Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins?

Einen Moment sollte man noch bei diesen Urspüngen verweilen.
In einer Welt, in der der Mensch zu sich selbst kommt, ist er noch weit entfernt von dem naturbeherrschenden Wesen, das er heute zu sein glaubt. Er ist in der frühen Zeit noch so mit der Natur verbunden, dass er noch nicht einmal dem Nahrungskreislauf von Fressen und Gefressenwerden vollständig und auf Dauer entrinnen konnte. Bißspuren auf den Schädeln unserer Vorgänger zeigen den frühen Menschen als Beute, als Gejagten.
In einer gefährlichen, bedrohlichen, feindlichen Umwelt, der er weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, muss der Mensch, um überleben zu können, Fähigkeiten entwickeln, den alltäglichen Gefahren erfolgreich zu begegnen, ihnen auszuweichen, sie schließlich zu überwinden.
Die Evolution schenkt auch den Schwachen Möglichkeiten sich zu wehren. Uns aber sind keine Flügel gewachsen und wir können uns nicht farblich unserer Umwelt anverwandeln. Unsere Flügel sind die Phantasie und die Kreativität, der Verstand unsere Tarnung.
Mithilfe dieser Fähigkeiten ist es dem Menschen möglich, seiner Welt Struktur zu geben. Das namenlose Schrecken, die unbenennbare Gefahr, werden erkannt. Der Mensch gibt dem Unbennbaren Namen, er nimmt ihm dem Schrecken und macht sich selbst Mut. In Benennung und Verknüpfung der namenlosen Phänome der Umwelt liegt der Keim aller Erzählung.
Aber dieser Prozess des geistigen Durchdringens der schrecklichen Welt kann nicht in ihr selbst geleistet werden, denn die Gefahren bestehen weiter. Erst in einer Umgebung, die den notwendigen Schutz gewährleistet, kann der Mensch diesen Prozess in Angriff nehmen. Nur dort, in der Abgeschiedenheit der Höhle, am sicheren Lagerfeuer in der Nacht, können Begriffe, Namen, Beobachtungen des Tages in eine sinnvolle Form gebracht werden. Erst der gefahrlose Schlaf ermöglicht ein freies Spiel der Phantasie im Traum. Hier gibt der Mensch seiner Umwelt Sinn.
Erst wenn die schreckliche Welt sich vom sicheren Lagerfeuer in die Nacht zurückzieht, kann der Mensch das Außen in Form von Geschichten reflektieren.
Die Genese von Geschichten ist zu allererst ein metaphorischer Akt zur Sicherung des Überlebens.
Und möglicherweise fällt der Beginn des Menschseins mit dem Beginn der reflektierenden Weltaneignung in Form von Geschichten zusammen.

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