man sich all dies klar, so sieht man, wie groß und wie gefahrvoll die Aufgabe Karlaufs gewesen ist und man kommt nicht umhin, ihm Respekt zu zollen. Er schafft es, obwohl, oder besser trotz seiner Verbundenheit mit dem Castrum Peregrini, eine gut abgewogene Biographie zu schreiben. Manchmal geht er für meinen Geschmack mit seinem Wunsch nach Neutralität ein bisschen zu weit, was angesichts des Themas aber wohl kein Fehler ist. Es gelingt ihm gut, das Geheimnis jenes Männerbundes zu entmystifizieren. der unter dem Namen „George-Kreis“, zumindest in der Literaturwissenschaft zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat. Letztlich reduziere sich das Geheimnis des Kreises auf das Sexuelle. Das klingt plausibel, ist doch nachweisbar, dass einige aus dem Kreis selbst das Geheimnis nicht kannten, oder was sie sahen, nicht verstanden. Zwar wird das Leben im Kreis detailliert geschildert und damit auch die bisweilen dramatischen persönlichen Folgen für die „Jünger“ nicht unterschlagen, aber die Perspektive geht in diesem Punkt wohl etwas zu sehr von der zentralen Gestalt des Meisters George aus. Den negativen psycho-sozialen Folgen für die oftmals noch recht jungen Männer innerhalb des Kreises wird der Autor nicht immer gerecht.
Dieser Weg der Entmystifizierung mag einigen vielleicht nicht gefallen, weil er zeigt, dass Mythen oft nur solange funktionieren, wie jemand an sie glaubt. Interessant an George ist, dass er sich von seinem eigenen Mythos hat forttragen lassen. Wo ein Geheimnis war, bleibt Illusion, Suggestion und charakterliche Disposition übrig. Zuletzt sollte man angesichts der schillernden Gestalt George und seiner Selbststilisierung nicht seine Gedichte vergessen, die in meinen Augen mit dem besten gehören, die in deutscher Sprache je geschrieben wurden. Und anstatt zum Abschluss einen Vers zu zitieren, gedenke ich stattdessen lieber dem zu früh verstorbenen Wolf-Daniel Hartwich, durch den ich zum ersten Mal in Kontakt mit der grandiosen Lyrik von Stefan George kam.

