Martin Walser – Muttersohn 2

Nach knapp 150 Seiten (Nipperdey lenkt mich ab) lässt sich feststellen, dass die ganze Sache doch recht belanglos ist. Die Gespräche zwischen Feinlein und Percy wirken oberflächlich, nicht gerade uninteressant, aber insgesamt ja, eben belanglos. Ebenso die Lebengeschichte von Percys Mutter, die er dem Angebeteten seiner Mutter, Kainz, in dessen Zimmer in der Psychatrischen Anstalt erzählt. Die Stilisierung Percys zu einer Jesusfigur wird zwischen diesen ganzen Dialogen immer wieder deutlich, aber wozu?? Was die Sprache angeht, so bestätige ich ausdrücklich meinen ersten Eindruck der Einfachheit ohne ästhetische Dimension.

Mord und Totschlag

Ich muss ein paar jungen Leuten Bücher schenken. Da ich keine Ahnung habe, was Mädchen mit 14 lesen, habe ich sie gebeten, mir ihre Wünsche mitzuteilen. Die Titel sprechen für sich: „Die Rebellin. Die Gilde der schwarzen Magier 1“, „Tales of Partholon 1: Ausersehen“, „Schattenkuss“, „Bevor ich sterbe“, „Hassblüte“ und „Puppenrache“. Mehrteilige Fantasyromane oder Psychothriller. Alles recht dunkel, sicherlich mit einer guten Portion Gewalt verziert. Sollten Mädchen in diesem Alter nicht irgendwelche Beziehungsromane lesen? Ich war ziemlich erstaunt, muss ich sagen. Ein paar dieser Romane werde ich mir mal ausleihen… Der Sache muss man nachgehen…

Martin Walser – Muttersohn

Es ist nur mein erster Eindruck nach ein paar Dutzend Seiten. Aber ist Walsers neuer Roman nicht eine Art von Jesus Christus-Karikatur? Oder gar eine Persiflage auf die Passion Jesu. Ein Mann behauptet, dass bei seiner „Entstehung“ kein Mann vonnöten gewesen sei. Er hat, so scheint es bis jetzt, auf alle einen wohltuenden Einfluss. Vielleicht kommt noch ein Prise Genie mit in diese Geschichte, die man vielleicht, ich weiß ja nicht, wie es weitergeht, auch als einen Roman von der Wiederkunft Christi gelesen werden kann. Oder vielleicht gleichzeitig auch als eine Art eschatologischer Selbstfindungsroman jenseits des Adolenzensromans oder der coming of age Filmchen der letzten Zeit? Mal sehen. Sprachlich überzeugt mich das Buch allerdings noch nicht. Im Vergleich mit dem sprachlichen Niveau von beispielsweise „Ein springender Brunnen“ fällt der „Muttersohn“ doch ab. Es wirkt wirr auf den ersten Blick. Sprunghaft.

Eine Anmerkung zu Charles Dickens: Oliver Twist

So, zum ersten Mal in meinem Leben Dickens gelesen. Wurde auch Zeit, mag man sagen. Hat sich eben nicht ergeben. Oliver Twist ist großartig, keine Frage. Das ist schon oft bemerkt worden. Was mich aber ein wenig befremdet, ist das Ende des Romans. Sicher, wer gönnt es dem armen Oliver nicht, dass er Familienmitglieder findet, eine Erbschaft macht und bei netten Leuten leben darf. In gesundem Klima auf dem Land, nicht im Moloch London. Aber ist diese Antithese von beschaulichem Land und der Großstadt nicht ein wenig naiv, selbst für die Entstehungszeit des Textes?

Mind the gap 2 – London

Ein Höhepunkt der Reise war sicherlich der Besuch im Globe Theatre gestern Abend. Leider wurde kein Shakespeare gegeben, dafür „Bedlam“ von Nell Leyshon. Immerhin das erste Stück einer Frau, das hier aufgeführt wird. Wenn man Grabbe und anderen vorgeworfen hat, sie würden in ihren Stücken bisweilen „schillern“, also Pathos, Motivik etc. von Schiller nachahmne, so kann man entsprechend sagen, dass die Autorin kräftig „shakespearisiert“.

