Lest mehr Shakespeare

„Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb‘ auf unserm Lebensblatt;
Und alle unsre Gestern führten Narr’n
Den Pfad des stäub’gen Tods. Aus! kleines Licht! –
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühn‘, und dann nicht mehr
Vernommen wird: ein Märchen ist’s, erzählt
Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,
das nichts bedeutet. -„
(Shakespeare, Machbeth, V,5)

Auch wenn das hier ein sehr dunkles Stück des verzweifelten Machbeth ist, den nichts mehr erschüttern kann, der auch den letzten Schlag schon kommen sieht und ihm nicht mehr ausweichen will, eine Stelle, die Macbeths dunklen Realismus abschließend kennzeichnet, nach dem Realität die Einsicht in die Sinnlosigkeit des menschlichen Tuns sei, findet sich doch in jedem Stück von Shakespeare das Edle, Gute, Schöne, Heitere mit dem Verwerflichen, Bösen, Dunklen untrennbar vermischt.
Man denke an die jungen Prinzen in Richard III, an Malvolio, dem man aus Spaß übel mitspielt in „Was ihr wollt“. Die Liste der Beispiele könnte beliebig verlängert werden. Wenn die dramatische Kunst je wirklich so etwas wie eine Katharsis beim Zuschauer auslösen konnte oder noch immer kann, dann hier bei Shakpespeare. Die Einsicht in die unauflösbare Vermischung von Gut und Böse, von Heiterem und Traurigem in ein und demselben Moment, hindert den Glücklichen (am Verblöden) daran, seinen Bezug zu Welt zu verlieren, und sie hilft ebenso dem Verzweifelten dabei, den Regenschirm dennoch mitzunehmen, auch wenn es egal sein mag, ob man nass wird oder trocken bleibt.

W.iderliche W.eihnachten (in) K.arlsruhe

Nach einer „neopaganen“ Tanzveranstaltung im Kulturzentrum „Tempel“ e.V, (mehr dazu demnächst) durfte ich unfreiwillig an der Weihnachtsfeier einer Versicherung teilnehmen. Ein Kellner platzierte uns versehentlich im Vorraum einer Gaststätte, in der gegen 23 Uhr noch eine geschlossene Gesellschaft eintraf. Wir fanden uns also zwischen zwanzig und dreißig geschniegelten Personen, vor denen ein seriöser Mann mittleren Alters, offensichtlich der Bereichsleiter hier in der Gegend, die erste von mehreren Reden hielt. Darin war hauptsächlich die Rede von Zahlen, so und so viele Millionen Umsatz in diesem Bereich, so und so viel Prozent mehr in jenem. Danach wurden die drei besten Mitarbeiter, d.h. diejenigen, die den meisten Umsatz gemacht haben, gelobt, gepriesen, vom Chef beschenkt und den anderen Subalternen beklatscht.
Danach sprach ein Abgesandter aus München, zum Schluss noch irgendeiner oder waren es zwei? In ihren Uniformen kaum auseinander zu halten konnte man sie höchstens an den Krawatten unterscheiden.
Im Grunde eine lächerliche Veranstaltung, die jedes Klischee bestätigt hat, vor allem im Hinblick auf das widerwärtige Gebaren dieser Leute. Neben der platten RTL-Rhetorik „Du hast einen guten Job gemacht“, fiel immer wieder das Wort „Produktion“.
Wikipedia verzeichnet zu dem Begriff folgendes:
„Produktion, (v. lat.: producere = hervor führen), Fertigung, Fabrikation, im rechtlichen Sprachgebrauch die Herstellung, ist der vom Menschen (Produzent) bewirkte Prozess der Transformation, der aus natürlichen wie bereits produzierten Ausgangsstoffen (Rohstoff) unter Einsatz von Energie, Arbeitskraft und bestimmten Produktionsmitteln lagerbare Wirtschafts- oder Gebrauchsgüter (Ökonomisches Gut) erzeugt.
Ich frage mich also, was produziert denn so eine Versicherung? Nichts. Sie verkauft eine Dienstleistung. Sie verkauft das Gefühl, abgesichert zu sein. Nichts weiter. Es ist also nicht gerechtfertigt, zu sagen, eine Versicherung produziere etwas anderes als Umsatz. In diesem Sinne aber ist der Begriff eine Metapher. Wieso also fällt dieser Begriff am laufenden Band?
Er ist ein rhetorischer Baustein einer Unternehmensstrategie, die auf dem Sicherheitsbedürfnis und der Angst der Bürger basiert und diese ausnutzt.
Das Rechtsempfinden des durchschnittlichen Menschen hält ihn normalerweise davon ab, die Schwäche der Menschen auszunutzen. Will eine Versicherung aber überleben, muss sie diese natürliche Hemmungen nachhaltig abbauen, sodass sich das gute Gewissen auf Dauer betäuben lässt. Genau diesem Zweck diente die Veranstaltung. Im falschen Begriff von der „Produktion“ wird vom einzelnen Kunden, dem man das Geld aus der Tasche gezogen hat, abstrahiert, vom möglicherweise schweren Schicksal abgelenkt. Übrig bleiben die nackten Zahlen und genau hier offenbart sich das wahre Gesicht dieser Branche.