Sigrid Damm – Goethe und Christiane

Nach dem Buch über die Beziehung Goethes zu Frau von Stein schloss sich nahtlos die Lektüre des vorliegenden Werkes an. In der breitgefächerten Goetheforschung kommt Christiane Vulpius traditionell schlecht weg. Obwohl sie seit 1788 bis zu ihrem Tod im Jahr mit ihm zusammenlebte, seit 1806 sogar offiziell als seine Ehefrau. Die hartnäckigen und langlebigen Resentiments des kleinen Weimarer Hofes scheinen in dieser beinah bis auf den heuitgen Tage reichenden Abneigung eine dauerhafte Fortsetzung zu finden. Unbegreiflich schon für viele der Zeitgenossen, warum Goethe sich ausgerechnet in ein armes, aus einfachsten Verhältnissen stammenden, Mädchen verliebt und beschließt, sie zu sich zu nehmen. Selbst seit 1775 geadelt und bis zu seinem Aufbruch nach Italien 1786 in den höchsten Gremien des kleinen Fürstentums beschäftigt, von Bürgern wie Adligen verehrt und bewundert, mit freundschaftlichen Kontakten, die bis in die höchsten Kreisen reichten, hatte er eine große Auswahl an adligen Töchtern gutbetuchter Fürsten. Und doch wählt er ein armes Mädchen aus Weimar, das ihm kurz nach seiner Rückkehr aus Italien im Park an der Ilm über den Weg läuft. Das zu akzeptieren fiel der Weimarer Hofgesellschaft schwer und es fällt auch aufgeklärteren Gemütern neueren Zeiten schwer sich damit abzufinden. Die Nichtbeachtung der Frau von Goethe geht sogar soweit, dass man sie Christiane nennt. Ihr richtiger Name ist aber Christiana. Goethe hat sie so genannt, in Urkunden und anderen Dokumenten findet sich der richtige Name und ihre Briefe unterschrieb sie mit ihrem richtigen Namen. Es verwundert also sehr, wenn erst Sigrid Damm dafür sorgen muss, dass Christianes richtiger Name in das Bewußtsein der Menschen rückt. Wenn sie von der Autorin dennoch weiterhin Christiane genannt wird, so ist das eine Kapitulation vor tumben Behäbigkeit der Konvention.
Gerade die unkorrekte Nennung beweist die überhebliche Ignoranz, mit der Christiane seit, sie in Goethes Leben trat, behandelt wurde. Andere haben Glück und werden irgendwann nach ihrem Tod vergessen, vollständig. Von Christiane bleiben aber auch 200 Jahre nach ihrem Tod zumeist Negatives. Man nannte sie „Goethes Magd“, „ein rundes Nichts“, „eine geistige Null“, Bettina von Armin bezeichnete sie sogar als „Blutwurst“.
Dass Goethe sie geliebt hat, und das doch ausreichend sein sollte, wird manchmal sogar angezweifelt.
Es ist also Sigrid Damms Verdienst, Goethes langjähriger Begleiterin und Frau Gerechtigkeit verschafft und ihr in ihrem Buch ein im besten Sinne unspektakuläres und freundlich gesinntes Denkmal gesetzt zu haben.
Sachlich und trotzdem leise Sympathie bekunden erzählt sie Christianes Leben vor der Bekanntschaft mit Goethe. Erst nach ca. 100 Seiten treffen Goethe und die 15 Jahre jüngere Christiane im Park an der Ilm aufeinander. Vorher lernt man nicht nur ihre Vofahren kennen, sondern man darf auch einen Blick auf die kultur- und alltagsgeschichtlichen Umstände der sogenannten „einfachen“ Leute im 17. und 18.Jahrhunderts.
Das verzweifelte Bemühen der Vorfahren um unbezahlte Stellen in der Verwaltung der absolutistischen Fürstentümer der Zeit, die Not, die Armut, etc.
Das Leben mit Goethe wird unter Einbeziehung zahlreicher Quellen lebendig dargestellt. Man verfolgt das Leben der beiden durch die Jahre, sieht Höhen und Tiefen kommen und wieder gehen; verfolgt die ersten schüchternen Versuche Christianes im Leben der feinen Gesellschaft Fuß zu fassen, sich zu behaupten.
Man sieht sie tanzen und sich vergnügen, während Goethe zuhause sitzt und planvoll ein Werk vorantreibt.
Auch ihren Tod schildert die Autorin, wie Christiane sich in schweren Krämpfen windet und Goethe sich selbst in eine Krankheit flüchtet, um das alles nicht mit ansehen zu müssen. Goethes so bekannte „Scheu“ vor dem Tod findet an dieser Stelle sein dunkelstes Beispiel.