Die Vitrine

Ein großer, heller, Raum mit hoher Decke und großen Fenstern. Auf dem Boden liegt braunglänzendes, sehr altes Parkett. Inmitten des Raumes steht eine Vitrine aus Glas. Darin befinden sich zahlreiche kostbare Stücke aus den verschiedensten Epochen: mesopotamische Urnen, römische Amphoren, Rokokogläser und Bergkristallvasen in postmodernem Design. Ein ganzer Schrank aus Glas, vollgestopft mit Dingen aus Glas, Keramik, Ton. Diese Vitrine braucht nicht eigens beleuchtet zu werden, die hohen Fenster lassen genug Licht herein. Viele Menschen betreten den Raum, gehen auf die Vitrine zu, bestaunen die Becher, Gläser Vasen, indem sie langsam um den Glasschrank herumgehen. Sie verlassen den Raum durch eine Tür am anderen Ende des großen Zimmers, das man fast schon einen Saal nennen könnte, gäbe es nicht noch weitaus größere in diesem Haus.

Hanif Kureishi: „The Buddah of Suburbia“

buddha

buddha

Hanif Kureishi hat mit dem „Buddah der Vorstadt“ einen durchaus gelungenen Initiationsroman geschrieben, der vor allem durch Kureishis grandiosen Humor und durch die Schilderung einer Jugend besticht, die sich vor dem Hintergrund der musikalischen und politischen Entwicklungen im London der 70er Jahre abspielt.
Protagonist ist Karim, der Sohn des Pakistani Haroon und einer englischen Mutter, der sich gelangweilt vom Leben in den südlichen Vororten Londons auf die Suche nach dem ultimativen Kick, nach einem Lebensweg und einer Identität macht und dabei immer wieder knallhart auf die heuchlerische Realität der Erwachsenenwelt stößt. Als Haroon, Karims Vater, in einem esoterischen Anfall zum „Buddah der Vorstadt“ mutiert, Meditations-Kurse und Selbstfindungsabende für die überreizte und hyper-neurotische Londoner Oberschicht anbietet, und auf diesem Weg die Familie für die hippy-eske Eva verlässt, zerbricht Karims Welt zunächst unbemerkt. Im Laufe des Romans zieht Karim mit seiner neuen Familie (Haroon, Eva und Stiefbruder Charlie) nach London, erlebt dort den Aufstieg zu einem erfolgreichen Schauspieler, wird Zeuge der rassistischen Ausschreitungen der „National Front“, erhält Zugang in die Welt der freien Liebe und erlebt im Rausch der Drogen und der Hippie- und New Art-Musik die Geburt des New Wave und des Punk. Die Figur des Stiefbruders Charlie „Hero“ macht Karriere als Musiker und zeichnet die Lebensgeschichte David Bowies nach.

Orhan Pamuk – Das neue Leben

Wenn ich das Buch nur im Ansatz verstanden habe, mehr zu behaupten ist vermessen, dann wäre eine Rezension der absolut falsche Weg, das Buch vorzustellen. Es wartet solange, bis man von selbst auf es stößt oder einem ein anderer davon im Stillen berichtet. Es ist ein Buch für wenige.
Wer das Geheimnis entdecken will, muss sich selbst auf die Suche machen.
Also flüstere ich den beiden Lesern leise zu: lest dieses Buch.

