Selim Özdogan – Die Tochter des Schmieds

Selim Özdogan erzählt die Lebensgeschichte von Gül, der Tochter des Schmieds Timur. Er erzählt ihr Leben in der Türkei der 40iger bis zu Güls Auswanderung nach Deutschland, irgendwann Ende der 60iger Jahre. Beginnend mit Güls Mutter, der schönen Fatma, bewegt sich die Geschichte stets im kleinstädtischen oder dörflichen Milieu. Das Leben der Menschen dort ist einfach, folgt klaren Regeln, die von der Tradition, der Religion und der Familie vorgegeben werden. Mitunter entsteht ein idyllischer Eindruck, der hin und wieder durch gezielte Schläge des Schicksals nur noch vermehrt wird. Das Buch lebt hauptsächlich von der einfachen aber schönen Sprache, die sich gelegentlich derb aber auch poetisch geben kann. Insofern scheint mir hier die einfache Sprache der Menschen gut getroffen zu sein, unabhängig von der Muttersprache, die man sprechen gewohnt ist. Es ist eine große Kunst, das Wesen der Menschen in der Sprache, ja mittels der Sprache vorstellbar, erfahrbar zu machen. Dies gelingt dem Autor in diesem kleinen Roman an jeder Stelle, egal, ob man die Männer fluchen, die Mädchen singen oder die Ehepaare schweigen hört. Vielleicht sind die Personen, vor allem die drei Schwestern Gül, Melike und Sibel etwas zu künstlich gezeichnet, denn so schön es ist, die drei unterschiedlichen Charaktere miteinander aufwachsen zu sehen, so auffallend unwirklich kommt mir die charakterliche Symmetrie der Schwestern vor. Gül, die älteste, ist brav, still, duldend, während ihre kleinere Schwester Melike ein Wirbelwind ist, die trotzig immer ihren Kopf durchzusetzen weiß, sich nichts gefallen lässt. Sibel ist die jüngste der drei und steht zwischen den beiden. Von Melike hat sie den manchmal überzogenen Gerechtigkeitssinn, von Gül das Duldende, Brave.
Zwischen Einfachheit der Menschen und ihrer Schicksale und der bezaubernden Einfachheit der Sprache läuft der Roman nie Gefahr, platt zu werden. Sicherlich sind die Ereignisse alles andere als dramatisch oder gar tragisch. Gül erlebt, was jedes Kind erleben muss: ungerechte Behandlung, Zurückweisung, Scham, Schuld, Einsamkeit, aber auch Glück, Geborgenheit, Freundschaft. Aber gerade diese unprätentiöse Schlichtheit macht den Reiz des Romans aus, die ihre Höhepunkte in den frühen Kapiteln findet, in denen der poetische, ja fast märchenhafte Schimmer der Geschichte am stärksten und wirkungsvollsten ist. Die Kindheit ist ein mythisches Reich von der Welt der Erwachsenen aus gesehen, im Guten wie im Schlechten. Im letzten Abschnitt spricht Gül für einen Moment selbst. Bevor sie diese Welt verlässt, erklärt sie eindringlich, dass auch ihr einfaches Leben einen tiefen Sinn hatte. Gül ist in diesem Punkt zu beneiden, denn sie hat diesen Sinn gefunden.

Thomas Karlauf – Stefan George. Die Entdeckung des Charisma

Das ist es also. Vor einigen Jahren schon nahm ich mir vor, eines Tages eine Biographie Georges zu schreiben. Eine, die jenseits des hagiographischen Schrifttums der George-Jünger aber auch abseits der negativen Blickwinkel ihren Platz finden und George den ihm gebührenden in der deutsch-europäischen Literaturgeschichte zuweisen sollte. Mit dem Erscheinen von Karlaufs Biographie sehe ich mich dieser Aufgabe weitgehend enthoben. Als ich zum ersten Mal bewusst mit George in Berührung kam, führte keiner der großen Taschenbuchverlage eine Ausgabe seiner Werke im Programm. Das hat sich mittlerweile geändert. Es schien, als habe man George vergessen. In die Welt zwischen 68 und Mauerfall schien diese Gestalt und vor allem sein Werk nicht zu passen. Und ehrlich gesagt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es auch in unsere heutige Zeit nicht passt. Aber das muss auch nicht sein. Mehr noch als sein Werk, das dem Leser einiges abverlangt und das weit ab von den bunten Brackwasserlachen eines Erich Fried und Konsorten liegt, musste gerade den 68ern die Person verdächtig erscheinen. Oft, und auch nicht zu Unrecht, wurde George zum Vorwurf gemacht, dass seine Vorstellungen eines „Geheimen Deutschland“ die Ideologie des Nationalsozialismus bereichert und gestützt haben. Von einem neuen „Reich“ ist in seinem Werk die Rede, von einem mit quasi göttlicher Legitimation ausgestatteten „Führer“, von Opfertod und Unterordnung, vom Untergang des Alten und der Erschaffung eines Neuen aus dem Geist der Kunst. George starb Ende 1933, Avancen des neuen Staates, wie den Vorsitz einer neuen Akademie der Schönen Künste lehnte er ab, vom Politischen hatte er nie viel gehalten, ja ein Grundzug seines Denkens ist gerade die radikale Trennung des Politischen von der Kunst. Und doch kann man ihm einen mehr oder weniger latenten Antisemitismus vorwerfen, wie vielen seiner Zeitgenossen übrigens auch. Andererseits fühlten sich gerade viele deutsche Juden zu seinem Kreis angezogen, was diesen wiederum in rechten Kreisen verdächtig gemacht hat. Zu seinem Kreis gehörten begeisterte Anhänger der Nationalsozialisten und entschiedene Gegner wie Boehringer, grandiose Gelehrte wie Gundolf, Kommerell und Kantorowicz und krude Spinner wie Alfred Schuler. Kein Wunder, dass George mit Vorsicht zu genießen ist. Ohne Probleme kann man ihn einen Apologeten Hitlers nennen, einen unpolitschen, weltabgewandten, um die Folgen seiner Gedanken fahrlässig unbekümmerten, ja ignoranten Poeten, einen Päderasten, einen bedeutenden Pädagogen im Sinne einer ästhetischen Welterfahrung, einen Förderer der Kunst und einen egomanischen Homosexuellen mit einem ins Gegenteil gesteigerten Minderwertigkeitskomplex, der zur Befriedung seiner sexuellen Begierden wie seiner charakterlichen Defizite einen bestimmten Schlag von Männern um sich scharte und einige von ihnen in den Suizid trieb.
Schmal ist der Grad, auf dem sich der Biograph bewegt und tief der Abgrund über dem er steht, wenn er sich zu einem Georgebuch entschließt. Die Aufgabe wird durch den Umstand erschwert, dass jede Veröffentlichung zu George dem potentiellen Verdacht ausgesetzt ist, in den Kreis der sich im Castrum Peregrini versammelnden Verehrer Georges gezogen zu werden, die bis heute eine mehr oder minder starke, aber auf jeden seltsam anmutende, quasi-religiöse Verehrung George üben, die spätestens an der Schwelle eines neuen Jahrtausends jedem als gefährlich erscheinen muss, der auch nur flüchtig auf der 20. Jahrhundert zurückblickt.
Gäbe es nicht einen Namen, ein Mitglied jener „geheimnisvollen“ männderbündischen Sekte, einen Namen, den man in Deutschland jeden Tag mit „Edding an die Wände“ werfen sollte, würde man George längst nicht nur literarisch beerdigt haben, sondern auch sein Werk dem völkischen Dreck zugeschlagen und George aus dem kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik getilgt haben: Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Als rettender Strohhalm des kollektiven Gewissens der Deutschen sollte ihm und seinen Mitstreitern stets Hochachtung entgegen gebracht, auch wenn er beileibe kein überzeugter Demokrat war, zu dem er von der bundesrepublikanischen Mythogenese manchmal gemacht wird.
Macht man sich all dies klar, so sieht man, wie groß und wie gefahrvoll die Aufgabe Karlaufs gewesen ist und man kommt nicht umhin, ihm Respekt zu zollen. Er schafft es, obwohl, oder besser trotz seiner Verbundenheit mit dem Castrum Peregrini, eine gut abgewogene Biographie zu schreiben. Manchmal geht er für meinen Geschmack mit seinem Wunsch nach Neutralität ein bisschen zu weit, was angesichts des Themas aber wohl kein Fehler ist. Es gelingt ihm gut, das Geheimnis jenes Männerbundes zu entmystifizieren. der unter dem Namen „George-Kreis“, zumindest in der Literaturwissenschaft zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat. Letztlich reduziere sich das Geheimnis des Kreises auf das Sexuelle. Das klingt plausibel, ist doch nachweisbar, dass einige aus dem Kreis selbst das Geheimnis nicht kannten, oder was sie sahen, nicht verstanden. Zwar wird das Leben im Kreis detailliert geschildert und damit auch die bisweilen dramatischen persönlichen Folgen für die „Jünger“ nicht unterschlagen, aber die Perspektive geht in diesem Punkt wohl etwas zu sehr von der zentralen Gestalt des Meisters George aus. Den negativen psycho-sozialen Folgen für die oftmals noch recht jungen Männer innerhalb des Kreises wird der Autor nicht immer gerecht.
Dieser Weg der Entmystifizierung mag einigen vielleicht nicht gefallen, weil er zeigt, dass Mythen oft nur solange funktionieren, wie jemand an sie glaubt. Interessant an George ist, dass er sich von seinem eigenen Mythos hat forttragen lassen. Wo ein Geheimnis war, bleibt Illusion, Suggestion und charakterliche Disposition übrig. Zuletzt sollte man angesichts der schillernden Gestalt George und seiner Selbststilisierung nicht seine Gedichte vergessen, die in meinen Augen mit dem besten gehören, die in deutscher Sprache je geschrieben wurden. Und anstatt zum Abschluss einen Vers zu zitieren, gedenke ich stattdessen lieber dem zu früh verstorbenen Wolf-Daniel Hartwich, durch den ich zum ersten Mal in Kontakt mit der grandiosen Lyrik von Stefan George kam.