Sicher hatte Christiane nicht den Einfluss auf das Werk ihres Mannes wie Charlotte von Stein oder Marianne von Willemer. Sie, die sich nie viel mit seinem Werk beschäftigt hat, obwohl die oft kolportierte Aussagen, nach der sie nie eines seiner Werke gelesen habe, nicht zutrifft, musste oft zugunsten des Werkes ihres Mannes zurücktreten, wenn er monatelang auf Reisen war, sich lange Zeit nach Jena zurückzog, um ungestört arbeiten zu können. In letzter Konsequenz musste sie sich dem „höheren“ Ziel unterordnen, was ihre lange Zeit schwerfiel. Und dennoch hat Goethe zu ihr gehalten und sie schließlich, auch um sie materiell abzusichern im Falles seines Todes, zu Frau genommen.
Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk, Gott sei Dank, und schon gar keines, das durch die feministische Brille die Verhältnisse verzerrt. Es ist ein Buch mit starkem erzählerischem Akzent. Das belegen auch die zahlreichen Elipsen, die, vor allem zu Beginn des Buches, ein klein wenig negativ ausfallen. In der Ausgabe des Spiegel ist dieses schöne Werk auch zu einem mehr als fairen Preis in einer guten Ausgabe zugänglich.

Leo Perutz – Von neun bis neun

Es ist nicht leicht, dieses Buch angemessen zu besprechen und dennoch nicht zu viel zu verraten. Dass es bereits kurz nach der Veröffentlichung ein großer Erfolg war, belegt die Tatsache, dass eine Firma, die sich später Metro Goldwyn Mayer Pictures Corporaion“ nennen sollte, bereits 1922 die weltweiten Rechte dafür erwarb. Dabei ist es leider geblieben. Eine Verfilmung dieses kleinen Romans existiert bislang nicht. Kurz gesagt handelt das Buch von dem Studenten Stanislaw Demba, der im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts versucht, 400 Kronen aufzutreiben, damit er mit seiner Angebeteten, Sonja, eine Reise nach Venedig machen kann. Er muss sich beeilen, denn ein Nebenbuhler ist im Begriff an Dembas Stelle mit Sonja nach Venedig zu reisen. Die Fahrkarten sind bestellt, am nächsten Tag soll es losgehen. Demba hat nicht viel Zeit. Innerhalb eines Tages muss er an das Geld kommen, sonst kann er sich nicht nur die Reise abschminken, sondern auch seine Sonja, deren Gefühle für ihn wohl schon deutlich abgekühlt sind, wenn sie lieber mit einem anderen auf Reisen gehen will.
Der Roman erzählt von Dembas verzweifeltem Versuch an das Geld zu kommen. Oft ist er ihm ganz nahe, zum Greifen nah, im buchstäblichen Sinn, und dennoch unendlich weit entfernt. es liegt vor ihm und doch nimmt er es nicht, verlässt dafür so schnell es geht den jeweiligen Ort. Er in der Mitte des Romans, in Kapitel 6, erfahren wir, wieso Demba stets seine Hände unter dem Mantel verborgen hält. Interessant sind die vorangehenden Kapitel nicht nur wegen ihrer skuril-grotesken Charakter- und Milieustudien, die so exakt skizziert sind, dass sie manchmal wie Karikaturen wirken. Eine interessante Technik, Verzerrung durch exakte Darstellung. Auch die Form gerade der ersten 5 Kapitel ist bemerkenswert. Sie ähnelt ein wenig dem Drama. Man betritt die Szene, sieht eine Gruppe von Personen, die sich um ihre jeweils eigenen Angelgenheit kümmern (das zweite Kapitel beispielsweise zeigt uns zwei angesehene Wissenschaftler, Orientalisten und Völkerkundler, die sich im Park über die Verbreitung und die Auswirkungen des Haschischkonsums unterhalten. Erst später tritt Demba auf. Man fühlt sich erinnert an Regieanweisungen im Drama: „Die Vorigen, Demba tritt hinzu.“ Allerdings ergibt sich eine Beziehung zwischen den Passanten und Demba erst im Moment, als er auftritt. Was vorher geschieht steht damit nicht in Zusammenhang. Die Konfrontation wird so umso deutlicher, genauso wie die Verstörung und Verwirrung der Menschen, die sich Dembas kurioses Verhalten nicht erklären können. Einer der Professoren hält in mit überzeugend zur Schau getragener Autorität für einen „Haschischesser“: „Ich erkenne sie sofort, wenn ich sie sehe.“
Ob Demba sein Ziel erreicht, was sein Geheimnis ist, verschweige ich an dieser Stelle. Man darf die Pointe nicht kennen, auf keinen Fall. Sonst verliert der Roman seinen Reiz. Am Ende klärt sich alles auf. Aber dieses Ende ist, vor allem in kompositorischer und erzähltechnischer Hinsicht, grandios, so dass man den Roman danach noch einmal lesen muss.

Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernado Soares

Es fällt mir schwer etwas zu diesem Buch zu schreiben. Es ist ein Werk, dass man mit Goethe „inkommensurabel“ nennen möchte. Ich bin des Potugiesischen nicht mächtig, aber wenn die Übersetzung auch nur einen kleinen Teil des Klangs des Orginals einfangen konnte, dann muss das Orginal ein überwältigendes sprachliches Kunstwerk sein. Ein Grund, portugiesisch zu lernen.
Das Buch erzählt die fiktive Autobiographie des Hilfsbuchhalters Bernado Soares. Wer eine , von erzählte Lebensgeschichte erwartet, wird sich verwundert die Augen reiben.
Fragment Nr. 12: „Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.“
Auch wenn in diesen Sätzen mit dem Begriff „Bekenntnisse“ auf die lange Tradition der Gattung Autobiographie verwiesen wird, die von Augustinus „Confessiones“ über Rousseau bis zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und darüber hinaus reicht, hat der Leser bereits bemerkt, dass die Dinge hier anders liegen. Wieso sollte man sein Leben, oder überhaupt irgendetwas, schreiben, wenn man es im Grunde für nicht mitteilungswürdig hält. Es ist dies aber nicht die Absicht dieser Sätze auf genau diesen Umstand hinzuweisen, vielmehr hat dieser kurze Abschnitt programmatischen Charakter.
Sicher, auch diese Fragmente sind Bekenntnisse, aber solche, die nicht ein Leben mit und durch die Dichtung beschreiben (Goethe) oder einen Lebensweg christlicher Läuterung darstellen und rechtfertigen (Augustinus), sondern lediglich persönliche Zeugnisse der eigenen Existenz geben, die in ihrer hoch individuellen verdichteten Form und Widersprüchlichkeit jeden Rest von Allgemeingültigkeit verloren haben und somit anderen in der Tat nichts zu sagen haben.
Ist eine Autobiographie immer auch ein Versuch, sein Leben im Setzkasten der Zeit zu positionieren, ihm einen Sinn zu geben, die eigene Existenz zu rechtfertigen, so ist diese fiktive Autobiographie ein letztes beeindruckendes Bekenntnis der Sinnlosigkeit einer menschlichen Existenz.
Autobiographien leben eben der Wechselwirkung des Ichs mit der Welt. Hier aber ist diese Beziehung eine recht einseitige. So etwas wie äußere Handlung fehlt fast völlig. Manchmal sehen wir Soares am Fenster seines im vierten Stock gelegenen Büros in den Regen hinausschauen, ein anderes Mal streift der durch das Lissabon der kleinen Leute. Jedes äußere Ereignis, vom Regen über das Klingeln der Straßenbahn bis hin zu Soares Chef Vasquez, wird verinnerlicht, ins rein Seelische transponiert. Die Umwelt als Metapher der Seele. Entsprechend besteht das Buch aus einer Unzahl von Fragmenten. Pessoa an Cortez-Rodrigues (19.11.1914):“Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.“
Der fragmentarische Charakter des ist die einzig annehmbare Form der Darstellung in diesem Fall und sie ist ein Zeichen für die Unfähigkeit des Hilfsbuchhalters Soares sein Denken, Fühlen und Handeln, kurz sein Leben zu einem Ganzen zu formen.
Bezeichnenderweise kreisen seine Reflexionen sehr häufig um das Träumen. Nichts ist weiter von der physischen Welt entfernt wie der Traum oder die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz im Tod. Reflexion über die Träume ist eine schwierige Arbeit. Sie zwingt zu besonderen Formend es sprachlichen Ausdrucks. Die Paradoxie ist eine davon, die von Pessoa in diesem Buch oftmals bis in Unverständlichkeit getrieben wird. Vom Manieristischen über das Symbolistische bis tief hinein in das Labyrinth des Paradoxen bewegt sich die Sprache auf ihrem Versuch eine über die Grenzen zum Pathologischen hinaustreibende Reflexion des eigenen Ich sprachlich fassbar zu machen. Gerade darin liegt der außerordentliche Reiz dieses Buches, das einem die volle Aufmerksamkeit abverlangt, die man aufzubringen imstande ist. Groß ist die Versuchung, sich von den hypnotischen Relfexionen hinweg treiben zu lassen. Dann aber wird das Buch tatsächlich zu einem, das nichts mehr zu sagen hat. Über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes, das erst nach Pessoas Tod in unvollendeter Form 1935 erschien, auf Deutsch sogar erst in den 1980er Jahren, kann ich nichts sagen, aber ich bin der festen Überzeugung, das dieses Buch zu den wichtigsten Werken der Klassischen Moderne gehört.