Helmut Krausser: Fette Welt


Aus irgendeinem Grund war ich davon überzeugt, dieses Buch noch nicht gelesen zu haben. Bereits nach den ersten Zeilen kehrte die Erinnerung zurück und Kraussers markante Roman-Gestalten wankten mir wieder aus dem nebulösen Nichts in 3-D entgegen. Zu dem Zeitpunkt hat mich die „Fette Welt“ erneut am Genick gepackt, geschüttelt (vor Ekel und Lachen) und bis zum Zuklappen des Buches nicht wieder losgelassen, wie bereits schon mal vor wohl zehn Jahren. Ich muss sagen, es hat mich zutiefst amüsiert, dieses Buch erneut zu lesen.
Held des Buches ist Hagen Trinker, ein defätistischer Wahl-Penner und selbsterklärter Poet in der Nobel-Stadt München, der fetten Welt des Romans. Aus der bürgerlichen Welt zieht dieser zynische Anti-Ritter zu Beginn des Romans aus Verachtung ganz aus und erlebt – gelegentlich von seiner so genannten Familie, einem bunten Sammelsurium von Randexistenzen, begleitet, – so manche Aventiure. Hagen Trinker trinkt sich einen, dichtet und philosophiert unterwegs über die Scheiß-Welt und ihre Existenz, reißt die Brücken hinter sich ein und verliebt sich in die sechzehnjährige Ausreißerin Judith, arbeitet als Totengräber in einem Bestattungsinstitut und überfällt einen Supermarkt. Überschattet und getrieben wird die Hagen-Geschichte durch einen Serienkiller mit dem Decknamen „Herodes“, der in München sein Unwesen treibt und Kleinkinder in ihren Kinderwägen die Kehle durchschneidet. In Nacht und Nebel und im Fieber-Delirium kommt es zu Begegnungen und misantrophen Dialogen zwischen Hagen und Herodes, wobei unklar bleibt (und das ist ein phantastischer Kniff des Autors), ob es sich bei den beiden nicht um ein und dieselbe Person handeln könnte. Einer meiner erklärten Lieblingsszenen, früher wie heute, ist die Beerdigung des griechischen Jünglings, ein Vorbild für groteske Schreibkunst mit Slapstick-Charakter.
Das Buch (übrigens das letzte von Kraussers Hagen-Triologie) wurde gefeiert, daran kann ich mich noch erinnern. Nicht zuletzt waren die Öffentlichkeit und die Literaturkritik fasziniert von dem Autor, der nach eigenen Angaben und Klappentext selbst (halb-) freiwillig ein Jahr als Berber zugebracht hat, als Totengräber jobbte und währenddessen provinzialrömische Archäologie studierte. Entsprechend wird Krausser seit „Fette Welt“ von Literatur-Seminar zu Literatur-Seminar als einer der Vertreter „Junger Deutscher Literatur“ herumgereicht, liest und doziert dort vor einem Publikum, das zu diesem Humor wohl nur schwer Zugang haben sollte. Kraussers Penner-Welt und ihre Lebensäußerungen sind authentisch, wenn man sich dieses Urteil als Uneingeweihter erlauben darf. An einigen Stellen weht den Leser der muffige Geruch des Straßenlebens so real und poetisch an, dass man zugleich kotzen, lachen und staunen möchte. Faszinierend und somit das eigentlich interessante ist jedoch Kraussers Sprache, die intelligent ist, starke Bodenhaftung aufweist und in ihrer unkonventionellen Verspieltheit und ihrem Erfindungsreichtum den Leser verblüfft und immer wieder vor Lachen in den Sessel drückt.
„Fette Welt“ ist ein starkes Stück Gegenwartsliteratur, das ich in zehn Jahren gerne wieder lese, denke ich. Übrigens ist der Roman dann auch mit Jürgen Vogel als Hagen Trinker verfilmt worden. Wäre auch mal zu überlegen, sich das anzuschauen.

Lest mehr Shakespeare

„Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb‘ auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narr’n
Den Pfad des stäub’gen Tods. Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn‘, und dann nicht mehr
Vernommen wird: ein Märchen ist’s, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
das nichts bedeutet. -„
(Shakespeare, Machbeth, V,5)

Auch wenn das hier ein sehr dunkles Stück des verzweifelten Machbeth ist, den nichts mehr erschüttern kann, der auch den letzten Schlag schon kommen sieht und ihm nicht mehr ausweichen will, eine Stelle, die Macbeths dunklen Realismus abschließend kennzeichnet, nach dem Realität die Einsicht in die Sinnlosigkeit des menschlichen Tuns sei, findet sich doch in jedem Stück von Shakespeare das Edle, Gute, Schöne, Heitere mit dem Verwerflichen, Bösen, Dunklen untrennbar vermischt.
Man denke an die jungen Prinzen in Richard III, an Malvolio, dem man aus Spaß übel mitspielt in „Was ihr wollt“. Die Liste der Beispiele könnte beliebig verlängert werden. Wenn die dramatische Kunst je wirklich so etwas wie eine Katharsis beim Zuschauer auslösen konnte oder noch immer kann, dann hier bei Shakpespeare. Die Einsicht in die unauflösbare Vermischung von Gut und Böse, von Heiterem und Traurigem in ein und demselben Moment, hindert den Glücklichen (am Verblöden) daran, seinen Bezug zu Welt zu verlieren, und sie hilft ebenso dem Verzweifelten dabei, den Regenschirm dennoch mitzunehmen, auch wenn es egal sein mag, ob man nass wird oder trocken bleibt.