Sigrid Damm – Goethe und Christiane

Nach dem Buch über die Beziehung Goethes zu Frau von Stein schloss sich nahtlos die Lektüre des vorliegenden Werkes an. In der breitgefächerten Goetheforschung kommt Christiane Vulpius traditionell schlecht weg. Obwohl sie seit 1788 bis zu ihrem Tod im Jahr mit ihm zusammenlebte, seit 1806 sogar offiziell als seine Ehefrau. Die hartnäckigen und langlebigen Resentiments des kleinen Weimarer Hofes scheinen in dieser beinah bis auf den heuitgen Tage reichenden Abneigung eine dauerhafte Fortsetzung zu finden. Unbegreiflich schon für viele der Zeitgenossen, warum Goethe sich ausgerechnet in ein armes, aus einfachsten Verhältnissen stammenden, Mädchen verliebt und beschließt, sie zu sich zu nehmen. Selbst seit 1775 geadelt und bis zu seinem Aufbruch nach Italien 1786 in den höchsten Gremien des kleinen Fürstentums beschäftigt, von Bürgern wie Adligen verehrt und bewundert, mit freundschaftlichen Kontakten, die bis in die höchsten Kreisen reichten, hatte er eine große Auswahl an adligen Töchtern gutbetuchter Fürsten. Und doch wählt er ein armes Mädchen aus Weimar, das ihm kurz nach seiner Rückkehr aus Italien im Park an der Ilm über den Weg läuft. Das zu akzeptieren fiel der Weimarer Hofgesellschaft schwer und es fällt auch aufgeklärteren Gemütern neueren Zeiten schwer sich damit abzufinden. Die Nichtbeachtung der Frau von Goethe geht sogar soweit, dass man sie Christiane nennt. Ihr richtiger Name ist aber Christiana. Goethe hat sie so genannt, in Urkunden und anderen Dokumenten findet sich der richtige Name und ihre Briefe unterschrieb sie mit ihrem richtigen Namen. Es verwundert also sehr, wenn erst Sigrid Damm dafür sorgen muss, dass Christianes richtiger Name in das Bewußtsein der Menschen rückt. Wenn sie von der Autorin dennoch weiterhin Christiane genannt wird, so ist das eine Kapitulation vor tumben Behäbigkeit der Konvention.
Gerade die unkorrekte Nennung beweist die überhebliche Ignoranz, mit der Christiane seit, sie in Goethes Leben trat, behandelt wurde. Andere haben Glück und werden irgendwann nach ihrem Tod vergessen, vollständig. Von Christiane bleiben aber auch 200 Jahre nach ihrem Tod zumeist Negatives. Man nannte sie „Goethes Magd“, „ein rundes Nichts“, „eine geistige Null“, Bettina von Armin bezeichnete sie sogar als „Blutwurst“.
Dass Goethe sie geliebt hat, und das doch ausreichend sein sollte, wird manchmal sogar angezweifelt.
Es ist also Sigrid Damms Verdienst, Goethes langjähriger Begleiterin und Frau Gerechtigkeit verschafft und ihr in ihrem Buch ein im besten Sinne unspektakuläres und freundlich gesinntes Denkmal gesetzt zu haben.
Sachlich und trotzdem leise Sympathie bekunden erzählt sie Christianes Leben vor der Bekanntschaft mit Goethe. Erst nach ca. 100 Seiten treffen Goethe und die 15 Jahre jüngere Christiane im Park an der Ilm aufeinander. Vorher lernt man nicht nur ihre Vofahren kennen, sondern man darf auch einen Blick auf die kultur- und alltagsgeschichtlichen Umstände der sogenannten „einfachen“ Leute im 17. und 18.Jahrhunderts.
Das verzweifelte Bemühen der Vorfahren um unbezahlte Stellen in der Verwaltung der absolutistischen Fürstentümer der Zeit, die Not, die Armut, etc.
Das Leben mit Goethe wird unter Einbeziehung zahlreicher Quellen lebendig dargestellt. Man verfolgt das Leben der beiden durch die Jahre, sieht Höhen und Tiefen kommen und wieder gehen; verfolgt die ersten schüchternen Versuche Christianes im Leben der feinen Gesellschaft Fuß zu fassen, sich zu behaupten.
Man sieht sie tanzen und sich vergnügen, während Goethe zuhause sitzt und planvoll ein Werk vorantreibt.
Auch ihren Tod schildert die Autorin, wie Christiane sich in schweren Krämpfen windet und Goethe sich selbst in eine Krankheit flüchtet, um das alles nicht mit ansehen zu müssen. Goethes so bekannte „Scheu“ vor dem Tod findet an dieser Stelle sein dunkelstes Beispiel.
Sicher hatte Christiane nicht den Einfluss auf das Werk ihres Mannes wie Charlotte von Stein oder Marianne von Willemer. Sie, die sich nie viel mit seinem Werk beschäftigt hat, obwohl die oft kolportierte Aussagen, nach der sie nie eines seiner Werke gelesen habe, nicht zutrifft, musste oft zugunsten des Werkes ihres Mannes zurücktreten, wenn er monatelang auf Reisen war, sich lange Zeit nach Jena zurückzog, um ungestört arbeiten zu können. In letzter Konsequenz musste sie sich dem „höheren“ Ziel unterordnen, was ihre lange Zeit schwerfiel. Und dennoch hat Goethe zu ihr gehalten und sie schließlich, auch um sie materiell abzusichern im Falles seines Todes, zu Frau genommen.
Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk, Gott sei Dank, und schon gar keines, das durch die feministische Brille die Verhältnisse verzerrt. Es ist ein Buch mit starkem erzählerischem Akzent. Das belegen auch die zahlreichen Elipsen, die, vor allem zu Beginn des Buches, ein klein wenig negativ ausfallen. In der Ausgabe des Spiegel ist dieses schöne Werk auch zu einem mehr als fairen Preis in einer guten Ausgabe zugänglich.

