Philip Kerr – March violets

An einem Sonntag in Aberdeen fiel mir in einem Waterstone’s in der Anteilung “Scotish writers” die Trilogie Berlin noir von Philip Kerr in die Hände. Eigentlich war ich auf der Suche nach ein paar Bänden von Stuart MacBrides Krimis, die in Aberdeen spielen. Die Schotten schauen schon sehr genau hin, wer zu ihnen gehört. Kerr ist gebürtiger Schotte, lebt aber, soweit ich weiß, schon seit Längerem in London. Also steht er mit vollem Recht in der Ecke der schottischen Autoren.

Shakespare mal wieder – 2 – Richard III.

Ende August werden wir wieder London besuchen, auch dieses Mal wieder das Globe Theater.

Waren vor zwei Jahren alle Shakespeare Stücke ausverkauft, so konnten wir in diesem Jahr Karten für Richard III. Ergattern. Ein großartiges Stück, dem ich den Vorrang vor dem „wahnsinnigen“ Hamlet gegeben habe, für den auch noch Karten zu haben waren. Vor allem weil dieses Stück nicht den „normalen“ Regeln der Gattung folgt, sondern von Anfang an offen ausspricht, was geschehen wird. Gleich zu Beginn des Stückes hören wir von Richards (zu diesem Zeitpunkt noch Herzog von Gloster) Plan. Diesen habe ich ja gestern schon zitiert ( in der Übersetzung von Schlegel): http://rauschi.tv/blog/?p=941

Er, der für ein Leben am Hof nicht gemacht ist, hat im gerade beendeten Bürgerkrieg seine Bestimmung gefunden. Politik, Intrige, Heimtücke und Mord sind seine Sache. Er war maßgeblich daran beteiligt, dass sich das Haus York im blutigen Ringen um die Krone durchsetzen konnte. Sein Bruder Edward ist König, sein anderer Bruder Clarence ist der erste Mann im Staat. Jetzt könnte der Frieden kommen, aber das ist Richards Sache nicht, wie er im ersten Teil seines Monologs erzählt. Schon seine Physis ist einem königlichen Hof nicht angemessen. Richard ist körperlich behindert, deformiert. Die Art und Weise wie er sein eigenes Äußeres beschreibt, weist auch auf psychische Deformiertheit hin. Wie viel Ekel und Abscheu liegt nicht den Worten über seine eigene Erscheinung. Er fühlt sich marginalisiert in einer Welt der Schönheit und der Galanterie. Und weil er nicht dazu gehört, strebt er nach dem, was allein ihm Anerkennung schaffen könnte: Macht. Der Fatalismus, der in diesem Gedanken steckt, ist deutlich. Wenn er die Macht nicht erlangen kann, dann hätte er auf seinem Weg dahin immerhin diese so schön scheinende Welt des Hofes zerstört. Denn alle, die ihm im Weg stehen, müssen weichen. Die Mittel dazu sind nicht egal. Sie sollen böse sein, hinterhältig, blutig. Ein tiefsitzender Hass ist das, nicht bloß Neid.

Wer steht ihm im Weg? Zuerst sein Bruder, der König. Dann der andere, ältere Bruder. Mit ihnen die Frauen, Margaret, Elisabeth sowie die Prinzen und Nachfolger, eben alle, die ihm den Thron streitig machen könnten. Jene will er gegen einander hetzen, diese ein für alle Mal aus dem Weg räumen. Ohne jetzt den ganzen verwickelten Plot zu referieren, nur dies: es funktioniert. Richard wird König, aber am Ende wird er wahnsinnig, glaubt seinen Gegner Richmond sechsfach und wird von diesem schließlich überwunden.

Wo aber soll denn jetzt das Tragische liegen? Wohl niemand wird ernsthaft mit Richard Mitleid haben, wie es die traditionelle Dramatheorie verlangt. Richard bekommt, was er verdient. Und reinigt diese Tragödie von Furcht, der anderen Seite der theoretischen Medallie? Wohl kaum. Der Reiz der Tragödie liegt doch darin, dass man einen Menschen vor sich sieht, der einen gemischten Charakter hat, der schlechte Seiten haben mag, aber eben auch eine gute hat und sei diese noch so unscheinbar. Wenn solch ein Mensch scheitert, weil „das Eigentümliche [seines] Ichs mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammen stößt“, d.h. modern gesprochen sein persönlicher Lebensentwurf am Schicksal zerschellt, dann mag man mitleiden und Sympathie haben mit einer solchen Figur.

Richard gehört nicht zu dieser Art Figuren.

Er ist zerfressen von einem Hass, der zwar gegen seine Umwelt gerichtet ist, aber im Grunde nur Selbsthass ist. Denn wen lässt er umbringen? Doch hauptsächlich seine Familie (auch wenn Familienbande im Hochadel nicht unbedingt sehr eng sein müssen), seine ehemaligen Weggefährten. Je unnachgiebiger er sein Ziel mit wachsendem Hass verfolgt, desto weniger werden die, die aus irgendwelchen Gründen zu ihm gehalten haben. Und in der Nacht vor der entscheidenden Schlacht gegen Richmond bedrängen ihn im Schlaf die Geister seiner Opfer. Ein Rest von Gewissen meldet sich, aber auch die Erkenntnis, dass er keine Gnade will. Sein letztes Bekenntnis gipfelt einem Satz, der den wahren Grund für seine gestörte Persönlichkeit und seine grausamen Taten angibt: kein Geschöpf liebt mich. Dieser letzte Monolog ist es ebenfalls wert, zitiert zu werden:

„Ein andres Pferd! verbindet meine Wunden!