Michel de Montaigne – Essais, oder Bloggen im 16. Jahrhundert

Ich erspare mir Hinweise auf Größe und Bedeutung des Autors. Ja, es wird ihm die „Erfindung“ der Textsorte Essay zugeschrieben und ja, er ist einer der großen Moralisten, ein Meister seiner Sprache und ein Mann von außerordentlicher Bildung und Belesenheit gewesen. In zumeist kurzen Texten, schreibt er über alles, was ihm in den Sinn kommt. Seine Texte sind von bleibendem Wert, aber das sind viele, wenn auch leider nicht allzu viele.
Was beim ihm in der Urform vorliegt, das Essay, wurde von zahlreichen Schriftstellern erweitert und vervollkommnet. Man denke an Thomas Manns „Versuch über Schiller“ oder Kants „Vom ewigen Frieden“. Im Vergleich zu diesen und anderen Essays wirken diejenigen Montaignes oft einfach, ja karg, was aber kein Mangel sein muss. 400 Jahre kreative Aneignung und Ausgestaltung haben das Gesicht der Gattung verändert, und doch konnte sie ihr Wesen immer bewahren.
Gerade in unseren Tagen aber wird die ursprungliche Form Montaignes wieder modern. Hätte Montaigne Internet gehabt, er wäre Blogger geworden.
Von seinem Turm aus übersah er die Welt und vor allem sich selbst. Seine Texte zeigen eine unglaubliche thematische Vielfalt: „Über die Trunkenheit“, „Über die Daumen“, „Wider die Nichtstuerei“ oder „Alles zu seiner Zeit“, „Über das Stafettenreiten“, „Über ein mißgebildetes Kind“.
Sein Hauptthema aber heißt „Montaigne“. Oft entspringen aus der Selbstreflexion die Themen und genauso häufig münden spontane Gedanken über ein scheinbar beiläufiges Thema in der Reflexion des eigenen Wesens. Montaigne verfügt über alle Merkmale, die einen guten Blogger auszeichnen sollten.
Er ist spontan und stets subjektiv, neigt zum Skeptizismus und zeigt Humor. Ist in der Lage, jedes Thema anzugehen und kreist doch letztlich immer nur um ein einziges, die Beobachtung der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Er ist für seine Zeit brandaktuell und traut sich, zu werten. Montaigne erwähnt Unmenschlichkeiten und Gräuel der Kolonialmächte im kürzlich entdeckten Amerika, übt Kritik an Kopernikus Theorie, die in seiner Zeit beginnt, ihre mächtige Wirkung zu entfalten. Alles ist bei ihm immer rückgebunden an die Weisheit des Altertums, wie auch jeder moderne Blogger, auch wenn er anderes meint, in einer langen Traditionslinie steht. Montaigne war diese bewußt, er kannte seine Tradition und verfügte aktiv über deren literarischen und kulturellen Hinterlassenschaften.
Montaignes Verdienst um die Entwicklung der Textsorte „Essay“ sind unbestreitbar.
Die Vorwegnahme und die geistige Vaterschaft der neben Email und Sms mächtigsten publizistischen Form der post-Postmoderne, des Blogs, ist seiner Ruhmestafel hinzuzufügen.