Es geht nicht einmal mehr im Ansatz um Dienstleitung, mit keinem Wort, keiner Andeutung wurde in den Ansprachen der Kunden gedacht, alles dreht sich um die Generierung von Umsatz, also den Verkauf von „Produkten“. Neben diesem psycholinguistischen Trick kamen auch zwei andere Mechanismen zur Anwendung. Gier und Anerkennung. Anerkennung in Verbindung mit der Möglichkeit des Aufstiegs aber auch die Angst vor persönlichem Versagen, die durch den Gruppendruck erzeugt wird, machen es leicht, moralische Bedenken beiseite zu lassen. Dass Gier blind macht, ist im Moment ja bei jedem Blick in die Medien zu bemerkten.
Schlimm war allerdings die schmierige Unterwürfigkeit, mit der alle Mitarbeiter den Spitzenkräften zujubelten und über die schlechten Witze des Chefs lachten. So laut, dass man glauben konnte, ein jeder versuche den anderen zu übertönen, um auch ja vom Chef bemerkt zu werden. Wenn man schon nicht der beste Verkäufer ist, dann kann man wenigstens versuchen, der erste Speichellecker zu sein.

Michel de Montaigne – Essais, oder Bloggen im 16. Jahrhundert

Ich erspare mir Hinweise auf Größe und Bedeutung des Autors. Ja, es wird ihm die „Erfindung“ der Textsorte Essay zugeschrieben und ja, er ist einer der großen Moralisten, ein Meister seiner Sprache und ein Mann von außerordentlicher Bildung und Belesenheit gewesen. In zumeist kurzen Texten, schreibt er über alles, was ihm in den Sinn kommt. Seine Texte sind von bleibendem Wert, aber das sind viele, wenn auch leider nicht allzu viele.
Was beim ihm in der Urform vorliegt, das Essay, wurde von zahlreichen Schriftstellern erweitert und vervollkommnet. Man denke an Thomas Manns „Versuch über Schiller“ oder Kants „Vom ewigen Frieden“. Im Vergleich zu diesen und anderen Essays wirken diejenigen Montaignes oft einfach, ja karg, was aber kein Mangel sein muss. 400 Jahre kreative Aneignung und Ausgestaltung haben das Gesicht der Gattung verändert, und doch konnte sie ihr Wesen immer bewahren.
Gerade in unseren Tagen aber wird die ursprungliche Form Montaignes wieder modern. Hätte Montaigne Internet gehabt, er wäre Blogger geworden.
Von seinem Turm aus übersah er die Welt und vor allem sich selbst. Seine Texte zeigen eine unglaubliche thematische Vielfalt: „Über die Trunkenheit“, „Über die Daumen“, „Wider die Nichtstuerei“ oder „Alles zu seiner Zeit“, „Über das Stafettenreiten“, „Über ein mißgebildetes Kind“.
Sein Hauptthema aber heißt „Montaigne“. Oft entspringen aus der Selbstreflexion die Themen und genauso häufig münden spontane Gedanken über ein scheinbar beiläufiges Thema in der Reflexion des eigenen Wesens. Montaigne verfügt über alle Merkmale, die einen guten Blogger auszeichnen sollten.
Er ist spontan und stets subjektiv, neigt zum Skeptizismus und zeigt Humor. Ist in der Lage, jedes Thema anzugehen und kreist doch letztlich immer nur um ein einziges, die Beobachtung der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Er ist für seine Zeit brandaktuell und traut sich, zu werten. Montaigne erwähnt Unmenschlichkeiten und Gräuel der Kolonialmächte im kürzlich entdeckten Amerika, übt Kritik an Kopernikus Theorie, die in seiner Zeit beginnt, ihre mächtige Wirkung zu entfalten. Alles ist bei ihm immer rückgebunden an die Weisheit des Altertums, wie auch jeder moderne Blogger, auch wenn er anderes meint, in einer langen Traditionslinie steht. Montaigne war diese bewußt, er kannte seine Tradition und verfügte aktiv über deren literarischen und kulturellen Hinterlassenschaften.
Montaignes Verdienst um die Entwicklung der Textsorte „Essay“ sind unbestreitbar.
Die Vorwegnahme und die geistige Vaterschaft der neben Email und Sms mächtigsten publizistischen Form der post-Postmoderne, des Blogs, ist seiner Ruhmestafel hinzuzufügen.