Knut Hamsun – Mysterien; Nachruf auf einen Unbekannten

Johan Nils Nagel, wenn das überhaupt sein richtiger Name ist, denn eine geheimnisvolle Fremde nannte ihn Simonsen, kam eines Tages in ein verschlafenes Nest an der Küste von Norwegen. Er trug einen grellgelben Anzug, einen Geigenkasten unter dem Arm und ein Fläschchen Gift in der Westentasche. Er stieg im besten, und wohl auch einzigen Hotel des Ortes, dem Zentral, ab, und warf mit Geld um sich. Was hatte er hier zu tun? Man weiß es nicht. Vor kurzem hatte sich in der Gegend ein junger Mann aus Liebeskummer umgebracht (oder war es doch nur ein tragischer Unfall)? Nagel zeigte ein besonderes Interesse für diesen Fall. Er bot dem Dorftrottel viel Geld an, wenn er sich bereit zeigen würde, die Vaterschaft für ein Kind anzunehmen, lies das Thema aber unerklärt nach der Weigerung des armen Mannes fallen.

Nagel hegte offenbar Sympathie für diesen Mann, mit dem der ganze Ort seine grausamen Späße trieb und den man Minute nennt. Nagel griff ein, als ein augeblasener Assessor seinen Spaß mit Minute treiben wollte, er steckte Minute Geld zu, besorgte ihm einen neuen Mantel und kümmerte sich um weitere Kleidungsstücke, die man Minute einst versprochen hatte.
Wußte Nagel mehr als er verraten hat? Seine zahllosen Geschichten, die oft bis ins märchenhaft Groteske reichten, hinterließen nicht immer nur gute Laune und Ratlosigkeit bei den Bewohnern des Städtchens. Manchmal meinte man geheime Andeutungen herauszuhören, die ahnen ließen, dass Nagel mehr wußte als, als er zugeben wollte. War er hier, um den Tod des jungen Mannes zu rächen? War er gekommen, um dem drangsalierten Miunte zu seinem irgendwie gearteten Recht zu verhelfen?
Man weiß es nicht und man hat es nie erfahren. Nagel war ein Mann, der niemals greifbar war. In seinem Geigenkasten befand sich nur dreckige Wäsche. Entsprechend behauptete er, nicht Geige spielen zu können, bis er es, zur großen Überraschung aller dann doch tat. Man glaubte, er sei ein reicher Mann, bis er erzählte, die Briefe, die von seinem Vermögen berichteten, selbst andernorts aufgegeben zu haben. Er liebte Dagny Kielland, gestand ihr seine Liebe, verfolgte sie, stromerte nachts um ihr Haus. Gleichzeitig aber gestand er auch der alternden Martha seine Liebe. Er kümmerte sich um Minute, bedachte ihn mit großzügigem Wohlwollen, bis er ihn des Mordes an dem jungen Mann verdächtigte.
Alles, was Nagel sagte oder tat, hob er selbst wieder auf. Er blieb ungreifbar, ein Gespenst in einem gelben Anzug. Nagel war ein Mensch ohne Mitte. Das war die einzige Konstante. Im Lauf der Zeit verschlechterte sich allerdings seine Befindlichkeit zusehends. Er verfiel in Depressionen, konnte keine Treppe hinaufgehen, ohne sich nach jedem Schritt änsgtlich umzublicken. Ihn plagten namenlose Ängste. Eines abends rannte er aus seinem Zimmer hinunter zum Hafen und sprang ins Meer. Seine Dämonen hatten ihn eingeholt und besiegt.
Seine Geschichte endet mit dem kurzen Rückblick der beiden Damen, die Nagel einst liebte. Sie erinnerten sich an Nagel wie an einen belanglosen Streit zwischen zwei Fischweibern. Nagels Anwesenheit hatte keine Folgen gehabt, die Erinnerung an ihn wird zum Klatsch, bevor man ihn ganz vergessen wird. Andeutungsweise erfuhr man von Dagny und Martha noch, dass Minute doch etwas Schlimmes getan haben musste. Hat sich Nagels Verdacht bestätigt?
Sollte Nagel irgendeinen geheimen Plan gehabt haben, so konnte er ihn nicht ausführen. Das Leben im Dorf ging seinen Gang. Die Wellen, die Nagels Anwesenheit geschlagen hatte, brachen sich an einem kleinbürgerlichen Beharrungsvermögen, liefen aus am kahlen Strand der Spießbürgerlichkeit.
Nagel hatte keinen geheimen Plan. Er suchte sich selbst. Nichts konnte ihm auf Dauer Befriedung verschaffen.
Liebe und Hass, Wohlwollen und Argwohn, naturmystische Erfahrung und Alkoholexzess, nirgends fand er einen Angelhaken, um damit im blauen Himmel zu fischen, wie er selbst es beschrieben hat. In der Abgelegenheit des norwegischen Fischerdorf wollte er sich selbst finden. Das hat er nicht geschafft. Im Kampf gegen die eigenen Dämonen unterlag er. Kurz vor seinem Tod warf er einen eisernen Ring, den er stets am Finger trug, in Meer. Dieser Ring mag als Zeichen stehen für eine Gefangenschaft in sich selbst. Eine Gefangenschaft in einem Kerker hinter dessen Mauern nicht die Freiheit wartet, sondern der Tod.