Thomas Gifford – Assassini

Um es kurz zu machen, ein schlechtes Buch. Bis zur Unerträglichkeit klischeehaft, angefangen von den Beschreibungen der Szene über die Charakterisierungen der Figuren, die ständig mit verschiedenen Schauspielern verglichen werden bis hin zur Darstellung der Details. Hier wird sogar die Marke des Whiskeys, der Uhr, des Autos nicht verschwiegen. Das erinnert an Product placment im Film. Das Buch erinnert mehr an einen Roman nach einem Film als ein originäres Machwerk. Überhaupt erinnert es sehr an einen Fernsehlilm.
Gifford arbeitet mit den Mitteln des Films, um seine haarsträubende Story von einer wiederbelebten Killertruppe des Vatikans erzählen. Der Protagonist ist so amerikanisch, dass das Buch nicht enden kann, bevor er nicht den Mörder seiner Schwester erschossen hat, alle Schuldigen gerichtet sind und die männliche und weibliche Hauptfigur (eine Nonne) zusammenfinden. Der einfache Amerikaner, weltanschaulich ausgerichtet an Kapitalismus und Altem Testament, besiegt eine verdorbene, intrigante, undurchschaubare Institution und stellt im profanisierten Armageddon des Showdowns Recht und Gerechtigkeit wieder her. Die Pax americana im Fernsehfilmformat.
Am Ende habe ich auf den Abspann gewartet und mich auf die Werbung gefreut, aber die kam nicht.
Wer dieses Buch liest, muss Zeit haben. Soviel Zeit wie unter einem Sonnenschirm am Strand eines All-inclusive Hotels. Oder sich ablenken wollen. Wovon auch immer. Und zu diesem Zwecke ist es allerdings mehr als geeignet. Obwohl die Geschichte an sich dem erfahrenen Leser kaum Spannung bietet, kommt diese doch immer wieder auf, wenn sie die Situation mal wieder zuspitzt und es um Leben und Tod geht. Damit man die Lust nicht verliert, ist das auch alle 150 Seiten spätenstens der Fall.
Wie gesagt, ein schlechtes Buch. Aber zum Zwecke der Ablenkung ideal.
In diesem Sinne: Pax vobiscum.