Erbarmen, Jesus! – Still, ich träumte nur.

O feig Gewissen, wie du mich bedrängst! –

Das Licht brennt blau. Ist’s nicht um Mitternacht?

Mein schauerndes Gebein deckt kalter Schweiß.

Was fürcht ich denn? mich selbst? Sonst ist hier niemand.

Richard liebt Richard: das heißt, Ich bin Ich.

Ist hier ein Mörder? Nein. – Ja, ich bin hier.

So flieh. – Wie? vor dir selbst? Mit gutem Grund:

Ich möchte rächen. Wie? mich an mir selbst?

Ich liebe ja mich selbst. Wofür? für Gutes,

Das je ich selbst hätt‘ an mir selbst getan?

O leider, nein! Vielmehr haß ich mich selbst,

Verhaßter Taten halb, durch mich verübt.

Ich bin ein Schurke – doch ich lüg, ich bin’s nicht.

Tor, rede gut von dir! Tor, schmeichle nicht!

Hat mein Gewissen doch viel tausend Zungen,

Und jede Zunge bringt verschiednes Zeugnis,

Und jedes Zeugnis straft mich einen Schurken.

Meineid, Meineid, im allerhöchsten Grad,

Mord, grauser Mord, im fürchterlichsten Grad,

Jedwede Sünd‘, in jedem Grad geübt,

Stürmt an die Schranken, rufend: Schuldig! schuldig!

Ich muß verzweifeln. – Kein Geschöpfe liebt mich,

Und sterb ich, wird sich keine Seel‘ erbarmen.

Ja, warum sollten’s andre? Find ich selbst

In mir doch kein Erbarmen mit mir selbst.

Mir schien’s, die Seelen all, die ich ermordet,

Kämen ins Zelt, und ihrer jede drohte

Mit Rache morgen auf das Haupt des Richard.“

Das Streben nach Äußerlichkeiten ist mehr als nur der Wunsch nach Luxus, Geld, Macht. Es ist ein Suchen nach etwas, das man in sich selbst suchen sollte, aber vom ungebändigten Egoismus oder der ungezügelten Egomanie verschüttet ist, oder wie in Richards Fall, gar nicht vorhanden ist.

Die viel weniger grausamen, weil weniger blutigen Ableger mag man heute in denen finden, die nach immer mehr verlangen, wo sie doch schon mehr als genug besitzen, die ohne Rücksicht ihrem Egoismus oder dem ihrer scheinbaren sozialen Schicht folgen, um etwas zu kompensieren, dessen Verlust sie selbst nicht (oder nicht mehr) wahrnehmen können. Vielleicht liegt hier das Tragische Moment des Stückes. Gerade dadurch dass Shakespeare den Leser bzw. Zuschauer zum Komplizen Richards macht, indem der Leser zum stummen Zeugen von dessen Plänen wird, liegt das Befremdliche für uns. Es erinnert uns daran, dass wir alle viel zu sehr nach Dingen streben oder an ihnen hängen, die nichts bedeuten verglichen mit dem, was wir dafür opfern.

Shakespeare mal wieder – 1 – Richard III

Aus gegebenem Anlass heute nur ein Zitat. Es handelt sich hierbei um den Eingangsmonolog aus Shakespeares „Richard III“.

Hausaufgabe: bis morgen lesen die Kernaussage herausarbeiten 🙂

„Nun ward der Winter unsers Mißvergnügens
Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks;
Die Wolken all, die unser Haus bedräut,
Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben.
Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze,
Die schart’gen Waffen hängen als Trophä’n;
Aus rauhem Feldlärm wurden muntre Feste,
Aus furchtbarn Märschen holde Tanzmusiken.
Der grimm’ge Krieg hat seine Stirn entrunzelt,
Und statt zu reiten das geharn’schte Roß,
Um drohnder Gegner Seelen zu erschrecken,
Hüpft er behend in einer Dame Zimmer
Nach üppigem Gefallen einer Laute.
Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,
Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln;
Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajestät
Vor leicht sich dreh’nden Nymphen mich zu brüsten;
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, hink ich wo vorbei;
Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
Weiß keine Lust, die Zeit mir zu vertreiben,
Als meinen Schatten in der Sonne spähn
Und meine eigne Mißgestalt erörtern;
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden
Und feind den eitlen Freuden dieser Tage.
Anschläge macht‘ ich, schlimme Einleitungen,
Durch trunkne Weissagungen, Schriften, Träume,
Um meinen Bruder Clarence und den König
In Todfeindschaft einander zu verhetzen.
Und ist nur König Eduard treu und echt,
Wie ich verschmitzt, falsch und verräterisch,
So muß heut Clarence eng verhaftet werden,
Für eine Weissagung, die sagt, daß G
Den Erben Eduards nach dem Leben steh‘.
Taucht unter, ihr Gedanken! Clarence kommt.“