Leo Perutz – Von neun bis neun

Es ist nicht leicht, dieses Buch angemessen zu besprechen und dennoch nicht zu viel zu verraten. Dass es bereits kurz nach der Veröffentlichung ein großer Erfolg war, belegt die Tatsache, dass eine Firma, die sich später Metro Goldwyn Mayer Pictures Corporaion“ nennen sollte, bereits 1922 die weltweiten Rechte dafür erwarb. Dabei ist es leider geblieben. Eine Verfilmung dieses kleinen Romans existiert bislang nicht. Kurz gesagt handelt das Buch von dem Studenten Stanislaw Demba, der im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts versucht, 400 Kronen aufzutreiben, damit er mit seiner Angebeteten, Sonja, eine Reise nach Venedig machen kann. Er muss sich beeilen, denn ein Nebenbuhler ist im Begriff an Dembas Stelle mit Sonja nach Venedig zu reisen. Die Fahrkarten sind bestellt, am nächsten Tag soll es losgehen. Demba hat nicht viel Zeit. Innerhalb eines Tages muss er an das Geld kommen, sonst kann er sich nicht nur die Reise abschminken, sondern auch seine Sonja, deren Gefühle für ihn wohl schon deutlich abgekühlt sind, wenn sie lieber mit einem anderen auf Reisen gehen will.
Der Roman erzählt von Dembas verzweifeltem Versuch an das Geld zu kommen. Oft ist er ihm ganz nahe, zum Greifen nah, im buchstäblichen Sinn, und dennoch unendlich weit entfernt. es liegt vor ihm und doch nimmt er es nicht, verlässt dafür so schnell es geht den jeweiligen Ort. Er in der Mitte des Romans, in Kapitel 6, erfahren wir, wieso Demba stets seine Hände unter dem Mantel verborgen hält. Interessant sind die vorangehenden Kapitel nicht nur wegen ihrer skuril-grotesken Charakter- und Milieustudien, die so exakt skizziert sind, dass sie manchmal wie Karikaturen wirken. Eine interessante Technik, Verzerrung durch exakte Darstellung. Auch die Form gerade der ersten 5 Kapitel ist bemerkenswert. Sie ähnelt ein wenig dem Drama. Man betritt die Szene, sieht eine Gruppe von Personen, die sich um ihre jeweils eigenen Angelgenheit kümmern (das zweite Kapitel beispielsweise zeigt uns zwei angesehene Wissenschaftler, Orientalisten und Völkerkundler, die sich im Park über die Verbreitung und die Auswirkungen des Haschischkonsums unterhalten. Erst später tritt Demba auf. Man fühlt sich erinnert an Regieanweisungen im Drama: „Die Vorigen, Demba tritt hinzu.“ Allerdings ergibt sich eine Beziehung zwischen den Passanten und Demba erst im Moment, als er auftritt. Was vorher geschieht steht damit nicht in Zusammenhang. Die Konfrontation wird so umso deutlicher, genauso wie die Verstörung und Verwirrung der Menschen, die sich Dembas kurioses Verhalten nicht erklären können. Einer der Professoren hält in mit überzeugend zur Schau getragener Autorität für einen „Haschischesser“: „Ich erkenne sie sofort, wenn ich sie sehe.“
Ob Demba sein Ziel erreicht, was sein Geheimnis ist, verschweige ich an dieser Stelle. Man darf die Pointe nicht kennen, auf keinen Fall. Sonst verliert der Roman seinen Reiz. Am Ende klärt sich alles auf. Aber dieses Ende ist, vor allem in kompositorischer und erzähltechnischer Hinsicht, grandios, so dass man den Roman danach noch einmal lesen muss.

Pessoa – Buch der Unruhe, Fragment 387

Um einen Eindruck zu vermitteln, gebe ich hier das Fragment 387 wieder:

„Vermutlich bin ich, was man einen Dekadenten nennt, einer, dessen Geist äußerlich durch dieses traurige Leuchten einer künstlichen Fremdheit bestimmt ist, die einer rastlosen, seiltänzerischen Seele in unerwarteten Worten Gestalt gibt. Ich späre, daß ich so bin und daß ich absurd bin. Daher suche ich in Nachahmung einer Hypothese der Klassiker, zumindest den schmucken Empfindungen meiner Ersatzseele durch eine ausdrucksstarke Mathematik Form zu verleihen. Es kommt immer wieder vor, daß ich in einem bestimmten Stadium meines schriftlichen Nachdenkens nicht mehr weiß, wo das Zentrum meiner Aufmerksamkeit liegt – ob in den verstreuten Empfindungen, die ich zu beschreiben versuche wi e unbekannte Tapisserien, ob in den Worten , in die ich mich, im Wunsch, den Akt des Beschreibens zu beschreiben, verstricke, verirre und auf diese Weise andere Dinge sehe. Neben klaren und verschwommenen Gedanken-, Bild- und Wortassoziationen sage ich, was ich empfinde, wie auch was ich zu empfinden glaube, und unterscheide nicht mehr zwischen dem, was die Seele sagt und was die Bilder, die auf dem Boden blühen, auff den die Seele sie hat fallen lassen, ja, ich erkenne nicht einmal mehr, ob der Klang eines barbarischen Wortes oder der Rhythmus eines eingeschobenen Satzes mich nicht schon vom an sich unbestimmten Thema abbringt, von der schon angefahrenen Empfindung, und mich entbindet von allem Denken uns Sagen, wie jene großen Reisen, die man zur Zerstreuung unternimmt. Und all dies müßte, während des Wiedergebens hier, ein Gefühl von Nichtigkeit, Scheitern und Schmerz wachrufen und vermag mir doch nur goldene Schwingen zu verleihen. Sobald ich von Bildern spreche, entstehen – vielleicht, weil ich ein Zuviel an Bildern ablehne – neue Bilder in mir; sobald ich mich aufrichte, um zu verwerfen, was ich nicht empfinde, empfinde ich es bereits, und das Verwerfen wird zu einem mit Spitzen verzierten Gefühl. Sobald ich mich Irrwegen anheimgeben will, da der Glaube an mein Bemühen engültig geschwunden ist, lassen mich ein klassischer Begriff, ein räumliches, schmuckloses Adjektiv, plötzlich, wie im Licht eines Sonnenstrahls, klar die schläfrig geschriebene Seite vor mir erkennen, und die Buchstaben aus der Tinte meines Ferderhalters werden zu einer absurden Landkarte magischer Zeichen. Und ich lege mich beiseite wie meinen Federhalter und hülle mich ein in meinen Umhang, lehne mich zurück, allein, fern, zwischen zwei Welten, besiegt, am Ende, wie ein Schiffbrüchiger, der, märchenhafte Inseln vor Augen, untergeht inmitten eines veilchenblau vergoldeten Meeres, von dem er auf fernen Lagern wirklich träumte.“

Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernado Soares

Es fällt mir schwer etwas zu diesem Buch zu schreiben. Es ist ein Werk, dass man mit Goethe „inkommensurabel“ nennen möchte. Ich bin des Potugiesischen nicht mächtig, aber wenn die Übersetzung auch nur einen kleinen Teil des Klangs des Orginals einfangen konnte, dann muss das Orginal ein überwältigendes sprachliches Kunstwerk sein. Ein Grund, portugiesisch zu lernen.
Das Buch erzählt die fiktive Autobiographie des Hilfsbuchhalters Bernado Soares. Wer eine , von erzählte Lebensgeschichte erwartet, wird sich verwundert die Augen reiben.
Fragment Nr. 12: „Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.“
Auch wenn in diesen Sätzen mit dem Begriff „Bekenntnisse“ auf die lange Tradition der Gattung Autobiographie verwiesen wird, die von Augustinus „Confessiones“ über Rousseau bis zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und darüber hinaus reicht, hat der Leser bereits bemerkt, dass die Dinge hier anders liegen. Wieso sollte man sein Leben, oder überhaupt irgendetwas, schreiben, wenn man es im Grunde für nicht mitteilungswürdig hält. Es ist dies aber nicht die Absicht dieser Sätze auf genau diesen Umstand hinzuweisen, vielmehr hat dieser kurze Abschnitt programmatischen Charakter.
Sicher, auch diese Fragmente sind Bekenntnisse, aber solche, die nicht ein Leben mit und durch die Dichtung beschreiben (Goethe) oder einen Lebensweg christlicher Läuterung darstellen und rechtfertigen (Augustinus), sondern lediglich persönliche Zeugnisse der eigenen Existenz geben, die in ihrer hoch individuellen verdichteten Form und Widersprüchlichkeit jeden Rest von Allgemeingültigkeit verloren haben und somit anderen in der Tat nichts zu sagen haben.
Ist eine Autobiographie immer auch ein Versuch, sein Leben im Setzkasten der Zeit zu positionieren, ihm einen Sinn zu geben, die eigene Existenz zu rechtfertigen, so ist diese fiktive Autobiographie ein letztes beeindruckendes Bekenntnis der Sinnlosigkeit einer menschlichen Existenz.
Autobiographien leben eben der Wechselwirkung des Ichs mit der Welt. Hier aber ist diese Beziehung eine recht einseitige. So etwas wie äußere Handlung fehlt fast völlig. Manchmal sehen wir Soares am Fenster seines im vierten Stock gelegenen Büros in den Regen hinausschauen, ein anderes Mal streift der durch das Lissabon der kleinen Leute. Jedes äußere Ereignis, vom Regen über das Klingeln der Straßenbahn bis hin zu Soares Chef Vasquez, wird verinnerlicht, ins rein Seelische transponiert. Die Umwelt als Metapher der Seele. Entsprechend besteht das Buch aus einer Unzahl von Fragmenten. Pessoa an Cortez-Rodrigues (19.11.1914):“Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.“
Der fragmentarische Charakter des ist die einzig annehmbare Form der Darstellung in diesem Fall und sie ist ein Zeichen für die Unfähigkeit des Hilfsbuchhalters Soares sein Denken, Fühlen und Handeln, kurz sein Leben zu einem Ganzen zu formen.
Bezeichnenderweise kreisen seine Reflexionen sehr häufig um das Träumen. Nichts ist weiter von der physischen Welt entfernt wie der Traum oder die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz im Tod. Reflexion über die Träume ist eine schwierige Arbeit. Sie zwingt zu besonderen Formend es sprachlichen Ausdrucks. Die Paradoxie ist eine davon, die von Pessoa in diesem Buch oftmals bis in Unverständlichkeit getrieben wird. Vom Manieristischen über das Symbolistische bis tief hinein in das Labyrinth des Paradoxen bewegt sich die Sprache auf ihrem Versuch eine über die Grenzen zum Pathologischen hinaustreibende Reflexion des eigenen Ich sprachlich fassbar zu machen. Gerade darin liegt der außerordentliche Reiz dieses Buches, das einem die volle Aufmerksamkeit abverlangt, die man aufzubringen imstande ist. Groß ist die Versuchung, sich von den hypnotischen Relfexionen hinweg treiben zu lassen. Dann aber wird das Buch tatsächlich zu einem, das nichts mehr zu sagen hat. Über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes, das erst nach Pessoas Tod in unvollendeter Form 1935 erschien, auf Deutsch sogar erst in den 1980er Jahren, kann ich nichts sagen, aber ich bin der festen Überzeugung, das dieses Buch zu den wichtigsten Werken der Klassischen Moderne gehört.

Fragment

Roderich, König der Westgoten, betrat eine Kapelle in seiner Residenz Toledo. Dort befand sich ein Kistchen, das verschlossen bleiben sollte. Angeblich enthielt es eine Schriftrolle mit einer bedeutungsvollen Verheißung. Oft stand in diesen schweren Zeiten vor dieser schmucklosen Kiste im prächtigen Mantel der König Roderich , doch in dieser Nacht konnte er seiner Neugier nicht mehr länger standhalten. Mit starker Hand brach er das Siegel, entnahm das Pergament und las: „Dein Reich wird untergehen, deine Familie in alle Welt zerstreut, dein Gold geraubt, deine Kirche geschändet.“
Ruhig ging er in dieser Nacht zu Bett, gelassen ritt er am nächsten Morgen in die Schlacht. Er focht mutig und fiel.
Roderich war der letzte König der Westgoten.