Kunst – Gesellschaft – web2.0. Ein Essay in Teilen – 2. Wilde Zeiten

Goethe fühlt sich wohl. Trägt seine „Werther-Uniform“, blauer Rock, gelbe Hose, gelbe Weste, halbhohe Stiefel. So kleidet sich die Jungend in ganz Deutschland. Genie, Kraft, Gefühl, Natur, Shakespeare sind die Schlagworte der Zeit, der Werther ist Leitbild, jeder will sein wie er, fühlen wie er, ja einige schießen sich tatsächlich wie der unglückliche Werther eine Kugel in den Kopf, den Roman in der Tasche. „Werther-Fieber“ nannte man das. „Werther-Effekt“ nennt man das heute. Der Sturm und Drang als Jugendbewegung, Urahn des Flowerpower, Großvater des Grunge. Allerdings, der Autor lebt, hat sich eben nicht die Kugel gegeben, als er an Liebe und Leben litt. Er Lebt jetzt in Weimar. Und wie!
Goethe ist 26, der regierende Fürst 18. Alles scheint möglich in dem kleinen Fürstentum. Die jungen Menschen am Hof finden sich, die Alten schauen kopfschüttelnd zu. Ein waschechter Generationenkonflikt, mit dem Vorteil auf der Seite der Jungen. Auch hier sind die Alten konservativ, reaktionär, spießig. Aber die höchste Autorität ist der junge Herzog. Also tut man, was man will. Keine übergeordnete Instanz schränkt die jungen Leute ein. Keiner kommt mit dem alten „Tu dies nicht, tu das nicht“ und wohlgemeinte Ratschläge der Alten kann man ignorieren, darin sollte man Übung haben in diesem Alter.
Gezielt provoziert die Jugend, verstößt gegen Etikette. Goethe kommt in seinen groben Wertherstiefeln zur fürstlichen Tafel marschiert, flucht ständig, sodass Charlotte von Stein ihm aus dem Weg geht und glaubt, „Goethe und ich werden niemals Freunde“.
Da sollte sie sich täuschen. Die feine Hofdame beschwert sich über das Verhalten des Dichters:
„…und nun sein unanständ’ges Betragen mit Fluchen, mit pöbelhaften niedern Ausdrücken. Auf sein Moralisches, sobald es aufs Handeln ankommt, wird’s vielleicht keinen Einfluss haben, aber er verdirbt andere.“
Andere, das ist vor allem der Herzog, um den sie sich sorgt. Immerhin soll dieser die Geschicke des Landes lenken, ein sich wie wild aufführender junger Dichter kann da doch kaum ein gutes Vorbild abgeben.
Goethes bringt das Schlittschuhfahren nach Weimar. Man ist begeistert. Läuft nachts auf den Seen, am Ufer stehen Diener mit Fackeln und erhellen die Szene.
Carl August und er sind unzertrennlich in dieser Zeit. Sie reiten durchs Land, knallen vorher mit den Reitpeitschen auf dem Markt. Goethe verletzt sich dabei am Auge, wie er nach Frankfurt schreibt. Mit den Jägern durchstreifen sie das Land, verbringen die Nächte am Lagerfeuer, schwimmen nackt in Flüssen und Seen zum Entsetzen der Landbevölkerung. Treten verkleidet oder unter falschem Namen auf, schäkern mit den Mädchen auf den Dörfern. Immer mehr junge, vor allem „genialische“ Naturen tauchen in Weimar auf, und sei nur für ein paar Wochen. Der Herzog hält sie aus, beschenkt sie, verabschiedet sie wieder. So kommen die Brüder Stolberg, Lenz, Klinger. Gemeinsam poltert man ins Zimmer der Herzogin Luise, die das sehr krumm nimmt, schießt mit Pistolen im Haus, reitet nachts mit weißen Bettlaken bekleidet durchs Land und verschreckt die Bauern. Fällt in Gasthöfen ein, säuft bis zum Umfallen, lässt die Fässer des Gasthauses den Berg hinunterrollen, wirft Gläser an die Wand.
Sie lassen die Tür zum Zimmer der Hofdame Amalie von Göchhausen zumauern. Man amüsiert sich, als man erfährt, dass das arme Ding wie blöd im Haus herumgelaufen ist, ihr Zimmer suchend, und schließlich in einem Zustand arger Verwirrtheit bei einer Freundin auf dem Sofa übernachten musste.
Ein knappes halbes Jahr dauert der Spuk. im Sommer 1776 wird Goethe zum „Geheimen Lagationsrat ernannt“, erhält 1200 Taler Gehalt (nur einer verdient mehr im Herzogtum) und wird gegen heftige Widerstände in das Geheime Conseil berufen, wird also Mitglied der Regierung. Man hat sich offenbar ausgetobt und lässt es jetzt ruhiger angehen.
10 Jahre lang wird sich Goethe nun den Regierungsgeschäften widmen, wird in seiner Liebe zu Charlotte von Stein erstarren und so gut wie nichts schreiben. Erst durch seine Flucht nach Italien wird er diesen Zustand überwinden können.
Auf den ersten Blick mag dieses halbe Jahr dem sinnlos oder vertan erscheinen, der glaubt das Leben bestünde aus Arbeit und ein Leben um des Lebens willen sei ein Widerspruch. In dieser Zeit wird aber der Grundstein gelegt für jenen berühmten Musenhof, der wohl einzigartig in der deutschen Geistesgeschichte sein dürfte. Nicht Wien, nicht Augsburg oder Mannheim, Braunschweig oder Hamburg, sondern in dem kleinen, im Vergleich ärmlichen und abgelegenen Fürstentum im Thüringer Wald finden sich eine Reihe von Künstlern zusammen, die sich gegenseitig inspirieren und motivieren, eingerahmt von einer Gruppe empfindungsfähiger Menschen. Im Rahmen eines absolutistischen Fürstentums bildet sich ein Kreis von Menschen, die versuchen, der Kunst den Primat über das Leben einzuräumen. Der Kreis von Weimar als soziales Experiment.