Umberto Eco – Der Friedhof in Prag

Zu Ecos neuem Roman ist viel geschrieben. Deshalb beschränke ich mich auf ein paar Anmerkungen zu dem Roman. Es macht immer Spaß, einen Eco zu lesen, wenn man historisch interessiert ist. Zwar fehlt dem Roman die unheimliche Anziehungskraft, die das fremde Mittelalter im „Namen der Rose“ ausstrahlte, dennoch sind die historischen Ereignisse um die nationale Einigung Italiens oder die innenpolitischen Wirrungen Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts spannend, zumindest für den Historiker. Der Vorteil dabei ist die Authentiztät der Ereignisse, die der Leser historischer Romane meistens entbehrt, da sie, wenn überhaupt, nur die Kulisse bilden für ein neumodisches Rührstück wie zum Beispiel Folletts „Säulen der Erde“.

Der Roman erzählt die mutmaßliche Entstehung der Protokolle der Weisen von Zion, jenes antisemitischen Hetzbuches, das eine bedauerliche Karriere im 20. Jahrhundert gemacht hat ( u. a. Hitler führt es in „Mein Kampf“ an). Schon 1921 wurde diese Buch als Fälschung enttarnt, das hat dem Buch aber nichts von seiner Anziehungskraft auf bestimmte Kreise genommen. Der Roman erzählt in etwas gestelzter Form (Persönlichkeitsspaltung des Protagonisten, Tagebuchform + Erzählerkommentar) das fiktive Leben des fiktiven Autoren der Protokolle. Simon Simonini ist eine durchweg böse und niederträchtige Person und Eco gibt sich sichtlich Mühe ihn so schurkisch und rücksichtslos wie nur möglich zu zeichnen. Dennoch entsteht kein Superbösewicht, sondern nur ein kleiner, kranker Gauner, für den man aber keinerlei Sympathie empfindet. Wieso auch. Die Charakterzeichnung von Simonini als Rmpelstilzchen des Antisemitismus ist gelungen. Hier musste Eco vorsichtig sein, denn auf keinen Fall durfte auch nur der Hauch von Sympathie für dieses verkommene Subjekt erregt werden. Bei der Behandlung dieses schwierigen Themas wäre das literarischer Selbstmord gewesen. Eco erreicht sein Ziel, indem er jeden Anflug von Tragik oder Größe bei seinem Helden vermeidet. Man kennt die Schwäche der Menschen für große Bösewichte in der Literatur (Stichwort Darth Vader, Richard III., Lord Voldemort). Allen großen bad guys wohnt eine gewisse Tragik inne, die sie zu dem gemacht hat, was sie wurden. Hierin liegt vielleicht die Quelle unserer ambivalenten Einstellung zu diesen Figuren, die zwischen Abscheu und Faszination schwankt. Man meint hierin eine Tragik zu erkennen, die bis ins antike Drama zurückreicht (auch wenn man vielleicht keine allzu strengen moralischen Qualitäten in den Helden des antiken Dramas suchen sollte). Simonini fehlt jegliche Tragik und jeglich Größe, deshalb empfinden wir keine Sympathie mit ihm.

Neben den historischen Ereignissen zeichnet Eco in der  Person des Protagonisten eine Kulturgeschichte der Paranoia nach, die sich in wild wuchernden Verschwörungstheorien Luft macht. Geheimdienstler, Kirchenleute (Jesuiten), Freimaurer, Juden, Kommunisten usw. trachten den Gegnern nach dem politischen Leben und nehmen Gerüchte und Fantastereien als bare Münze. Alle verbreiten Unwahrheiten über die anderen, und doch glauben alle wiederrum die Schauermärchen, die über den Gegner erzählt werden. Man könnte den Roman auch als Parabel auf den modernen Geheimdienst lesen.  Das Erschreckende ist, dass alle Theorien, wie auch alle Personen, außer Simonini, existiert haben. Somit ist alles wahr, was hier zu lesen ist. Erschreckend ist aber auch, dass Eco sich von seinem Interesse für die Hermeneutik und Semiotik der Verschwörungstheorien hat fortreißen lassen und der Roman zunehmend zu einem Lesebuch des Irrationalismus verkommt, das von einer schwachen erzählerischen Klammer zusammengehalten wird.

 Hoffentlich bleibt diesem Buch das Schicksal erspart, denen als Beleg für Wahrheiten zu dienen, die vernüftige Menschen längst als Lüge erkannt haben.

Arno Schmidt – Zettels Traum

Jahrelang habe ich mit mir gerungen. Hier ist es nun endlich. Riesig, unhandlich, unfassbar im wörtlichen Sinne, was die äußeren und die inhaltlichen Ausmaße angeht. Ob ich es je ganz lesen werde? Ich werde es versuchen. Hier nur ein paar Fotos. Ich habe einen Band der Münchner Goetheausgabe daneben gelegt, um die Ausmaße des Bandes deutlich werden zu lassen. Ich hab‘ schon bessere Bilder gemacht, ich geb’s zu. Aber das musste jetzt einfach noch raus

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„Die Wahrheit über Arnold Hau“.