Paul Mercier – Nachtzug nach Lissabon

In einem Gespräch erwähntest du vor einen paar Wochen diesen Roman, den wir beide nicht kannten. Ich wollte ihn dir eigentlich zu deinem Geburtstag schenken. Da ich allerdings niemals Bücher verschenke, die ich selbst nicht gelesen habe, wer weiß, was man sonst für einen Mist verschenkt, habe ich den Roman also erst ein Mal selbst gelesen.
Raimund Gregorius, alternder Lehrer für Alte Sprachen an einem Berner Gymnasium, begegnet eines morgens auf einer Brücke einer portugiesischen Frau, die ihm mit einem Filzstift eine Telefonummer auf die Hand schreibt. Sie begleitet ihn durch den Regen ins Gymnasium, ja sie folgt ihm sogar in den Unterricht. Kurz darauf lässt G. alles stehen und liegen und verlässt mitten in der Stunde die Schule, um nicht mehr zurückzukommen. In einem Antiquariat entdeckt er ein Buch, verfasst in portugiesischer Sprache. Er entschließt sich, beeindruckt von dem Klang der Sprache und dem Bild des Autors, nach Lissbon zu fahren.
Dort stellt er bald fest, dass der Autor des Buches bereits seit 30 Jahren tot ist. G. beginnt nun Nachforschungen anzustellen. Er trifft alte Bekannte, Weggefährten, Freunde, Verwandte und Geliebte des merkwürdigen Autors. In zahlreichen Gesprächen werden die mitgeteilten Auszüge aus Amadeu Prados Buch gespiegelt, präzisiert. Interessanterweise besitzen fast alle alten Freunde von Prado irgendwelche Aufzeichnungen von ihm, die sie dem faszinierten, ja beinahe besessenen G. nicht vorenthalten. G. bricht in das Leben dieser Menschen ein und rollt die Geschichte des intelligenten, beliebten, aber auch extravaganten Arztes Amadeu Prado im Portugal der Diktatur wieder auf, was nicht allen angenehm ist. Er zwingt die Menschen alte, feste Mauern des Schweigens und Verdrängens einzureißen und sich der eigenen Lebensgeschichte in Bezug auf den grandiosen Prado erneut oder überhaupt zum ersten Mal bewußt zu werden. Ob dies allerdings eine Veränderung in den Personen um Prado bewirkt, darf man bezweifeln. Immerhin scheint es G. zu gelingen, die vollständig von dem Andenken an den geliebten Bruder eingenommene Schwester zeitweise aus ihrer pathologischen Verehrung des Bruders zurück in die Gegenwart, in das eigene Leben zu reißen (an der Beziehung der Geschwister dürfte ein Freudianer eine leise Freude haben). Und, wen wundert’s, auch der tatterige Altphilologe macht eine Veränderung durch, wenn auch eine, die ganz im Rahmen seiner bildungsbürgerlichen Existenz bleibt. Er lässt sich eine neue Brille machen, kauft sich einen neuen Anzug. Alles Äußerlichkeiten.
Dieses Buch ist kein „Bewußtseinskrimi“, wie der Klappentext verheißt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der für eine kurze Zeit aus seinem eingefahrenen Leben ausbricht. Alles, was G. in Lissabon tut ist nichts anderes als die Fortsetzunh der Altphilologie mit anderen Mitteln. Die Orte, an denen sich Prado aufhielt werden G. zu sentimentalen Besichtigungspunkten, die Menschen mit denen er spricht degenerieren zu Querverweisen und entstehungsgeschichtlichen Belegen für den Haupttext Amadeu Prado.
Ich gebe zu, manch einen Satz aus Prados Aufzeichnungen sind dem Autor gelungen. Allerdings habe ich das mehr als dumpfe Gefühl, dass sich hier ein „schriftstellernder“ Universitätsprofessor seine eigene Autobiographie zurecht schustert, die neben den nachdenklich pessimistischen Bonmots, realisiert in Amadeu Prado und seinem Buch, auch eine sozusagen Autobiographie der verpassten Gelegenheiten bringt. Interessant bleibt nur die Auspaltung jener Autobiographie auf die G. und Prado.
Insgesamt wirkt der plötzliche Aufbruch des allzu biederen G.’s wenig bis gar nicht glaubwürdig, so sehr der Autor auch bemüht ist, diesen zu motivieren. Faszinierend, aber leider auch enttäuschend bleibt das Motiv der geheimnisvollen Fremden auf der Brücke, die G. eine Telefonummer auf den Arm schreibt. Sie dient nur dazu, G.s Aufbruch auszulösen. Ansonsten bleibt dieses hochgradig produktive Moment nicht nur fruchtlos, sondern im Grunde tot. G. wählt in Portugal nur einmal diese Nummer, legt aber gleich wieder auf. Wenn es so etwas wie tot oder blinde Motive in der Literatur gibt, dann ist Mercier hier ein besonders schönes Exemplar gelungen.
Ich bin froh, dir den Roman nicht geschenkt zu haben…