Carlos Ruiz Zafón – Der Schatten den Windes – Anmerkungen

Homberle hat ja bereits einen schönen Artikel zu diesem Buch geschrieben, dem ich mich in weiten Teilen auch anschließe. Immerhin kann ich mich aus diesem Grund auf ein paar Dinge beschränken, die mir während der Lektüre aufgefallen sind.
Interessant ist auf alle Fälle die Story. Drei Ebenen sind auszumachen. Die Handlung um den jungen Daniel Sempere, die Lebensgeschichte von Julian Carax, der Inhalt von Carax Roman „Der Schatten des Windes“ sowie die Geschichte des Buches, das man Händen hält und das eigentlich „die Nebelburg“ heißen müsste. Diese Ebenen sind, wie von Homberle angedeutet, mit einander und ineinander verschlungen. So entstehen Analogien aber auch Irrwege, was den Roman zu einer sehr anregenden Sache macht. Im Grunde ist dieses Buch auf der ersten Ebene eine Art Adoleszenzroman: Daniels Entwicklung vom Kind zum Mann, er erlebt alle wichtigen Stationen des Erwachsenwerdens, freilich in etwas extremerer Form als andere und findet, leider etwas zu einfach, am Ende seinen Platz im Kreise seiner kleinen Familie. Auf der zweiten Ebene ist das Buch ein Bildungsroman, indem Zafòn der Geschichte Daniels diejenige von Julian Carax unterlegt. Leider, möchte man sagen, findet auch Carax zu seinem inneren Frieden am Ende eines wechselhaften Schicksals, das von Liebe und Hass geprägt ist, ja er findet sogar seine Sprache wieder, schreibt schließlich den Roman, den der Leser in Händen hält. Nicht die Vermischung der Ebenen, die die Ebene des Inhalts am Ende sogar überspringen kann, sondern gerade das mehr als schale Ende, das nur Freunde von massentauglichen Hollywoodfilmen schön finden werden, zerstört viel dem eigentlichen Reiz des Romans und wirft überdies noch ein moralisches Problem auf.
Carax tötet in einem sehr lange hinausgezögerten Showdown Fumero, was keine große Überrraschung ist und aus Sicht des Lesers auch in Ordnung geht, ist Fumero doch ein widerlicher Sadist und Verbrecher. Außerdem aber bringt Carax den Chef seiner „zweiten“ Frau Nurieta Monfort um, der sicherlich kein netter Kerl ist, hat er doch die junge Frau mehr als belästigt. Dieser Mord wird nicht gerechtfertigt und um Carax‘ Hass darzustellen ist dieses inhaltliche Detail viel zu stark und verlangt, wenn schon nicht eine Rechtfertigung so doch zumindest Sühne. Aber auch diese fehlt, ja im Grunde wird diese Untat damit gutgeheißen, dass es Carax am Ende doch gelingt seinen Frieden zu finden und zur Schriftstellerei zurückzukehren. So bleibt dieser Mord als moralisches Problem bestehen, das man höchstens damit erklären kann, dass vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges ohnehin die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Jeder ist verdächtig, jeder hat Geheimnisse, die besser ungesagt bleiben. Einzig Fumero ist in dieser Hinsicht deutlich gezeichnet.
Die Zeit des spanischen Bürgerkriegs sollte den historischen Rahmen des Romans abgeben, aber Zafòn lässt der Beschreibung dieser Umstände zu viel Raum. Sie drängt sich zwischenzeitlich zu sehr in den Vordergrund, um noch als Nebenhandlung oder historisches Kolorit gelten zu können und rüttelt auf diese Weise sehr an der dramaturgischen Integrität des ganzen Romans.
Vielleicht noch ein Wort zu den Personen. Nicht immer gelingt es Zafón seine Figuren plausibel handeln zu lassen. Der zehnjährige Daniel des Beginns spricht nicht wie ein Kind, sondern wie ein vom Leben gezeichneter Held eines amerikanischen Films. Leider zieht sich dieses Problem durch das ganze Buch. Als Beispiel sei nur das erste Gespräch zwischen Fumero und Daniel erwähnt. Obwohl Zafón seinen Protagonisten seine Angst eingestehen lässt, spricht Daniel cool und mit kaum versteckten Zynismus zu Fumero, der wirklich ein abgebrühtes Arschloch ist.
Die Frauenfiguren lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Alle Frauen, zu denen sich Daniel oder Carax hingezogen fühlen, sind engelgleiche Gestalten, irgendwo zwischen Femme fatale und Heiliger Jungfrau einzuordnen. Alle anderen sind brave, einfache Frauen, die sich mit ihrer Rolle als Mutter und Versorger zufriedengeben müssen. Ein bisschen mehr Variation hätte dem Roman gut getan. Mein Lieblingsfigur ist Fermin, der aber doch ein bisschen zu sehr schillert. Ein Charakter von mephistophelischem Witz gepaart mit der Gerissenheit eines James Bond und der Libido eines Don Juan.
Viel zu kurz aber kommt mir leider der „Friedhof der vergessenen Bücher“. Dieses geheimnisvolle Institut hat soviel erzählerisches wie dramaturgisches Potential, dass es traurig ist, mit anzusehen, wie dieser Ort lediglich als Hintergrund der Handlung dient.
Immerhin passt es zum mehr oder weniger literarischen Thema des Buches, dass der Autor es sich nicht nehmen lässt, an zahlreichen Stellen auf andere Autoren der europäischen Literaturgeschichte (wie zum Beispiel Flaubert, Josesph Conrad, Kafka und Brecht) mit leisem Wink hinzudeuten.