Wir haben es drei mutigen Männern zu verdanken, dass sie das vielfältige Schaffen von Arnold Hau einem breiten Publikum zugänglich machten. Hau gehört zu den großen Unbekannten, zu den Nicht-vergessenen, denn niemand der Kulturschaffenden nahm ihn wahr. Hau wirkte im Verborgenen und es ist durchaus ungewiss, ob er mit dieser Herausgabe seiner Werke einverstanden gewesen wäre. Aber hat nicht auch Max Brod den Wunsch seines Freundes Kafka, seine Werke zu vernichten, nicht erfüllt, zum höheren Wohle der menschlichen Kultur und zum Leidwesen vieler Gymnasiasten? Manchmal fehlt einem Künstler eben die Distanz zum eigenen Werk.

Zum 200. Todestag von Heinrich von Kleist 18.10.1777 – 21.11.1811

Heute vor genau 200 Jahren setzte Heinrich von Kleist am kleinen Wannsee seinem Leben ein Ende. Er ging nicht allein. Heinriette Vogel, an Krebs erkrankt, wollte mit ihm zusammen sterben. Er schoss zuerst ihr in die Brust, dann sich selbst in den Mund.  Vorher ordneten sie ihre Verhältnisse und hinterließen in einem Gasthaus Abschiedsbriefe und einen Koffer mit einigen Hinterlassenschaften. Kleist machte keine Angaben, wie mit seinem Leichnam zu verfahren sei. Henriette Vogel dagegen wollte mit Kleist zusammen beerdigt werden. Sie gab darüberhinaus in ihrem letzten Brief “ […]eine recht schöne blaßgraue Tasse, inwendig vergoldet, mit einer goldnen Arabeske auf weißem Grunde zum Rand, und am Oberkopf in weißem Felde meinen Vornamen, die Fasson wie sie jetzt am modernsten ist“[…] in Auftrag, die ihrem Ehemann Friedrich Ludwig Vogel „am Weihnachts-Heiligabend“ zugestellt werden sollte (Kleist, Werke, hrsg. v. H. Sembdner Bd.2, 888f).

Hundertfach ist der folgende Brief bereits an Jahrestagen oder zu ahnlichen Ereignissen zitiert worden. Dennoch sei er hier heute noch einmal angeführt:  An seine Schwester Ulrike schreibt Kleist am 21.11.1811:

„Ich kann nicht sterben, ohne mich, zufrieden und heiter, wie ich bin, mit der ganzen Welt, und somit auch, vor allen Anderen, meine theuerste Ulrike, mit Dir versöhnt zu haben. Laß sie mich, die strenge Äußerung, die in dem Briefe an die Kleisten enthalten ist laß sie mich zurücknehmen; wirklich, Du hast an mir gethan, ich sage nicht, was in Kräften einer Schwester, sondern in Kräften eines Menschen stand, um mich zu retten: die Wahrheit ist, daß mir auf Erden nicht zu helfen war. Und nun lebe wohl; möge Dir der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit dem meinigen gleich: das ist der herzlichste und innigste Wunsch, den ich für Dich aufzubringen weiß.

Stimmings bei Potsdam.  d. – am Morgen meines Todes.

Dein Heinrich.“

(Kleist, Werke, hrsg. v. H. Sembdner Bd.2, 887)

Erik Reger – Union der festen Hand

Unter dem Pseudonym Erik Reger veröffentlichte Hermann Dannenberger 1931 den Roman „Union der festen Hand“. Ausgehend von seiner langjähriger Arbeit in der Presseabteilung der Friedrich Krupp AG  legt er auf 500 Seiten die Anatomie des Kapitalismus  zur Zeit der Weimarer Republik frei. Er zeigt in die Realität kaum verhüllender Form die Machenschaften der Krupps und ihrer Geschäftspartner, die Verstrickungen der Firmen in die Politik, die Manipulation der Presse und den berechnenden Umgang mit der eigenen Belegschaft in epischer Breite und in überwiegend journalistischem Ton. Den Kapitalisten, die von einer Clique immer wieder auftauchender Figuren repräsentiert werden, stehen die Arbeitnehmer gegenüber, die sich ihrerseits in Angestellte, Arbeiter und deren Angehörige einteilen lassen. Den Kapitalisten gehört die Sympathie des Autors nicht. Sie werden durchweg  als arrogant, hochmütig, berechnend, zynisch, egoistisch und profitgierig dargestellt. Und ihre Handlungen bestätigen dieses Bild vollends. Der Unternehmer strebt nach Profit, dieser ermöglicht Macht, diese ermöglicht Einfluss, dieser wird zum Zwecke der Profitsteigerung eingesetzt, womit sich der Kreis schließt. Dieser Mechanismus ist wohl auch dem einfältigsten Occupy-„Aktivisten“ klar und gehört zu den Urweisheiten des angewandten Kapitalismus. Das macht ihn aber deshalb noch nicht banal, im Gegenteil. Dieses Axiom des Kapitalismus gilt für jeden Bereich, der Geschäfte macht und durch die reine Größe und den Einfluss der Unternehmung eine Gesellschaft beeinflusst, ganz egal, ob es sich um riesige Montan- oder Schwerindustriekonzerne handelt, wie im vorliegenden Beispiel, oder um Banken wie im Moment.

