Helmut Krausser: Fette Welt


Aus irgendeinem Grund war ich davon überzeugt, dieses Buch noch nicht gelesen zu haben. Bereits nach den ersten Zeilen kehrte die Erinnerung zurück und Kraussers markante Roman-Gestalten wankten mir wieder aus dem nebulösen Nichts in 3-D entgegen. Zu dem Zeitpunkt hat mich die „Fette Welt“ erneut am Genick gepackt, geschüttelt (vor Ekel und Lachen) und bis zum Zuklappen des Buches nicht wieder losgelassen, wie bereits schon mal vor wohl zehn Jahren. Ich muss sagen, es hat mich zutiefst amüsiert, dieses Buch erneut zu lesen.
Held des Buches ist Hagen Trinker, ein defätistischer Wahl-Penner und selbsterklärter Poet in der Nobel-Stadt München, der fetten Welt des Romans. Aus der bürgerlichen Welt zieht dieser zynische Anti-Ritter zu Beginn des Romans aus Verachtung ganz aus und erlebt – gelegentlich von seiner so genannten Familie, einem bunten Sammelsurium von Randexistenzen, begleitet, – so manche Aventiure. Hagen Trinker trinkt sich einen, dichtet und philosophiert unterwegs über die Scheiß-Welt und ihre Existenz, reißt die Brücken hinter sich ein und verliebt sich in die sechzehnjährige Ausreißerin Judith, arbeitet als Totengräber in einem Bestattungsinstitut und überfällt einen Supermarkt. Überschattet und getrieben wird die Hagen-Geschichte durch einen Serienkiller mit dem Decknamen „Herodes“, der in München sein Unwesen treibt und Kleinkinder in ihren Kinderwägen die Kehle durchschneidet. In Nacht und Nebel und im Fieber-Delirium kommt es zu Begegnungen und misantrophen Dialogen zwischen Hagen und Herodes, wobei unklar bleibt (und das ist ein phantastischer Kniff des Autors), ob es sich bei den beiden nicht um ein und dieselbe Person handeln könnte. Einer meiner erklärten Lieblingsszenen, früher wie heute, ist die Beerdigung des griechischen Jünglings, ein Vorbild für groteske Schreibkunst mit Slapstick-Charakter.
Das Buch (übrigens das letzte von Kraussers Hagen-Triologie) wurde gefeiert, daran kann ich mich noch erinnern. Nicht zuletzt waren die Öffentlichkeit und die Literaturkritik fasziniert von dem Autor, der nach eigenen Angaben und Klappentext selbst (halb-) freiwillig ein Jahr als Berber zugebracht hat, als Totengräber jobbte und währenddessen provinzialrömische Archäologie studierte. Entsprechend wird Krausser seit „Fette Welt“ von Literatur-Seminar zu Literatur-Seminar als einer der Vertreter „Junger Deutscher Literatur“ herumgereicht, liest und doziert dort vor einem Publikum, das zu diesem Humor wohl nur schwer Zugang haben sollte. Kraussers Penner-Welt und ihre Lebensäußerungen sind authentisch, wenn man sich dieses Urteil als Uneingeweihter erlauben darf. An einigen Stellen weht den Leser der muffige Geruch des Straßenlebens so real und poetisch an, dass man zugleich kotzen, lachen und staunen möchte. Faszinierend und somit das eigentlich interessante ist jedoch Kraussers Sprache, die intelligent ist, starke Bodenhaftung aufweist und in ihrer unkonventionellen Verspieltheit und ihrem Erfindungsreichtum den Leser verblüfft und immer wieder vor Lachen in den Sessel drückt.
„Fette Welt“ ist ein starkes Stück Gegenwartsliteratur, das ich in zehn Jahren gerne wieder lese, denke ich. Übrigens ist der Roman dann auch mit Jürgen Vogel als Hagen Trinker verfilmt worden. Wäre auch mal zu überlegen, sich das anzuschauen.

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