Goya II

Lion Feuchtwanger hat 1951 mit „Goya oder dem argen Weg der Erkenntnis“ einen historischen Roman vorgelegt, der das Leben und Wirken des spanischen Malers Francisco de Goya y Lucientes zum Gegenstand hat. Eine Biographie und eine historisch korrekte Wiedergabe der Ereignisse in seiner Lebenszeit sind hierbei jedoch nicht entstanden. Feuchtwanger verändert die Geschichte, schichtet sie um, verändert ihre Reihenfolge an einigen Stellen so wie es ihm gerade für die Handlung zuträglich erscheint. Feuchtwanger ist bei der Bearbeitung seines historischen Materials selbst schaffender Künstler: Er verändert, formt, gestaltet neu und versucht dadurch, der Aussage des Textes zur größtmöglichen Geltung zu verhelfen und seinem zentralen Thema die schärfsten Konturen zu verleihen.
Das Anfangkapitel erläutert in deutlichen Worten die Grundproblematik und die Situation Spaniens am Ende des 18. Jahrhunderts und lässt das Konfliktpotential für den Roman bereits erahnen: „Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der iberischen Halbinsel … dauerte es fort.“. Europas Angesicht ist durch die Beben, welche durch die Aufklärung und die französische Revolution verursacht wurden, grundlegend verändert worden. In Spanien hält sich jedoch das Königsgeschlecht der Bourbonen weiterhin auf dem Thron, regiert scheinbar unbeeindruckt in verschwenderischer Manier und ungeachtet jeglicher existentieller, finanzieller und politischer Nöte des Landes. Über allen schwebt bedrohlich, gleich einem Damoklesschwert, die Inquisition der katholischen Kirche und verbreitet Angst und Schrecken.
Feuchtwanger gestaltet den Roman und seinen Protagonisten auf eine Art und Weise, welche über die Figur „Goya“ hinausweist auf den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Am Leben und Wirken Goyas, an seiner allmählichen Persönlichkeitsentwicklung hin zu einem Künstler mit politischem und gesellschaftskritischem Bewusstsein, vollzieht Feuchtwanger exemplarisch den paradigmatischen Umbruch innerhalb der gesamten spanischen Gesellschaft. „Der arge Weg der Erkenntnis“, den der Maler Goya in den drei Teilen dieses Buches beschreitet, wird als ein Prozess des Erwachens aus einer Zeit der Unvernunft, der blinden Religiosität und bedingungslosen Hörigkeit dargestellt. Im ersten Teil des Buches tritt Goya als unpolitisches, charakterloses Individuum auf, das sich seiner gesellschaftlichen Funktion als Maler, seiner Rechte, Pflichten und Grenzen bewusst ist. In dieser Phase malt er ausschließlich Vorlagen für Wandteppiche und harmlose und verklärende Herrscherportraits. Der zweite Teil zeigt Goya als der Maler des Bildes „Die Familie Karls IV“. Goya wagt an diesem Bild Unerhörtes, indem er die königliche Familie nicht wie sonst üblich schönt, sondern sie in einem unbarmherzigen Realismus darstellt: Stupide Gesichter und plumpe Körper stecken in pompösen Rokokokostümen. Als gläubiger Katholik und Monarchist ist er zwar noch linientreu. Allmählich erscheinen ihm jedoch Hirngespinste, die auf eine gefährliche Unordnung in seinem Inneren schließen lassen: Mittags aus heiterem Himmel kriecht ihm El Yantar, das krötenartige Mittagsgespenst, über den Weg. Aberglaube und übernatürliche Erscheinungen scheinen Goya und seinen Zeitgenossen nichts allzu Ungewöhnliches zu sein. Der Leser erfährt, dass auch anderen Personen, z.B. der Herzögin Alba, Geister begegnen. Von dem Gruselkabinett Familie Karls IV über seine ersten Entwürfe vom Krötengeist bis zu den berühmten Caprichos, der Serie von Radierungen, die Goya im dritten Teil des Buches anfertigt, ist es für den Betrachter eine nachvollziehbare konsequente Entwicklung. Mit der zunehmenden Erkenntnis, die Goya durch einschlägige Gespräche mit Freunden und schicksalhafte Erlebnisse von den Umständen in Spanien gewinnt und die er in seinen Bildern verarbeitet, vermag er auch dem spanischen Volk, die wahre Natur des Klerus und der Monarchen zu entdecken: Die Caprichos stellen Mitglieder der königlichen und adligen Gesellschaft als eingebildete Affen und Esel dar, ein Pfaffe sitzt auf den Schultern eines arbeitenden Bauern, hässliche Mönche verschlingen mit großen Mündern gierig Speisen auf einem Tisch. Diese Zeichnungen sind Ausdruck des Loslösungsprozesses von den alten Herrschaftsgebilden. Feuchtwanger stellt das Leben Goyas und seinen „argen Weg der Erkenntnis“ somit als exemplarisches Heraustreten des Menschen des Mittelalters aus seiner Unmündigkeit hinein in die aufgeklärt kritische Welt der individuellen Verantwortung dar, in der blinder Glaube und Aberglaube keinen Platz mehr hat. Der Schlaf der Vernunft hat die Dämonen herbeibeschworen, deren wahre Gestalt der Erwachende nun deutlich zu erkennen vermag.
Die Dämonen des Francisco Goya hat Feuchtwanger in einem genialen Kunstkniff mehrdeutig in den Roman hineingearbeitet: Es bleibt bis zuletzt unklar, wo ihre Ursprünge zu suchen sind. Sind sie Produkt der Verwirrung eines geisteskränkelnden Francisco Goyas wie es sich in den ersten beiden Teilen des Buches vermuten ließe? Oder treibt Goyas Furcht vor dem langen Arm der spanischen Inquisition dunkle Blüten? Handelt es sich bei Goyas Dämonen um paranoide Angstvisionen, die er, ein katholisch erzogener und geprägter Mann, gestalterisch nur in Form von bedrohlichen Dämonen aus der Hölle umzusetzen weiß? Festzustellen ist, dass die Visionen sich bei Goya immer dann verstärken, wenn er dem grausamen Wirken der spanischen Inquisition ausgesetzt ist. Das christlich-ikonographische Inventar der Hölle mit seinen mannigfaltigen Ausgeburten, wie es sich die katholische Kirche und ihre Inquisition durch das ganze Mittelalter hindurch stets zur Einschüchterung der Gläubigen zunutze gemacht hat, kehrt sich in Goyas Caprichos gegen die Kirche und die Mächtigen selbst. In diesem Sinne schlägt Goya die Kirche bewusst oder unbewusst mit ihren ureigenen Waffen. Die Dämonen Goyas sind zwar noch immer gemäß der christlichen Tradition gefallene Engel, die Gefolgschaft des Teufels; Goya – und mit ihm die spanische Gesellschaft – erkennt letztlich aber in den Vertretern des Klerus und des Adels die eigentlichen höllischen Dämonen wieder und begreift sie als Wurzel allen Übels.
Der „Goya“-Roman gleicht insgesamt einem riesigen Goblin-Wandteppich, wie er für den Repräsentationsraum in einem spanischen Herrschaftssitz wie Escorial gefertigt worden sein könnte. Liebevoll gewoben und geknüpft zeigt er wie die Handlungsstränge und das Personal des Romans miteinander verwoben und verknüpft sind. Thomas Mann sprach nach seiner Lektüre von einem „düster glänzenden Riesengemälde“, das Feuchtwanger hier entworfen hätte. Der Roman hat seine Längen, in denen der Leser seinen Atem beweisen muss. Der eigentliche Höhepunkt des Romans, die Anklage Goyas durch das Heiligen Offizium, der sich allerdings als spannendster Teil des Buches liest, ist leider nur Gegenstand der letzten 40 Seiten. Die Beschreibung der Genese einzelner Werke und die Bildbesprechungen ziehen den historisch- und kunstinteressierten Laien jedoch in ihren Bann. Sie ermöglicht ihm durch Feuchtwangers farbenprächtige, adjektivreiche Sprache, sich die Bilder sehr detailliert vorzustellen, so dass der Roman einem streckenweise zu einem Besuch in einer Kunstausstellung gerät. Mit dem historischen und psychologischen Hinterbau zu Goyas Werk, der Verknüpfung von persönlichem Schicksal und Spaniens Geschichte, gelingt es Feuchtwanger, dem Leser ein Eintauchen in eine dreidimensionale Welt zu ermöglichen.
Der Autor zeigt auch in diesem Roman wieder seine Vorliebe für geschichtliche Umbruchs- und Umwälzungssituationen, deren weltanschauliche Konflikte vom individuellen ins historisch-allgemeine aufgeweitet werden können. Als der Roman 1951 in den USA erschien, wurde er von der Leserschaft begeistert aufgenommen. Die Implikationen waren damals vielleicht deutlicher als sie es dem heutigen Leser sein können: Die spanische Gesellschaft in „Goya“ wurde sechs Jahre nach Kriegsende als Allegorie auf die Zustände in Deutschland im Nationalsozialismus verstanden. Für diejenigen, die von der Kommunistenhatz der McCarthy-Ära betroffen waren, – auch Feuchtwanger gehörte dazu -, waren auch die Parallelen zu den Methoden der spanischen Inquisition augenscheinlich.