Kunst – Gesellschaft – web2.0 . Ein Essay in Teilen – 1. Goethe kommt nach Weimar

1775 kommt Goethe nach Weimar. Der Bürgersohn aus der Freien Reichsstadt Frankfurt, die ihren muffigen Stolz eines autonomen Bürgertums vor sich her trägt, soll nun den Fürstenknecht spielen. Goethes Vater ist dagegen, möchte vielmehr, dass der Sohn wie vor Jahren er selbst nach Italien fährt. Für den Moment scheint es, als habe der Vater gesiegt. Goethe besteigt die Kutsche und reist gen Süden. Nach ein paar fröhlichen Tagen holt ihn ein Brief des Kammerherrn von Kalb in Heidelberg ein.
„Ich packte für den Norden, und ziehe nach Süden, ich sagte zu, und komme nicht, ich sagte ab und komme“, heißt es in Goethes Reisetagebuch vom 30.10.1775.
Der Weg nach Italien führt über Thüringen. Unsicherheit spricht aus den Antithesen dieses Satzes. Die Warnung des Vater, in einen Bibelvers verpackt, eröffnet den kurzen Text. Zwischen den Wünschen des Vaters und der Einladung des Herzogs muss er sich entscheiden. Bürgertum oder Höfische Gesellschaft! Er will aber nicht in Frankfurt bleiben, auch wenn er einige liebe Menschen würde zurücklassen muss. Aber auch Weimar soll nicht für immer sein. Wohin die Reise gehen wird, ist ihm wohl selbst nicht klar in diesen Tagen.
Vom jungen Carl August, dem seit kurzem regierenden Fürsten, eingeladen, trifft Goethe am 7.11.1775 in dem kleinem thüringischen Fürstentum ein. Ein paar Tage später lernt er eine Frau kennen, die sein Leben mehr als zehn Jahren hindurch prägen wird, Charlotte von Stein.
Aber nicht allein den Günstling des jungen Fürsten zu geben, soll seine Aufgabe sein, nein, er soll in den Staatsdienst eintreten und neben seiner Schriftstellerei Politik und Verwaltung des kleinen Herzogtums mitgestalten. Eine große Aufgabe für einen 26-jährigen mittelmäßigen Juristen, auch wenn er im Moment der Stern am wolkenverhangenen Himmel der europäischen Literatur ist. Nicht Hofdichter, nicht Gründer und Mittelpunkt eines Musenhofes, Beamter soll er sein. Seine Art, seine Orginalität, sein Genie, wie es die Zeit nennt, soll dem 18-jährigen Herzog beiseite stehen, das ganze Staatswesen beleben. Und wenn der Herzog profitiert, so geht es auch den Untertanen besser. So jedenfalls in der Theorie des aufgeklärten Absolutismus.
Was soll`s. Die erste Zeit ist ohnehin eine des Kennenlernens. Mal schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Gehen kann man immer. Zur Not flüchten – aber das wird noch elf Jahre dauern.
Mit Wieland hat er sich schon angefreundet. Der ist ganz begeistert von ihm, alle früheren Vorbehalte gegen den Fremden mit einem Lächeln beiseite wischend: „Goethe, den wir seit neun Tagen hier besitzen, ist das größte Genie, und der beste, liebenswerteste Mensch, den ich kenne…“
Auch wenn er nicht für immer bleiben will (er wird es bekanntlich dennoch tun…), auch wenn der junge Mann nicht so recht weiß, was aus ihm selbst werden soll, in Weimar gefällt es ihm bald so gut, dass er im Dezember seinen Freund Herder in Thüringische zu lotsen versucht:„Lieber Bruder der Herzog bedarf eines General Superintendenten, hättest du die Zeit deinen Plan auf Göttingen geändert, wäre hier wohl was zu thun. Schreib mir ein Wort. Allenfalls ist auf die Veränderlichkeit der Zukunft ein Blick hierher. Leb wohl. […] Mir ists wohl hier, in aller Art. Wieland ist eine brave Seele und die Fürstenkinder edel lieb und hold.“
Zuversicht also. Die alten Zweifel verstummen im wirbelnden Neuen. Und in Weimar geht’s rund in den kommenden Monaten.
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