Helmut Koopmann – Goethe und Frau von Stein

Natürlich nicht das erste Buch über Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein. Wer schreibt schon das erste Buch über Goethe? Koopmann geht in diesem schlanken Buch (279 S.) im Detail Goethes Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein nach. Von der ersten Begegnung bis 1775 bis zu Charlottes Tod 1827 reicht die Darstellung. Natürlich konzentriert sich Koopmann auf die Jahre, in denen diese Beziehung am intensivsten war. Die Jahre nach Goethes Rückkehr aus Italien werden gerafft, die Folgezeit von eisiger Abkühlung bis zu erneuter Annäherung im Alter unter dem Zeichen einer „Seelenfreundschaft“ unwesentlich weniger ausführlich dargestellt.
Jede Darstellung der Beziehung von Goethe und Charlotte von Stein leidet unter der Tatsache, dass lediglich Goethes Briefe erhalten sind. Charlotte von Stein ließ sich nach dem Abbruch der Beziehung ihre Briefe zurückgeben. Sie hat alle verbrannt. So bleibt man allein auf Goethes Briefe angewiesen. Über 1700 schriftliche Mitteilungen, Briefe und Zettel hat Goethe Charlotte im Laufe der Jahre zukommen lassen. Diesem Problem muss sich auch diese Studie stellen. Eine wirklich glaubwürdige Darstellung kann so meiner Meinung nach nicht gelingen. Reaktionen, Gefühle, ja Charlottes ganze Sichtweise auf diese Beziehung muss man aus Andeutungen in Goethes Briefen erschließen.
Um dem Briefwechsel der beiden und damit der gesamten Studie mehr Profil zu verleihen, wirft Koopmann im zweiten Kapitel einen Blick auf Goethes Briefwechsel mit Auguste Gräfin zu Stollberg, den er überzeugend als zeittypische Seelenoffenbarung im Zeichen von Empfindsamkeit und Werther-Nachfolge charakterisiert. Dadurch gewinnt der Briefwechsel mit Charlotte von Stein ungeheuer an Glaubwürdigkeit. Dass der Briefwechsel monologischer Art ist, verwundert angesichts der fehlenden Briefe von Charlotte keineswegs. allerdings läuft man Gefahr, auch die Beziehung von Goethe zu Charlotte als monologisch anzusehen. Sicher war der um sieben Jahre jüngere die treibendene Kraft, aber er wird mit Sicherheit im Laufe der Zeit auf ähnliche Gefühle, wenn auch sicherlich etwas zurückhaltender, bei Charlotte gestoßen sein.
Koopmann verfolgt präzise diese für Goethe wie für die Literatur besondere Beziehung. Bis zum Bruch bei Goethe Rückkehr aus Italien 1788 widmet der Autor jedem Jahr ein eigenes Kapitel. Mit feinem Gespür verzeichnet er Momente tiefster Zuneigung und Phasen der Abkühlung und Distanz. Einen etwas angestrengten und daher wenig überzeugenden Eindruck bekommt der aufmerksame Leser, wenn er feststellt, dass in beinahe jedem Kapitel bis zur Abreise Goethes nach Italien jeweils von Höhepunkten, von Goethe selbst nicht übertroffenen, immer neuen Gipfeln des sprachlichen Ausdrucks die Rede ist. Doch davon sollte man sich nicht anhalten lassen, dieser Studie zu folgen, die anhand reichlicher Auszüge aus Goethes Briefen, Werken und anderen Quellen den Verlauf der Beziehung eindrücklich nachvollzieht.
Elf Jahre sollte Goethes Beziehung zu der sieben Jahre älteren, verheirateten Hofdame dauern. Das gesamte erste Weimarer Jahrzehnt von Goethes Ankunft 1775 bis zu seiner Flucht nach Italien am 3. September 1786. Elf Jahre, in denen sich Goethe von dem jungen, ungestümen Stürmer und Dränger, der zusammen mit dem Herzog und ein paar anderen jungen Männern den Hof von Weimar zum großen Verdruss der alteingesessenen Gesellschaft mächtig durcheinanderwirbelte zu einem Mann, der der Gesellschaft und den Amtsgeschäften überdrüssig war und seinen einzigen Ausweg in der Flucht sah, entwickelte.
Der Frage, die natürlich am meisten interessiert, ob denn da mehr war als aus heutiger Sicht harmlose Zärtlichkeiten, weicht Koopmann nicht aus, allerdings bekommt man von ihm kein klares „Ja“ zu hören. Er ist sich sicher, dass die beiden sich an den unzähligen Abenden, an denen sie allein miteinander waren, mehr getan haben als nur Konversation zu betreiben. Und in der Tat legen manche Briefe das auch nahe.
Immerhin muss Koopmann vor der Frage kapitulieren, was es denn nun gewesen sei, das Goethe so lange an Charlotte fasziniert hat. Zwar kann er die dunklen Augen nennen, von denen Goethe oft sprach, und von deren Schönheit die wenigen Stiche, die von Charlotter erhalten sind, nur ein sehr blasses Abbild geben, aber das scheint ihm etwas wenig zu sein. Einen anderen, tieferen Grund für Goethes Liebe findet er nicht. Gott sei dank, denn was wäre die Liebe, wenn ein emeritierter Literaturprofessor sie erklären könnte?
Man wird Goethes Werke aus dieser Zeit nach der Lektüre diese Buchs etwas genauer lesen, denn die Liebe zu Charlotte findet auf vielen direkten und indirekten Wegen Eingang in das Werk des Dichters. Denn genau darin liegt die Bedeutung dieser Liebe für uns. Dass sie uns Einblick gewährt in die bisweilen verschlungenen Pfade, auf denen das Leben in die Dichtung hinüberreicht.

