Sicher nicht unbedingt ein Werk für jeden, gerade deshalb aber genau richtig an diesem Platz. Für jemanden, der kein Historiker ist, mögen die mehr als 3000 Seiten sicherlich abschreckend wirkend und manche Passagen sind wohl in der Tat nicht jedem bloß historisch Interessierten eine angenehme Lektüre sein, obwohl das gesamte Werk durchgehend von hoher literarischer Qualität ist. Nicht umsonst bekam Mommsen dafür im Jahre 1902 den Nobelpreis für Literatur verliehen.

Inhaltlich umfassen die 8 Bände der vorliegenden, vollständigen Ausgabe des dtv-Verlages, die aber im Moment leider vergriffen ist, die Geschichte Roms von der Gründung bis zum Mord an Caesar. Der siebte Band umfasst eine ausführliche Darstellung der Geschichte der römischen Provinzen im Kaiserreich, mit der Mommsen seine Römische Geschichte auf vielfachen Wunsch fortgesetzt hat. Allerdings fügt sich dieser letzte Band nicht nahtlos in das vorige Werk. Mommsen wollte wohl den Abschnitt der römischen Geschichte umgehen, den Gibbon 75 Jahre zuvor in seinem nicht weniger großartigen Werk über den „Verfall und Untergang des römischen Imperiums“ dargestellt hat. Sicherlich ließen sich chronologische Überschneidungen nicht vermeiden, aber diese sind natürlich unerheblich. Über Gibbon werden in Kürze an dieser Stelle noch ein paar Worte mehr zu verlieren sein.

Mommsens Römische Geschichte ist nicht nur ein bedeutendes Sprachdenkmal und ragt somit seit 150 Jahren über alle anderen historischen Veröffentlichungen in deutscher Sprache (Friedell mal ausgenommen, wenn man ihn denn einen Historiker nennen möchte) hinaus. Sie ist das großartige Zeugnis eines Geistes, der wie kein anderer die zahlreichen Hinterlassenschaften des antiken Rom in all seinen verschiedenen Ausprägungen, die sich über beinahe das gesamte Europa, Nordafrika, den Nahen Osten bis nach Sri Lanka erstrecken, durchdrungen hat. Sicherlich sind einige seiner Erkenntnisse heutzutage wohl nicht mehr haltbar bzw. sogar durch neu aufgefundene Beweise archäologischer oder anderer Art widerlegt, aber wenn dieses Problem bei Mommsen häufiger aufzutreten scheint als bei anderen, dann liegt das nur zum geringeren an der langen Zeit, die seit der Abfassung in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts, vergangen ist, sondern einfach an der Tatsache, dass Mommsen sich traut, zu urteilen; ein seltener Mut unter Historikern, vor allem unter den modernen.

Sicherlich kann man hinter diesem Mut auch den Geruch des Positivismus wittern, was aber nur in den Kontext der Entstehung passt. Aber dieser Vorwurf ist nebensächlich, vor allem wenn man das Werk unter zeitgeschichtlichen Aspekten liest. Mommsen war politisch ein streitbarer Mann, der dem damals herrschenden System kritisch gegenüberstand. So sind vor allem die Passagen, in denen er die Verdorbenheit der Senatoren oder die Prunksucht und die Willkürherrschaft der Kaiser kritisiert, auch im Abstand von mehr als 150 Jahren als deutliche Seitenhiebe auf die sozio-politischen Umstände seiner Zeit (48er Revolution, nationale Einheit Deutschlands unter Preußens Führung) zu erkennen. Seine Sympathien gelten vornehmlich dem hart arbeitenden Bürgern, nicht dem städtischen Pöbel, aber in seinem abgewogenen Urteil findet auch mancher Söldnerführer, Feldherr oder Kaiser sein Recht. Der Größte von allen ist ihm aber Caesar, den er als den alles überblickenden, alles beherrschenden Geist zeichnet, der die marode Republik nach jahrzentelangem Bürgerkrieg auf dem Weg über die Diktatur in die Monarchie führte. Dass der Stern Roms unter der Herrschaft der Kaiser langsam aber unaufhaltsam zu sinken beginnt, ist nicht Caesars Schuld, sondern vor allem die seiner Mörder. Caesar konnte sein Werk nicht mehr vollenden, so dass die substantiellen Probleme des römischen Staates nicht bereinigt, sondern höchstens für gewisse Zeit überdeckt werden konnten.

Aus heutiger Sicht muss man Mommsen den Vorwurf machen, dass er in der Beschreibung antiker Verhältnisse moderne Begriff einfließen lässt. So nennt er die Zusammenschlüsse von Handwerkern „Gewerkschaften“, die reichen Angehörigen des Ritterstandes „Kapitalisten“ usw. Diese Begriffe schaffen eine manchmal suggestive Nähe von Antike und Moderne, bei der einem nicht immer wohl ist. Dennoch steht für ihn die Geschichtsschreibung keineswegs wie für Treitschke und Ranke unter dem Primat politisch motivierter Publizistik; sie bleibt engagierte Darstellung des historischen Ereignisses unter Wahrung größtmöglicher Sachlichkeit. Das schließt das subjektive Urteil nicht aus, zumal sich dieses vor allem da zeigt, wo Mommsen wie jeder Historiker in die Zukunft blickt und in dieser Projektion die eigentlich bedeutenden Momente menschlicher Geschichte erkennt, Freiheit und Demokratie:

„Nach dem gleichen Naturgesetz, weshalb der geringste Organismus unendlich mehr ist als die kunstvollste Maschine, ist auch jede noch so mangelhafte Verfassung, die der freien Selbstbestimmung einer Mehrzahl von Bürgern Spielraum läßt, unendlich mehr als der genialste und humanste Absolutismus; denn jene ist der Entwicklung fähig, also lebendig, dieser ist, was er ist, also tot.“

Angesichts der von Krieg, Zerstörung, Willkür, Gier, Eitelkeit, Ehrsucht und Neid angetriebenen und sich immer weiter durch die Jahrhunderte wälzenden Geschichte der menschlichen Zivilisationen scheint man in diesem Satz fast eine Spur Hegelscher Teleologie auszumachen. Auf jeden Fall klingt dieser Satz angesichts des vielen Leids, von dem Mommsen in diesem acht Bänden erzählt, vielleicht nicht hoffungsvoll, aber auf jeden Fall ein wenig tröstlich.


0 Kommentare

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

%d Bloggern gefällt das: