Michel de Montaigne – Essais, oder Bloggen im 16. Jahrhundert

Ich erspare mir Hinweise auf Größe und Bedeutung des Autors. Ja, es wird ihm die „Erfindung“ der Textsorte Essay zugeschrieben und ja, er ist einer der großen Moralisten, ein Meister seiner Sprache und ein Mann von außerordentlicher Bildung und Belesenheit gewesen. In zumeist kurzen Texten, schreibt er über alles, was ihm in den Sinn kommt. Seine Texte sind von bleibendem Wert, aber das sind viele, wenn auch leider nicht allzu viele.
Was beim ihm in der Urform vorliegt, das Essay, wurde von zahlreichen Schriftstellern erweitert und vervollkommnet. Man denke an Thomas Manns „Versuch über Schiller“ oder Kants „Vom ewigen Frieden“. Im Vergleich zu diesen und anderen Essays wirken diejenigen Montaignes oft einfach, ja karg, was aber kein Mangel sein muss. 400 Jahre kreative Aneignung und Ausgestaltung haben das Gesicht der Gattung verändert, und doch konnte sie ihr Wesen immer bewahren.
Gerade in unseren Tagen aber wird die ursprungliche Form Montaignes wieder modern. Hätte Montaigne Internet gehabt, er wäre Blogger geworden.
Von seinem Turm aus übersah er die Welt und vor allem sich selbst. Seine Texte zeigen eine unglaubliche thematische Vielfalt: „Über die Trunkenheit“, „Über die Daumen“, „Wider die Nichtstuerei“ oder „Alles zu seiner Zeit“, „Über das Stafettenreiten“, „Über ein mißgebildetes Kind“.
Sein Hauptthema aber heißt „Montaigne“. Oft entspringen aus der Selbstreflexion die Themen und genauso häufig münden spontane Gedanken über ein scheinbar beiläufiges Thema in der Reflexion des eigenen Wesens. Montaigne verfügt über alle Merkmale, die einen guten Blogger auszeichnen sollten.
Er ist spontan und stets subjektiv, neigt zum Skeptizismus und zeigt Humor. Ist in der Lage, jedes Thema anzugehen und kreist doch letztlich immer nur um ein einziges, die Beobachtung der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Er ist für seine Zeit brandaktuell und traut sich, zu werten. Montaigne erwähnt Unmenschlichkeiten und Gräuel der Kolonialmächte im kürzlich entdeckten Amerika, übt Kritik an Kopernikus Theorie, die in seiner Zeit beginnt, ihre mächtige Wirkung zu entfalten. Alles ist bei ihm immer rückgebunden an die Weisheit des Altertums, wie auch jeder moderne Blogger, auch wenn er anderes meint, in einer langen Traditionslinie steht. Montaigne war diese bewußt, er kannte seine Tradition und verfügte aktiv über deren literarischen und kulturellen Hinterlassenschaften.
Montaignes Verdienst um die Entwicklung der Textsorte „Essay“ sind unbestreitbar.
Die Vorwegnahme und die geistige Vaterschaft der neben Email und Sms mächtigsten publizistischen Form der post-Postmoderne, des Blogs, ist seiner Ruhmestafel hinzuzufügen.
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