Kaufrausch, Kiesel, Kästner und Weber

„Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese rücksichtslose Hingabe an den Beruf des Geldverdienens.“ (M. Weber).
Wie rücksichtslos diese Hingabe ist, sehen wir gerade, da die Politik, der Steigbügelhalter der Wirtschaft, versucht, die Scherben einer geplatzten Spekulationsblase zusammenzukehren und Banken und anderen Firmen mit dem Geld der Bürger wieder auf die Beine zu helfen. Der Staat muss das tun, Opel nicht zu retten, wäre politischer Selbstmord. So geht die Erpressung des Staats durch die Wirtschaft weiter, als sei nichts gewesen. Doch es geht mir nicht um diese.
Der Kapitalismus ist nicht mehr einer von Firmen, die ein gutes Produkt herstellen wollen und damit Geld zu verdienen, sondern nur noch einer der bedindungslosen Profitmaximierung. Wie kreativ man dabei geworden ist, durfte ich heute in einem schwedischen Möbelhaus beobachten. Ich wollte den unvermeidbaren Gang so kurz wie möglich gestalten und eilte entsprechend schnell durch die gewundenen Gänge des Hauses, den Blick auf den Wagen vor mir gerichtet. Irgendwo lag ein Plastiknetz mit Kieselsteinen im Regal. Ein Kilo für 1,79€. Steine! Wer kauft Steine? Aber wenn sie im Regal liegen, dann gibt es auch bestimmt eine entsprechende Nachfrage, denn zufällig liegt dort wie anderswo nichts im Regal.
Mit diesem Gedanken im Kopf stand ich in der Schlange an der Kasse, vor mit zwei Mitdreißigerinnen, den Wagen voll mit Dekomaterial. Dinge, die man sonst nirgends bekommt. Servietten, Lichterketten, Kerzen…
Und während sie so dastehen, fällt der einen etwas ein. Sie rennt weg, kommt wieder mit irgendeinem Artikel, die andere jauchtzt vor Begeisterung und rennt ihrerseits davon. Wieder da, beglückwünschen sie sich gegenseitig zu dem ach so schönen Artikel. Sie reden lachend, bis eine der beiden wieder davonläuft und einen weiteren wundervollen Gegenstand anschleift, diesmal gleich doppelt. So spart man Zeit, denn man will noch die einzigartigen Hotdogs essen und im Schwedenshop Ikeaschips kaufen. Kaufrausch, ganz klar.
Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Lachend bestaunen sie das Netz mit den Kieselsteinen. Unfassbar. Die rücksichtslose Hingabe an den Beruf des Geldverdienens hat sich gelohnt, Glückwunsch Herr IKEA. Aber was wäre die beste Idee eines berufsmäßigen Geldverdieners ohne die Herde derer, die von dem Kakao auch noch trinken, durch den sie gezogen werden, wie Kästner einmal sagte: „Was immer auch geschieht – nie sollst Du soweit sinken, von dem Kakao, durch welchen man Dich zieht, auch noch zu trinken.“
Kästners Warnung bleibt ungehört. Sollen die Firmen doch Milliarden verheizen, solange man haben kann, was man haben will. Degeneriert zu einer Herde willenloser Konsumenten, braucht das Volk keine Propaganda mehr, die Werbung habt diesen Platz eingenommen. Man ist glücklich über die hübsch dekorierte Wohnküche, wenn am Wochenende Freunde zum Kochen kommen. „Reich mir mal den Rettich rüber.“
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