Was aber wesentlich aufschlussreicher ist, ist der Umgang der Unternehmer miteinander. Reger zeichnet ein schizophrenes System nach, der einerseits auf Konkurrenz zu basieren scheint, andererseits aber gleichzeitig von gemeinsamer Kumpanie  und profitorientierter Solidarität (wenn man das so nennen kann) geprägt ist. Man bildet Allianzen, um Preise, Einflusssphären oder Absatzmärkte gegen Konkurrenz zu sichern. Ein paradoxer Kreislauf, dessen Logik nicht so leicht nachzuvollziehen ist. Es gibt nicht einmal einen gemeinsamen Feind, von den Kommunisten, Sozialdemokraten und den Gewerkschaften mal abgesehen. Mal wird einer zum Konkurrent, der eben noch ein Verbündeter war und umgekehrt. Der Feind ist alles, was den Profit mindert.  Große Anstrengungen legt die aus Gründen der Profitmaximierung gegründete Union der festen Hand, die aus den größten Kohle- und Stahlwerken (sowie aus einigen weiteren Konzernen) besteht, an Tag, wenn es darum geht, die Arbeitnehmervertreter klein zu halten oder durch vorgeblich gemeinnützige Taten soziales Profil zu entwickeln. Dies geschieht hauptsächlich über massive Manipulation der öffentlichen Meinung durch Werbung, wissenschaftliche Veröffentlichungen, durch gezielt platzierte Propaganda in verschiedensten Organen. Auch das ist  nichts historisch Singuläres. Man denke doch einen kurzen Augenblick an die schönen Werbespots der Energierwirtschaft, die saubere Technologien zur Energiegewinnung für sich beanspruchen, von denen keine einzige mehr ist als eine Powerpoint-Präsentation bei „Jugend forscht“ (Stichwort Gezeitenkraftwerk der RWE).

 Bei allem offensichtlichen Abscheu gegen den Kapitalismus im Allgemeinen kommt allerdings auch die Arbeitnehmerschaft  nicht gut weg. Adam Griguszies ist so etwas wie der Protagonist der Arbeiterschaft, denn ihn verfolgt man über manchen Etappen durch den ganzen Roman hindurch. Ihm gehört noch die meiste Sympathie des Autors. Dem Rest der Arbeiterschaft bescheinigt Reger kleinbürgerlichen Ehrgeiz, es besser haben zu wollen als der Nachbar, fehlende Solidarität untereinander, Streitsucht, Eigennutz, Unwissenheit und das Verharren in schlichtesten Denkmustern, das sich sprachlich im Wiederholen von Redewendungen und Phraseologismen niederschlägt. Im Grunde sind Unternehmer und Arbeiter vom gleichen Schlag. Das ist antrophologisch gesehen doch immerhin positiv.

Mit der Zeit tauchen auch die Nazis auf der politischen Bühne auf, und einige der Unternehmer ergreifen die scheinbare politische Alternative, um sie für ihre Zwecke einzuspannen wie die übrigen Parteien auch. Man hat Reger vorgeworfen, dass er die massive Zunahme des Einflusses der Nationalsozialisten auf die Unternehmer nicht im richtigen Maß erfasst hat. Ich denke, man kann ihm diesen Vorwurf nicht machen, ohne zu bedenken, dass die großen Unternehmer erst  nach der Machtergreifung (oder zumindest erst sehr kurz vorher) Hitler in die Arme gefallen sind. Auf diese Art von politischer Toleranz, jedes System anzunehmen, solange es einem gute Profite ermöglicht, hingewiesen zu haben, ist allerdings ein Verdienst von Reger.

Im Ganzen gesehen ist dieser sehr dokumentarische Roman also zuerst als ein Schwarzbuch des Kapitalismus zu lesen. Man kann ihn aber auch als eine Eschatolgie der Moderne lesen, die sich im Taumel der kapitalistischen Ersatzreligion im Egoismus aller und im Gewinnstreben einiger weniger selbst zerfleischt.

Nietzsches Jungendschriften

Zwischen dem 18. August und dem 1. September 1858 schreibt der 14-jährige Friedrich Wilhelm Nietzsche einen Text, der den Titel „Aus meinem Leben – I. Die Jugendjahre“ trägt. Nein, nein keine Angst, das soll nicht der Aufhänger sein, um Autobiographien „jugendlicher“  „Berühmtheiten“ zu besprechen oder mit dem Vorbild aus dem 19. Jahrhundert zu vergleichen, auch wenn es sicherlich interessant wäre, Nietzsches Jugendschriften mit der eben erschienenen Autobiographie von Daniela Katzenberger zu vergleichen. Dazu müsste man dieses Werk aber gelesen haben, und ehrlich gesagt ist mir meine Zeit und mein Geld dafür zu schade. Sollte mir der Verlag oder sonstwer das Buch zur Verfügung stellen, werde ich dies natürlich sehr gerne tun ;-).

