Normalerweise vertraue ich fast ausschließlich dir Lynkeus, wenn es um die Empfehlung von Literatur geht Ich habe eine Ausnahme gemacht – und wurde nicht enttäuscht.

Barcelona, vierziger Jahre. Daniel ist ein Heranwachsender, seine Mutter starb, sein Vater ist Buchhändler. Als dieser die Zeit für richtig hält, führt er seinen zehnjährigen Sohn zum Friedhof der vergessenen Bücher. Schier endlose, verzweigte, verwinkelte Gänge und Gassen, bis an die steinernen Decken gefüllt mit abertausenden Büchern. Ein Geheimnis. Jeder, der es entdecken darf, übernimmt die Patenschaft für eines von ihnen und muss dafür sorgen, dass es niemals in Vergessenheit gerät. Daniel entscheidet sich für „Der Schatten des Windes“ eines gewissen Julian Caráx und liest es in einer Nacht. Die inhaltliche Geschichte des Buches wird nie wirklich behandelt, vielmehr treten ab jetzt die Hintergründe der Entstehung und vor allem die Geschichte rund um Julian Caráx in den Vordergrund. Mit dem Zeitpunkt, an dem Daniel das Buch zum ersten mal beiseite legt, beginnt die Verschmelzung zwischen ihm, Caráx und dem Schatten des Windes.
Er begibt sich, getrieben von kindlicher Entdeckungslust, auf die Suche nach Hintergründen und Antworten, die er hofft, vom Autor des für ihn so prägenden Werkes zu finden. Immer verwirrender – sowohl für den Leser, als auch für den Protagonisten – werden die Entwicklungen und Zusammenhänge, die ihn auf der Reise begleiten. Jedesmal wenn er denkt, er käme dem Geheimnis rund um die Existenz Caráx´ einen Schritt näher, tun sich vor ihm weitere Verzweigungen, Abgründe und Verwirrungen auf, die ihn jedoch nicht davon abhalten, weiterzuforschen.

Der Autor bedient sich bei der Beschreibung dieser Suche einer wunderschönen Sprache. Selbst Belanglosigkeiten lesen sich wie Liebesgedichte an eine Unbekannte ohne jemals übertrieben oder gar unpassend zu wirken. Längen, die das Buch inhaltlich sicher hat, werden so fast unmerklich kompensiert und fallen nicht wirklich auf. Genau das ist eine der großen Stärken des Romans. Man achtet zeitweise gar nicht mehr auf die Geschichte, gerade wenn sie sich in zu viele Details verliert, sondern lässt sich treiben von den Worten unbeschreiblicher Schönheit.

Unzählige Bekannte, Freunde, Liebschaften, säumen den Weg Julian Caráx´, alle sind fasziniert auf die ein oder andere Weise von seinem Wesen, seinem Schaffen und seiner selbstzerstörerischen Lebensweise. Die unbedingte Liebe zum Leben und seinen Widrigkeiten stehen nur scheinbar im Widerspruch zu seinem Tun, denn eigentlich ist er auch nur auf der Suche nach der bedingungslosen Liebe, die er zwar findet, aber sofort wieder verliert. Diese Tatsache macht den sowieso schon Verwundeten zum Getriebenen. Carax verschwindet und macht sich für alle unsichtbar. Nicht für Daniel. Es gelingt ihm, die Spuren des vermissten Autors zu lesen und zu deuten. Die Antworten, die er so verzweifelt sucht, findet er aber nicht. Vielmehr findet er sich immermehr im Leben und der Geschichte des ihm eigentlich Unbekannten wieder. Verschmolzen mit Geschehnissen, die er gar nicht kennen dürfte, erlebt er die Geschichte des Buches, das er einst las, als sei es seine eigene. Selbst der Leser findet immer mehr Parallelen, die Zafón dazu benutzt, den Leser in falsche Folgerungen zu treiben. Dies gelingt ihm ausgezeichnet, denn jedesmal wenn man denkt, man habe ihn durchschaut, überrascht er mit einer Wendung.

Die auftretenden Charaktäre wirken alle glaubwürdig und schlüssig ohne langweilig zu sein und in ein zu offensichtliches Schema zu passen. Manches ist vorhersehbar, jedoch mit dem entsprechenden Geschick so verpackt, dass es nicht platt wirkt. Einzig die zunehmende Verschmelzung der Geschichten vermittelt manchmal einen zu konstruierten Eindruck.

Ein Roman, der definitiv lesenswert ist, nicht nur durch die sprachliche Schönheit sondern – oder auch gerade durch die inhaltlichen Stolperfallen, die der Autor bewusst stellt und in die man gerne tritt. Einzig das Ende ist nicht gebührend, zu platt und zu weich, leider ohne offene Fragen.


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