Julian Barnes: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln

Barnes versteht sein Handwerk und serviert mit seiner kleinen, amüsanten Weltgeschichte einen saftigen Leckerbissen, den ich Dir, Lynkeus heute Abend als ein verspätetes Geburtstagsgeschenk zukommen lassen werde.
Mit seinem Roman „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ ist dem englischen Schriftsteller Julian Barnes 1989 zweifelsohne ein großer Wurf gelungen. Mit Fug und Recht darf man das Werk als modernen Klassiker bezeichnen; Mit Recht befindet es sich auch auf den „Have-to-read“-Listen der literaturwissenschaftlichen Seminare, die sich mit moderner englischer Literatur beschäftigen (Dieser Umstand hat zwar keine große Bedeutung, nur fallen mir solche Sachen natürlich erst nach Beendigung meines universitären Studiums auf!).
Nein, das Buch ist kein entspannender Lesegenuss! Es treibt dem Leser derweilen ganz ordentlich Schweißperlen in die Stirn. Das kleine Gehirnjogging, das Barnes dem Leser hier zumutet, fordert unsere Kondition und Konzentration durch den experimentellen Charakter, den er diesem Werk zugrunde legt. Das Schweißtreibende und zugleich das Faszinierende an dem Werk sind seine formalen Aspekte. Der Text in seiner Gesamtheit entzieht sich einer klaren gattungstypologischen Charakterisierung. Es ist kein herkömmlicher Roman aus einem Guss, sondern am ehesten vielleicht ein „Portfolio“, eine Zusammenstellung von unterschiedlichen Textsorten, Genres und Erzählperspektiven. Angefangen bei dem Bibelkommentar des ersten Kapitels aus der Perspektive eines blinden Passagiers, über den rasanten psychologischen Thriller des zweiten Kapitels, den Orginaldokumenten eines tierischen Schauprozesses mit den Elementen der Tierfabel bis hin zu Reise- und Katastrophenberichten und einer Bildbeschreibung ist an Textgattungen eine große Bandbreite ausgeschöpft. Verbunden sind diese Texte durch eine zentrale Metapher für das menschliche Dasein bzw. das Dasein der Schöpfung, die in unterschiedlicher Gestalt und Variation in den Texten immer wieder auftaucht: Die Gefährdung der Schöpfung durch die Sintflut und die Errettung durch Noah und seine Arche. Auch wenn die einzelnen Texte in die unterschiedlichsten Richtungen streben und oft gar nichts miteinander zu tun haben, sind sie durch die gemeinsame grundlegende Metapher miteinander verbunden. Sie schwebt quasi über allen Texten und bildet eine Synthese, die es dem Werk dann doch noch erlaubt als Roman bezeichnet zu werden.
Wie der Titel bereits bereitwillig Auskunft gibt, erwartet den Leser eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln. 413 Seiten hat sich der Autor dafür Platz genommen. Eine Hybris sondergleichen, denkt sich jeder Leser bei der ersten Begegnung. In dieser anmaßenden Verkürzung liegt aber gerade die verführerische Kraft: Sofort beginnt man zu überlegen, welche Ereignisse der Weltgeschichte von derartig herausragender Bedeutung sein könnten, dass sie in einer Dokumentation der Weltgeschichte Eingang finden könnten. Die Auswahl, die wir vorfinden, ist natürlich stark idiosynkratisch. Mal sind die Texte fiktiv, mal historisch belegt. Die Abfolge der Kapitel ist weder chronologisch geordnet noch kausallogisch miteinander verknüpft. Der Eindruck der Beliebigkeit drängt sich dem Leser auf. Die Romanüberschrift, die an Sir Walther Raleigh´s „The History of the World” (1614) angelehnt ist, variiert diese, indem sie den bestimmten Artikel durch den unbestimmten ersetzt. War Raleighs monumentales Werk noch durch das ehrgeizige Ansinnen geprägt, die Geschichte der Welt seit ihrer Schöpfung als eine lineare Entwicklung wiederzugeben, so stellt sich Barnes Weltgeschichte dem Publikum als eine unter vielen vor. Der Gültigkeitsanspruch ist dem Autor in dieser Zeit verloren gegangen. Durch die zahlreichen heterogenen Kapitel, die wie ein Strauss von Feld- und Wiesenblumen in einer Vase auf dem Tisch stehen, zusammengehalten durch eine zentrale Metapher, zeugen von einer zyklischen Geschichtsauffassung. Die Wahrnehmung der Geschichte ist hier geprägt durch die Fragmentierung und Diskontinuität moderner Wirklichkeitserfahrung. Eine lineare Geschichtsschreibung wie bei Sir Raleigh, das große historische Erzählen ist nicht mehr möglich. Im Vordergrund steht die Erkenntnis, dass jeglicher historischer Zusammenhang arbiträr ist und nur von einer interpretierenden Geschichtsschreibung zusammengehalten wird. Chronologie, Kausalität und Fortschritt werden in dem Roman angezweifelt. In der Geschichte wiederholen sich lediglich immer wieder dieselben Phänomene. Der gesamte Komplex der Sintflut und der Arche, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wird, hat auch in heutiger Zeit ihre Gültigkeit und wird im Roman zur zentralen Metapher für die menschliche Existenz.
Alles in allem hat der Autor etwas Ähnlichkeit mit einem mittelalterlichen Bibelkommentator. Er kommentiert und interpretiert im ersten Kapitel den Bibeltext und wendet ihn in den folgenden Kapiteln auf Situationen in der neueren Geschichte an. Er argumentiert überzeugend, dass das in der Bibel enthaltene Grundprinzip, sei es hier noch so bitterböse und zynisch interpretiert, Gültigkeit für das Leben des Menschen im Allgemeinen wie durch die Geschichte hindurch besitzt.

Knut Hamsun – Mysterien; Nachruf auf einen Unbekannten

Johan Nils Nagel, wenn das überhaupt sein richtiger Name ist, denn eine geheimnisvolle Fremde nannte ihn Simonsen, kam eines Tages in ein verschlafenes Nest an der Küste von Norwegen. Er trug einen grellgelben Anzug, einen Geigenkasten unter dem Arm und ein Fläschchen Gift in der Westentasche. Er stieg im besten, und wohl auch einzigen Hotel des Ortes, dem Zentral, ab, und warf mit Geld um sich. Was hatte er hier zu tun? Man weiß es nicht. Vor kurzem hatte sich in der Gegend ein junger Mann aus Liebeskummer umgebracht (oder war es doch nur ein tragischer Unfall)? Nagel zeigte ein besonderes Interesse für diesen Fall. Er bot dem Dorftrottel viel Geld an, wenn er sich bereit zeigen würde, die Vaterschaft für ein Kind anzunehmen, lies das Thema aber unerklärt nach der Weigerung des armen Mannes fallen.

Nagel hegte offenbar Sympathie für diesen Mann, mit dem der ganze Ort seine grausamen Späße trieb und den man Minute nennt. Nagel griff ein, als ein augeblasener Assessor seinen Spaß mit Minute treiben wollte, er steckte Minute Geld zu, besorgte ihm einen neuen Mantel und kümmerte sich um weitere Kleidungsstücke, die man Minute einst versprochen hatte.
Wußte Nagel mehr als er verraten hat? Seine zahllosen Geschichten, die oft bis ins märchenhaft Groteske reichten, hinterließen nicht immer nur gute Laune und Ratlosigkeit bei den Bewohnern des Städtchens. Manchmal meinte man geheime Andeutungen herauszuhören, die ahnen ließen, dass Nagel mehr wußte als, als er zugeben wollte. War er hier, um den Tod des jungen Mannes zu rächen? War er gekommen, um dem drangsalierten Miunte zu seinem irgendwie gearteten Recht zu verhelfen?
Man weiß es nicht und man hat es nie erfahren. Nagel war ein Mann, der niemals greifbar war. In seinem Geigenkasten befand sich nur dreckige Wäsche. Entsprechend behauptete er, nicht Geige spielen zu können, bis er es, zur großen Überraschung aller dann doch tat. Man glaubte, er sei ein reicher Mann, bis er erzählte, die Briefe, die von seinem Vermögen berichteten, selbst andernorts aufgegeben zu haben. Er liebte Dagny Kielland, gestand ihr seine Liebe, verfolgte sie, stromerte nachts um ihr Haus. Gleichzeitig aber gestand er auch der alternden Martha seine Liebe. Er kümmerte sich um Minute, bedachte ihn mit großzügigem Wohlwollen, bis er ihn des Mordes an dem jungen Mann verdächtigte.
Alles, was Nagel sagte oder tat, hob er selbst wieder auf. Er blieb ungreifbar, ein Gespenst in einem gelben Anzug. Nagel war ein Mensch ohne Mitte. Das war die einzige Konstante. Im Lauf der Zeit verschlechterte sich allerdings seine Befindlichkeit zusehends. Er verfiel in Depressionen, konnte keine Treppe hinaufgehen, ohne sich nach jedem Schritt änsgtlich umzublicken. Ihn plagten namenlose Ängste. Eines abends rannte er aus seinem Zimmer hinunter zum Hafen und sprang ins Meer. Seine Dämonen hatten ihn eingeholt und besiegt.
Seine Geschichte endet mit dem kurzen Rückblick der beiden Damen, die Nagel einst liebte. Sie erinnerten sich an Nagel wie an einen belanglosen Streit zwischen zwei Fischweibern. Nagels Anwesenheit hatte keine Folgen gehabt, die Erinnerung an ihn wird zum Klatsch, bevor man ihn ganz vergessen wird. Andeutungsweise erfuhr man von Dagny und Martha noch, dass Minute doch etwas Schlimmes getan haben musste. Hat sich Nagels Verdacht bestätigt?
Sollte Nagel irgendeinen geheimen Plan gehabt haben, so konnte er ihn nicht ausführen. Das Leben im Dorf ging seinen Gang. Die Wellen, die Nagels Anwesenheit geschlagen hatte, brachen sich an einem kleinbürgerlichen Beharrungsvermögen, liefen aus am kahlen Strand der Spießbürgerlichkeit.
Nagel hatte keinen geheimen Plan. Er suchte sich selbst. Nichts konnte ihm auf Dauer Befriedung verschaffen.
Liebe und Hass, Wohlwollen und Argwohn, naturmystische Erfahrung und Alkoholexzess, nirgends fand er einen Angelhaken, um damit im blauen Himmel zu fischen, wie er selbst es beschrieben hat. In der Abgelegenheit des norwegischen Fischerdorf wollte er sich selbst finden. Das hat er nicht geschafft. Im Kampf gegen die eigenen Dämonen unterlag er. Kurz vor seinem Tod warf er einen eisernen Ring, den er stets am Finger trug, in Meer. Dieser Ring mag als Zeichen stehen für eine Gefangenschaft in sich selbst. Eine Gefangenschaft in einem Kerker hinter dessen Mauern nicht die Freiheit wartet, sondern der Tod.