 Der Text eröffnet eine fünfbändige Ausgabe von Nietzsches Jugendschriften bis ins Jahr 1869, die ursprünglich den Grundstock zu einer historisch-kritischen Werkausgabe bilden sollten, wozu es aber nicht gekommen ist ( Stichwort  2. Weltkrieg).

Nietzsche beschreibt in diesem Text seine Kindheit und seine Jugend in Röcken und Naumburg. Es werden der Vater, die Heimatstadt und verschiedene dem Jungen wichtige Personen beschrieben (Freunde, Lehrer). Der Ton ist ingesamt konventionell und keineswegs ist daraus die spätere Gedankenwelt Neitzsches bereits im Kern abzulesen, abgesehen vielleicht von dem etwas altklug wirkenden Selbstvertrauen, das der 14-jährige beweist, wenn er von seiner künstlerischen Entwicklung als Dichter spricht oder allgemeine Ansichten zur Musik äußert. Zynisch mag einem der Hinweis des Jungen auf den Tod seines Vaters erscheinen. Ein zur Hilfe gerufener Arzt diagnostizierte zu “ […]aller Erschrecken […] eine Gehirnserweichung […]“.( BAW I,4) Umgangsprachlich wird Nietzsches Krankheit, die sogenannte progressive Paralyse, die  mit dem Zusammenbruch in Turin im Jahr 1889 vollends durchbrach, ebenfalls als Gehirnerweichung bezeichnet.

Interessant ist, wie er Schicksalschläge verbalisiert. Jedes negative Ereignis existenziellen Ausmaßes wird in meteorlogische Bilder gefasst. Die Krankheit des Vaters beispielsweise wird folgendermaßen erzählt: „Bis hieher [sic!] hatte uns immer Glück und Freude geleuchtet, ungetrübt war unser Leben dahingeflossen, wie ein heller Sommertag; aber da thürmten sich schwarzen [sic!] Wolken auf, Blitze zuckten  und verderbend fallen die Schläge des Himmels nieder.“(BAW I,4) Im Grunde ebenfalls konventionell, wenn man bedenkt, dass Blitz und Donner zum ikonographischem Inventar des Göttervater Zeus gehörten. Aber vielleicht kann man hier die Lektüre von Goethes Werther erkennen, wo meines Wissens zum ersten Mal die Verbindung der Naturerscheinungen mit dem persönlichen Empfinden des eigenen Schicksals geknüpft wurde. Man erinnere sich beispielsweise an jenen Brief vom 12.12.1772:

„Manchmal ergreift mich’s; es ist nicht Angst, nicht Begier–es ist ein inneres, unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! Und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahrszeit.

Gestern abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen, ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach eilfe rannte ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See im Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem Widerschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer, und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab! Hinab! Und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürmen! Dahinzubrausen wie die Wellen!“

 Ich gebe zu, die These mag ein wenig weit hergeholt sein, vor allem in Hinsicht auf die ganz im Traditionellen verhaftete Sprache des Jungen, zumal ich nicht weiß, ob der 14-jährige den Werther damals bereits gelesen hatte. Ist ja auch nur ne Idee.

Der Text des jungen Nietzsche ist aber aus einem anderen Grund  faszinierend. Man kann einen Nietzsche beobachten, den man bisher nicht kannte. Einen, der noch eine kindlich anmutende Frömmigkeit an den Tag legt, der den Rahmen des Traditionellen in Sprache wie Inhalt nicht verletzt, ja im Gegenteil geradezu bestrebt scheint, den Konventionen vollends gerecht zu werden. Seine Sprache ist  noch nachgiebig, brav, fast sanft im Vergleich zu später. Die stählerne Härte und die Rigoroistät des „alten“ Nietzsche, die einen manchmal fröstlen lässt, aber eben auch ein Faszinosum ist, fehlt hier noch völlig. Irgendwie ist das beruhigend…

Martin Walser “Muttersohn“ 4. Fazit

Mein abschließendes Fazit zu diesem Roman kommt ein wenig spät, ich weiß. Aber ich wollte erst einmal ein Abstand zwischen mich und das Buch bringen, um nicht in ein vorschnelles Urteil zu verfallen.
Also: ich halte den Roman im Ganzen für gescheitert. Die formale Anlage ist wirr, der Inhalt über weite Strecken einfach belanglos. Walser ist und bleibt ein Provinzialist, dessen Kosmos nicht über Main und Bodensee hinausgeht. Und genau so sind seine Figuren. Wenn hier offensichtlich versucht wird, über Dinge wie das Göttliche, den Glauben und die Liebe zu sprechen und eine den heutigen Umständen entsprechende Form dafür zu entwickeln, wieso wird dann doch wieder Swedenborg u.a. zitiert?
Ich denke, hier versucht jemand krampfhaft modern sein zu wollen, was aber wie so oft peinlich wirkt. Walser ist Schriftsteller aus einer anderen Zeit. Das sollte er akzeptieren und nicht versuchen etwas zu sein, was man nicht ist. Ein Kommentar zu einem Eintrag zu diesem Roman schrieb, hier lese man nicht, man erlebe mit. Leider stimmt das nur, wenn den Autor in den Blick nimmt. Man erlebt den Beweis des Unzeitgemäßen des Altmodischen im Versuch zeitgemäß sein zu wollen.