Klabund – Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

Das ist die wohl ungewöhnlichste Literaturgeschichte, der ich je begegnet bin. Der Titel ist nicht übertrieben. Allerdings habe ich es nicht in einer Stunde lesen wollen. Klabund kommt einem vor wie ein Kind, das vor einer Kiste mit Spielzeug sitzt und fasziniert in die Kiste greift, eine Puppe, eine Spielzeugauto oder sonst etwas zu fassen bekommt, es für einen kurzen Moment intensiv mustert, sich ein Urteil bildet und das Spielzeug zu anderen in einen Setzkasten stellt.
Die Geschwindigkeit, mit der Klabund durch fast 2000 Jahre deutscher Literaturgeschichte fegt, lässt einen schwindeln. Es ist kein Buch für einen, der sich einen schnellen Überblick über die deutsche Literaturgeschichte verschaffen möchte, dafür ist es einfach zu kurz (Lessing bekommt 2 Seiten, Goethe immerhin 7, Thomas Mann ganze 4 Zeilen). Man muss sich schon auskennen, um Klabunds Urteilen folgen zu können. Wie Tuschezeichnungen stehen sie vor dem Leser. Mit wenig Strichen aufs Papier geworfen, voll starker Kontraste bleiben sie dennoch nicht farblos. Klabund ist in der Lage seine Sprach auf engstem Raum ins Schwärmerisch-Pathetischezu treiben und wieder zurück zum Sachlich-Abwägendem. Zünftige Literaturwissenschaftler begegnen diesem Werk als Beitrag zur Literaturgeschichte wohl im besten Fall mit einem wohlmeinenden schulterzuckendem Lächeln. Als ein Stück Literatur begriffen werden sie diesem Büchlein wohl ihre Achtung nicht versagen können.
Vielleicht ist dieser schmale Band die ehrlichste aller Literaturgeschichten. Sie ist bis ins Mark subjektiv, erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder wissenschaftliche Akuratesse. Und sie vermittelt, was keine Literaturgeschichte geben konnte, die ich bislang gelesen habe: Freude an und tiefe Liebe zur Literatur.
Und genau deshalb ist sie trotzdem bestens für die geeignet, die Literatur als öde Schullektüre kennengelernt haben oder mit immergleichen Krimis nach der Langeweile schlagen.

Wikipedia

Wütend schreibe ich diese Zeilen. Wütend über die Qualität des Wikipedia-Artikels zum Faust II. Wenn ich bedenke, dass heutzutage jeder Schüler zu allererst bei Wikipedia vorbeischaut, wenn er ein Referat oder eine GFS oder sonst etwas zu erstellen hat, dann kann einem richtiggehend schwarz vor Augen werden.
Wenn bei Wikipedia schon Mist steht, wie sollen dann andere, die den bei Wikipedia bereitstehenden Inhalten blind vertrauen, noch sinnvoll damit arbeiten können.
Wikipedia leistet leider dem Rechercheverhalten der meisten jüngeren und nicht mehr so jungen Menschen Vorschub, indem es sofort glaubwürdige Informationen zu liefern scheint. Wer bei Wikipedia etwas gefunden hat, sucht nicht mehr weiter. Blind werden Inhalte übernommen, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie selbst gedanklich zu durchdringen. Das gilt natürlich nicht allein für Wikipedia, das gilt, und das ist umso bedenklicher, auch für das übrige Netz.
Da ich Wikipedia aber für ein herausragendens Experiment mit kaum zu überschätzender Bedeutung für die gesamte Organisation der Wissensbestände der Menschheit halte, fordere ich hiermt alle, die hierauf stoßen auf, sich im Rahmen ihrer Kenntnisse bei Wikipedia zu beteiligen.
Ich folge meinem eigenen Appell und habe mich entschlossen, an dem Artikel zu Goethes Faust II mitzuarbeiten. Der Abschnitt zur ersten Szene des 5. Aktes stammt von mir.
Ich schließe, ein wenig beruhigt, mit der Bitte, mich mit Kritik bezüglich der Wikipedia-artikels nicht zu schonen.

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