Paul Mercier – Nachtzug nach Lissabon

In einem Gespräch erwähntest du vor einen paar Wochen diesen Roman, den wir beide nicht kannten. Ich wollte ihn dir eigentlich zu deinem Geburtstag schenken. Da ich allerdings niemals Bücher verschenke, die ich selbst nicht gelesen habe, wer weiß, was man sonst für einen Mist verschenkt, habe ich den Roman also erst ein Mal selbst gelesen.
Raimund Gregorius, alternder Lehrer für Alte Sprachen an einem Berner Gymnasium, begegnet eines morgens auf einer Brücke einer portugiesischen Frau, die ihm mit einem Filzstift eine Telefonummer auf die Hand schreibt. Sie begleitet ihn durch den Regen ins Gymnasium, ja sie folgt ihm sogar in den Unterricht. Kurz darauf lässt G. alles stehen und liegen und verlässt mitten in der Stunde die Schule, um nicht mehr zurückzukommen. In einem Antiquariat entdeckt er ein Buch, verfasst in portugiesischer Sprache. Er entschließt sich, beeindruckt von dem Klang der Sprache und dem Bild des Autors, nach Lissbon zu fahren.
Dort stellt er bald fest, dass der Autor des Buches bereits seit 30 Jahren tot ist. G. beginnt nun Nachforschungen anzustellen. Er trifft alte Bekannte, Weggefährten, Freunde, Verwandte und Geliebte des merkwürdigen Autors. In zahlreichen Gesprächen werden die mitgeteilten Auszüge aus Amadeu Prados Buch gespiegelt, präzisiert. Interessanterweise besitzen fast alle alten Freunde von Prado irgendwelche Aufzeichnungen von ihm, die sie dem faszinierten, ja beinahe besessenen G. nicht vorenthalten. G. bricht in das Leben dieser Menschen ein und rollt die Geschichte des intelligenten, beliebten, aber auch extravaganten Arztes Amadeu Prado im Portugal der Diktatur wieder auf, was nicht allen angenehm ist. Er zwingt die Menschen alte, feste Mauern des Schweigens und Verdrängens einzureißen und sich der eigenen Lebensgeschichte in Bezug auf den grandiosen Prado erneut oder überhaupt zum ersten Mal bewußt zu werden. Ob dies allerdings eine Veränderung in den Personen um Prado bewirkt, darf man bezweifeln. Immerhin scheint es G. zu gelingen, die vollständig von dem Andenken an den geliebten Bruder eingenommene Schwester zeitweise aus ihrer pathologischen Verehrung des Bruders zurück in die Gegenwart, in das eigene Leben zu reißen (an der Beziehung der Geschwister dürfte ein Freudianer eine leise Freude haben). Und, wen wundert’s, auch der tatterige Altphilologe macht eine Veränderung durch, wenn auch eine, die ganz im Rahmen seiner bildungsbürgerlichen Existenz bleibt. Er lässt sich eine neue Brille machen, kauft sich einen neuen Anzug. Alles Äußerlichkeiten.
Dieses Buch ist kein „Bewußtseinskrimi“, wie der Klappentext verheißt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der für eine kurze Zeit aus seinem eingefahrenen Leben ausbricht. Alles, was G. in Lissabon tut ist nichts anderes als die Fortsetzunh der Altphilologie mit anderen Mitteln. Die Orte, an denen sich Prado aufhielt werden G. zu sentimentalen Besichtigungspunkten, die Menschen mit denen er spricht degenerieren zu Querverweisen und entstehungsgeschichtlichen Belegen für den Haupttext Amadeu Prado.
Ich gebe zu, manch einen Satz aus Prados Aufzeichnungen sind dem Autor gelungen. Allerdings habe ich das mehr als dumpfe Gefühl, dass sich hier ein „schriftstellernder“ Universitätsprofessor seine eigene Autobiographie zurecht schustert, die neben den nachdenklich pessimistischen Bonmots, realisiert in Amadeu Prado und seinem Buch, auch eine sozusagen Autobiographie der verpassten Gelegenheiten bringt. Interessant bleibt nur die Auspaltung jener Autobiographie auf die G. und Prado.
Insgesamt wirkt der plötzliche Aufbruch des allzu biederen G.’s wenig bis gar nicht glaubwürdig, so sehr der Autor auch bemüht ist, diesen zu motivieren. Faszinierend, aber leider auch enttäuschend bleibt das Motiv der geheimnisvollen Fremden auf der Brücke, die G. eine Telefonummer auf den Arm schreibt. Sie dient nur dazu, G.s Aufbruch auszulösen. Ansonsten bleibt dieses hochgradig produktive Moment nicht nur fruchtlos, sondern im Grunde tot. G. wählt in Portugal nur einmal diese Nummer, legt aber gleich wieder auf. Wenn es so etwas wie tot oder blinde Motive in der Literatur gibt, dann ist Mercier hier ein besonders schönes Exemplar gelungen.
Ich bin froh, dir den Roman nicht geschenkt zu haben…