Bulgakows Meister und Margarita in der Durlacher Orgelfabrik II

Durchaus konsequent reiht sich der Bulgakows „Meister und Margarita“ in der Aufführungsgeschichte der Durlacher Orgelfabrik ein; nach Kafkas Werken (Das Schloss, Der Proceß, Verwandlung) und Thomas Manns „Tod in Venedig“, um nur einige Stücke der letzten Jahre zu nennen, hat sich das Autorenteam Franco Rosa und Gabriele Michel wieder an eine Adaption eines großen düsteren Romanes gewagt. „Meister und Margarita“, 1940 geschrieben, danach jahrlang in der Sowjetunion auf dem Index und erst 1966 veröffentlicht, ist eine Satire auf die starr-bürokratische, dogmatisch-atheistische Sowjetunion und die geknechtete Kunst- und Kulturszene Moskaus. Die Orgelfabrik mit ihrem rauen, früh-industriellen Charme bietet für diesen Roman ein hervorragendes Setting. Die Architektur der Orgelfabrik  mit seinen vielen unterschiedlichenen Ebenen war entsprechend hervorragend genutzt und das Bühnenbild bis zum kleinsten Detail stimmig. Ein wahrer Augenschmaus! Die Umsetzung der Romanhandlung in ein Bühnenstück jedoch war erwartungsgemäß holprig. Da der Roman an sich schon expressionistisch dissoziiert anmutet und sehr stark von der Aneinanderreihung von surrealen Sequenzen und einem komplexen Geflecht von Handlungssträngen lebt, ist auch das Tempo des Stücks rasant, die Anzahl der Szenenwechsel beträchtlich und die Handlung durch die Überfülle der Eindrücke und Szenen ohne Lektüre des Buches nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Vielleicht wäre hier eine noch stärkere, radikalere Reduktion der Romanhandlung vonnöten gewesen, da das Stück bisweilen etwas überfrachtet erschien. – Videosequenzen sind an vielen Bühnen der letzte Schrei. Ihr Einsatz muss jedoch  motiviert sein. Weswegen die Truppe die Vorgeschichte der Beziehung des Meisters zu seiner Margarita gerade mit dieses Medium darstellt, erschließt sich dem Zuschauer nicht. Was auf der Bühne spielbar ist, muss gespielt werden! Eine Effekthascherei mit dem willkürlichen Einsatz von Medien hat die Orgelfabrik nicht nötig. – Die Stärke des Orgelfabriktheaters ist das hervorragende Ensemble, das mit ihrer Schauspielkunst, ihren Dialogen und Monologen brillierte. Mehr davon! Weniger „action“ hingegen wäre bisweilen ratsam gewesen! Die Umsetzung der surrealen und bedrohlichen Sequenzen im Buches, z.B. die Zaubervorstellung des Herr Volands und seiner Hexen, wirken hingegen überzogen und klaumaukhaft. Das Bedrohliche und Beklemmende, das im Buch im Hexentreiben spürbar wird, verschwindet im Stück an einigen Stellen gänzlich. – Im Ganzen muss man sagen, dass das ehrgeizige Unterfangen „Meister und Margarita“ für die Bühne leider nur mäßig geglückt ist. Bei einer Umarbeitung eines solchen Romanes wie „Meister und Margarita“ möge sich das Autorenteam auf die Stärken der Truppe besinnen, noch mehr riskieren beim Umschreiben der Vorlagen und bei schwer umsetzbaren phantastischen Szenen darauf achten, dass man nicht zu publikumsgefällig wird und dem Klamauk erliegt. Nichtsdestotrotz, ein Theaterbesuch in der Orgelfabrik  ist alleine Dank der starken schauspielerischen Leistung des Ensemles und den Räumlichkeiten der Orgelfabrik stark anzuraten.

http://www1.karlsruhe.de/Kultur/Orgelfabrik/Theater/aktuell.htm

 

Der Meister und Margarita – Orgelfabrik 2.9.2011

Ein tolles Haus, ein großartiges Ambiente. Die Orgelfabrik passt perfekt ins beschauliche, kleine Durlach. Gestern konnte man dort die Umsetzung von Bulgakows Roman für die Bühne anschauen. Wer den Roman gelesen hat, weiß, dass das eine mutige Aufgabe ist, dieses Werk auf eine Bühne zu bringen. Man sieht sich vor zwei grundlegende Entscheidungen gestellt: entweder das Werk so getreu wie möglich auf der Bühne abbilden, oder heftig in das Gefüge der Geschichte eingreifen, um daraus eine im weitesten Sinne dramatische Struktur zu entwickeln, die dieser Art von Kunst entspricht. Die erste Variante ist im Rahmen der Orgelfabrik natürlich nicht zu realisieren und ich würde so etwas auch gar nicht sehen wollen. Es müsste bombastisch, überladen werden.
Also blieb nur die zweite Möglichkeit. Leider ist man nicht konsequent genug vorgegangen. Man wollte dem Gerüst des Romans folgen und so kam es zu einigen weniger gelungenen Szenen, in denen einfach nur Inhalt referiert wurde oder per Filmeinspielung Rückblenden vorgenommen wurden, um den Geamtzusammenhang aufrecht zu erhalten. Man hätte vielleicht die ganze eingeschobene Pilatushandlung streichen können, die ohnehin nur an einigen wenigen Stellen zu Tage trat. Für die Geschichte um Voland und seine Umtriebe in der Stadt braucht man die Pilatusepisoden nicht. Sicher, im Roman haben sie ihren Platz, aber ein Theaterstück ist kein Roman.
Man muss sagen, dass die Macher des Stücks an der Aufgabe, den Roman auf die Bühne zu bringen, gescheitert sind. Das ist keine Schande. Dieses Buch ist zu vielschichtig und grotesk verdreht, dass es in meinen Augen nicht umsetzbar ist, ohne dem ganzen Werk größere Gewalt anzutun.
Die Leistung der Schauspieler dagegen war tadellos, was das Publikum etwas mehr hätte würdigen dürfen. Trotz der oben genannten  strukturellen Probleme war es eine tolle Aufführung, die sich dem großartigen Rahmen würdig erwiesen hat.

Johann Peter Hebel und der „Luftkrieg“

In einem Abschnitt des „Rheinischen Hausfreundes auf das Schalthar 1808“ über Fliegende Fische heißt es: „Denn gewisse Vögel fliegen über dem Wasser her und hin, und stellen den Fischen nach, können ihnen aber nichts anhaben so lang diese daheim im Wasser bleiben, wohin sie gehören. Wenn aber ein solcher Luftkrieg zwischen ihnen angeht, so wird bald der Fliehende, bald der Feind, bald beide von dem Vogel, der das Fliegen besser versteht, erhascht, und kommen ihr Lebenlang nimmer ins  Wasser.“

Man könnte an dieser Stelle leicht die Faszination für Hebel deutlich machen, der aus einer anderen Welt stammt als wir. Einer Welt, in der alles noch seinen Platz hat, die geordnet ist und irgendwie sinnvoll eingerichtet ist. Nicht vom Lebensraum des Fisches spricht Hebel, sondern von dessen Heimat, ein Begriff der nicht den kalten, gewalttätigen Unterton hat wie die Begrifflichkeiten nach Darwin.

Aber das ist nicht mein Thema. Mir fiel das Wort „Luftkrieg“ auf. Ich weiß nicht, ob das das erste Mal ist, dass dieses Wort in der deutschen Literatur auftaucht. Möglich wär’s… Wenn man das Wort heute hört, was fällt einem nicht alles ein: die heroische verbrämte Frühzeit des militärischen Einsatzes von Flugzeugen im Ersten Weltkrieg, Stichwort  Von Richthofen, Immelmann etc. Der Einsatz der Legion Kondor im Spanischen Bürgerkrieg und die unzähligen Bombardements ungezählter Städte im Zweiten Weltkrieg, V2-Raketen. Hiroshima, Gunships, Napalm, Agent orange in Vietnam, Präzisionsbomben im ersten und zweiten Irakkrieg, unbemannte Drohnen, die ferngesteuert operieren in Afghanistan und anderswo. Mir scheint die moderne Kriegsführung im herkömmlichen Stil auf der Durchsetzung und Herstellung der Luftüberlegenheit über den Gegner zu beruhen. Dieses anonyme, distanzierte Art der Kriegsführung ist für das 20. Jahrhundert wohl typisch und der Begriff „Luftkrieg“ ist einer, der mehr als nur Unbehagen auslöst. Wie anders doch noch bei Hebel. Am Ende dieser Episode gibt er dem „Luftkrieg“ der Fliegenden Fische zuerst eine deutlich komische Wendung: „Und dazu lachen die Fischer.“ Anschließend gemäß dem volkspädagogischen Zweck des Rheinischen Hausfreunds schließlich die Übertragung des beobachteten Naturvorgangs auf das Leben der Menschen (kurz gesprochen: wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte). Die Geschichte hat den Begriff „Luftkrieg“ aus dem Bereich der Natur und ihrer letztlich transzendenten Vorbildlichkeit für die menschliche Moral entzogen. Er ist zu einer Metapher für die Durchsetzung von Politik und Ideologie mit militärischen Mitteln in der modernen und postmodernen Welt geworden…

Martin Walser – Muttersohn 3

Der Abschnitt, in dem Percy aufgrund seiner mittlerweile bekannten Überzeugung, ohne Beitrag eines männlichen Erzeugers auf die Welt gekommen zu sein, ist gut gelungen, auch wenn das Bemühen, die Gepflogenheiten der „anspruchsvollen“ Gesprächsrunden im TV ein wenig auf den Arm zu nehmen in meinen Augen deutlich zu erkennen ist. Sprachlich besser gelungen, da hier die Dialogstruktur die einzig adäquate ist. Es folgt der zweite Teil, das Leben des Ewald Kainz. Es erzählt die Lebensgeschichte des Ewald Kainz, Insasse der Psychatrie, in der Percy ihn mit seiner Schweigetherapie behandelt, Adressat zahlreicher Briefe an Percys Mutter, die diese aber niemals abschickte.