Fred Paronuzzi: Als wären wir schön

Dieses kleine Büchlein habe ich geschenkt bekommen, von jemandem, den ich kaum kenne bzw. der mich nicht im Entferntesten kennt. In diesem Umstand liegt vielleicht bereits das größte Problem. Die begleitenden Worte hierzu waren: „Du wirst es lieben!“ und „… eine schöne kleine, spritzige Liebesgeschichte mit Happy End.“. Das nächste Problem ist, ich lese solche kleinen spritzigen Liebesgeschichten grundsätzlich nicht! – und lese sie dann doch. Aus Höflichkeit. es bleibt einem aber dann auch nichts übrig, als dem geschenkten Buch auch ins Maul hinein zu schauen, sei´s auch noch so übel riechend, und dann zu begründen, warum es nicht gut riecht.
Von dem Autor hat man hierzulande noch nichts gehört und nichts gelesen. Dies ist sein erstes Buch, das aus der italienischen in die deutsche Sprache gefunden hat. Fred Paronuzzi ist ein 67er Jahrgang, Englischlehrer seines Zeichens, lebt in einem Bergweiler in den Savoyen und, ach ja genau, er schreibt Romane.
Einige Sätze zum Inhalt: Es gibt zwei Handlungsstränge. Im ersten Strang begegnet der Leser dem Protagonisten Jeremie, einem mittezwanzigjährigen Franzosen, der traumatisiert durch die Abtreibung seines ungeborenen Kindes, sich zu therapieren sucht. Hierzu nimmt er regelmäßig an der Schwangerschaftsgymnastik im Schwimmbad teil und unterzieht sich einer Kochtherapie bei einem gewissen Dr. Boo. Jeremie bekommt von dem Direktor einer Schule den Auftrag, eine Gruppe von Praktikanten in die USA zu begleiten, wo er diese herum chauffieren soll. An dieser Stelle treffen die beiden Handlungen und deren Protagonisten aufeinander. Rose ist die Protagonistin des zweiten Handlungsstranges. Der Erzähler beschreibt Rosa als eine frustrierte, chipsessende, fernsehende Mittevierzigerin aus Inglewood, Illinois. Sie ist geschieden von ihrem prügelnden, rassistischen Ehemann und hat die Hoffnung auf die wahre Liebe im Leben aufgegeben. Jeremie begegnet Rose, als er bei ihr als Untermieter einzieht. Trotz des Altersunterschiedes verlieben die beiden sich auf den ersten Blick, flüchten sich nach Atlantic City, wo sie heiraten und ihren Honeymoon gemeinsam verbringen.
Paronuzzi zeichnet die beiden Protagonisten seines Buches durch Einblicke in deren Alltag und deren merkwürdigen Angewohnheiten und Umfelder als isolierte, vereinsamte und traurige Zeitgenossen. Beide sind durch schwere Schläge des Schicksals geprägt und desillusioniert und wagen nicht, auf eine Trendwende zum Guten im Leben zu hoffen. Die tiefe Traurigkeit im Inneren der Figuren des Romans kontrastiert stark mit den vielen skurril-humorvollen Kleinigkeiten und Begebenheiten vor allem im Leben des Jeremie, die dem Leser gelegentlich ein nachdenkliches Schmunzeln abringen. Nicht ohne Witz und gut beobachtet ist die Episode mit Jeremie im Schwimmbad. Die Vergleiche und Bilder, die der Erzähler Jeremie bei der Beobachtung der Schwangerengymnastik anstellt, führen den Leser in die verträumte Welt des jungen Manns. Auch die Nebenfiguren unterstützen den Eindruck von geträumten Welten fernab der schwierigen Realität. Ein älterer, seniler Onkel Jeremies streut aus dem Kontext gerissene Erinnerungsbruchstücke an sein Leben in Afrika in die Gespräche und Situationen des Romans. Der träumerische Eskapismus beider Figuren, Jeremie und Rose, deren Begegnung und deren Liebe auf den ersten Blick inmitten skurriler Begebenheiten erinnert an den lieblichen und phantasievollen Jeunet/Caro Film „Amelie“. Nur die Umsetzung ist längst nicht so gelungen. Die Kommentare des Onkels geraten später im Buch zu einem schlechten, eher verstörenden „running gag“. Auch die Eindrücke, Gedanken und Situationen der Figuren hängen wie ein Flickenteppich aneinander. Die Übergänge von einem Handlungsstrang in den anderen sind mal fließend, mal sind sie klar abgehoben. Einerseits unterstreicht diese Machart die innere Verstörtheit der Protagonisten durch ein Trauma; andererseits scheint es dem Leser auch, als hätte der Autor seinen Text nicht wirklich im Griff. Einen inkohärenten, zerrissen Text zu verfassen mag zwar einen modernen Touch haben und auch in der Intention des Autors liegen, es kann allerdings auch als schriftstellerische Unfähigkeit ausgelegt werden. Der Verdacht, dass es sich bei diesem Buch um letzteres handelt, liegt hier leider näher.
Das Happy End gestaltet der Autor, indem er die verschrobenen, einsamen Persönlichkeiten zueinander finden lässt und diese sich, geradezu märchenhaft von der ersten Begegnung an lieben „als wären sie schön“. Der Titel besagt, dass nur diejenigen, die wirklich schön sind, sich auch wirklich lieben können. Die große hässliche Masse müsse es sich im Gefühlsrausch einbilden, schön zu sein, um in den Genuss der Liebe zu kommen. Auch bei der Titelwahl liegt die Vermutung nahe, dass der Autor nicht wirklich wusste, was er tut. Jedenfalls fehlt im Buch eine ausreichende Beschäftigung mit der Bedeutung des Titels.
Das Buch ist sehr kurz geraten. Man merkt am Layout, dass hier Luchterhand Mühe gehabt hat, den wenigen Text so zu strecken, dass es sich in Buchform pressen lässt. Auch, wenn einige Elemente originell sind, so fehlt es an einigen Ecken und Enden und man erwartet schlicht und ergreifend mehr und ein ausführlicheres Erzählen. Darüber hinaus wird man das Gefühl nicht los, dass Paronuzzi mit seiner USA-Schilderung anti-amerikanische Klischees bedienen will. Der Nachgeschmack insgesamt ist fahl und leicht bitter. Dass Paronuzzi mal einen guten Roman präsentiert ist nicht ausgeschlossen, dafür muss er jedoch noch etwas wachsen, lernen und vor allem noch üben, üben, üben…

meint Iwan Jakowlewitsch

In die Sprache zurück – Fragment zur Theorie des Unsagbaren

Das Grimmsche Märchen „Die Drei Männlein im Walde“ beginnt mit dem Satz, Es war ein Mann, dem starb seine Frau; und eine Frau, der starb ihr Mann; Die brutale Lakonik des Satzes macht betroffen, ja erschüttert. Der Leser mag sich schwer tun weiter zu lesen, der klare, parallele Aufbau und die einfache, keiner Schminke fähige, brutale Feststellung macht betroffen. Dem klaren Aufbau steht aber ein inhaltliches Paradox entgegen, wenn man stillschweigend annimmt, dass Mann und Frau in einer Verbindung zueinander stehen. Starben beide gleichzeitig. Gibt dieser Satz etwa einen Hinweis auf eine schreckliche Tragödie?

Iwan zu Ehren

Für den heutigen Tag sei dir als Gruß das 18. Venetianische Epigramm von Goethe zugeeignet:

Eines Menschen Leben, was ist’s? Doch Tausende können
Reden über den Mann, was er und wie er’s getan.
Weniger ist ein Gedicht; doch können es Tausend genießen,
Tausende tadeln. Mein Freund, lebe nur, dichte nur fort!

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