Poesie + X

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zeigt sich in seiner Halbjahresbilanz zufrieden was die wirtschaftliche Entwicklung des deutschen Buchmarktes betrifft. 9,3 Milliarden Euro wurden auf dem deutschen Buchmarkt 2006 umgesetzt, etwas mehr als ein Prozent Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr. Das dritte Jahre in Folge konnte die Branche „ein leichtes Plus“ erwirtschaften. Na dann, herzlichen Glückwunsch.
Von diesem Aufwärtstrend profitieren die kleineren Buchhandlungen am wenigsten, der Vertrieb via Internet kann am meisten zulegen. Aber das ist ein anderen Thema.
Wenn mehr Bücher gekauft werden, darf man wohl auch annehmen, dass mehr gelesen wird als früher. Das ist doch eigentlich erfreulich.
Allerdings sollte man nicht vergessen, dass auch der Verkauf von Hörbüchern zu der positiven Entwicklung auf dem deutschen Buchmarkt beigetragen hat. Dieser Begriff „Hörbuch“ kommt mir paradox vor. Wenn ich mir ein sogenanntes Hörbuch anhöre, was tue ich dann? Höre ich das Buch, wie ich es lese? Kann ich ein Hörspiel lesen, wie ich es anhöre? Beides kann nicht gelingen (man sollte ein Hörbuch vielleicht eher „Lesbuch“ nennen).
Ein Hörbuch hat mit dem Lesen nicht mehr zu tun als eine Literaturverfilmung mit dem zugrundeliegenden Stück oder Roman. Nennen wir deshalb einen solchen Film Sehbuch? Hörbuch und Film haben mit einem Buch fast nichts gemein. Beide kürzen, schmücken aus mit den jeweiligen Mitteln, die dem Medium zu Gebote stehen. Das Hörbuch in die Nähe eines Buches zu rücken ist nur auf den ersten Blick gerechtfertigt. Im besten Fall hört man denselben Text, wie er auch im Buch abgedruckt ist. Das war’s aber auch schon. Hörbuch wie Literaturverfimung haben, so angenehm oder so gut gemacht sie auch sein mögen, einen großen Mangel.
Dieser Mangel besteht darin, dass die Phantasie des Hörbuch-Lesers (??) oder Lesbuch-Hörers (??) nicht nur gelenkt, das ist ja legitim, sondern geradezu blockiert wird. Der Aufwand ein solches Produkt zu konsumieren ist daher viel geringer, als es das Lesen ist. Man kann ein Hörbuch schlicht und einfach schneller hören, als man die Vorlage lesen könnte. Unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten ist ein Hörbuch als wesentlich attraktiver, weil es 1. billiger herzustellen ist und 2. eine potentiel höhere Nachfrage generiert wird. Das Hörbuch degeneriert Literatur vollends zu einem Produkt, das hauptsächlich zur Befriedigung niederer Instinkte dient, oder zur Abwehr gegen Langweile eingesetzt werden kann. Allerdings ist das lediglich das Endstadium eines Prozesses, der so alt wie der kommerzialisierte Vertrieb von Büchern selbst ist.
Was dem Lesen heutzutage fast gänzlich verloren zu gehen droht, ist die Fähigkeit Literatur als Kunst zu begreifen. Das hat wohl zwei Gründe. Zum einen lässt die Massenware Buch ästhethische Aspekte zugunsten des einfachen Konsums unter den Tisch fallen, zum anderen sind leider viele Leser gar nicht mehr in der Lage, den künsterlischen Wert von Literatur zu erkennen, wenn er nicht im Klappentext angegesprochen wird. Oder sie versuchen diesen Wert anhand von Bestsellerlisten zu ermitteln.
Was hier mit Phantasie bezeichnet worden ist, ist im Grunde ein Komplex zusammengesetzt aus vielen, zum Teil sehr unterschiedlichen Emotionen und Kompetenzen, die den Menschen zu dem zurückführen, was Literatur in seiner ursprünglichen Form einmal gewesen sein mag: Erfahrung des Göttlichen. Aus einem Drang zur begrifflichen Bestimmung der feindlichen Umwelt heraus geboren, ist Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Speziellen etwas von Anfang am Göttlichen Ausgerichtetes. Der frühe Mensch konnte, und der heutige kann diese ebenso, sich in der Kunst über die Natur erheben und sich so einer irgendwie gearteten göttlichen Kraft verwandt oder gar, im Akt künsterlischen Schaffens gleichgestellt fühlen. In diesem Spannungsfeld bildet sich das Vermögen Kunst nicht nur zu schaffen, sondern auch zu erfahren und zu genießen. Und genau diese Fähigkeit zum ästhethischen Genuß geht leider vielen Lesern heute ab, woraus Schiller in einem Brief an Goethe eine interessante Forderung ableitete:

„So viel ist auch mir bei meinen wenigen Erfahrungen klar geworden, daß man den Leuten, im ganzen genommen, durch die Poesie nicht wohl, hingegen recht übel machen kann […]. Man muß sie inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und in Erstaunen setzen. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder als Gespenst muß die Poesie ihnen gegenüberstehen.“ (17.8.1797)

Punktum! – Gedanken rund ums Lesen II

Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins?

Einen Moment sollte man noch bei diesen Urspüngen verweilen.
In einer Welt, in der der Mensch zu sich selbst kommt, ist er noch weit entfernt von dem naturbeherrschenden Wesen, das er heute zu sein glaubt. Er ist in der frühen Zeit noch so mit der Natur verbunden, dass er noch nicht einmal dem Nahrungskreislauf von Fressen und Gefressenwerden vollständig und auf Dauer entrinnen konnte. Bißspuren auf den Schädeln unserer Vorgänger zeigen den frühen Menschen als Beute, als Gejagten.
In einer gefährlichen, bedrohlichen, feindlichen Umwelt, der er weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, muss der Mensch, um überleben zu können, Fähigkeiten entwickeln, den alltäglichen Gefahren erfolgreich zu begegnen, ihnen auszuweichen, sie schließlich zu überwinden.
Die Evolution schenkt auch den Schwachen Möglichkeiten sich zu wehren. Uns aber sind keine Flügel gewachsen und wir können uns nicht farblich unserer Umwelt anverwandeln. Unsere Flügel sind die Phantasie und die Kreativität, der Verstand unsere Tarnung.
Mithilfe dieser Fähigkeiten ist es dem Menschen möglich, seiner Welt Struktur zu geben. Das namenlose Schrecken, die unbenennbare Gefahr, werden erkannt. Der Mensch gibt dem Unbennbaren Namen, er nimmt ihm dem Schrecken und macht sich selbst Mut. In Benennung und Verknüpfung der namenlosen Phänome der Umwelt liegt der Keim aller Erzählung.
Aber dieser Prozess des geistigen Durchdringens der schrecklichen Welt kann nicht in ihr selbst geleistet werden, denn die Gefahren bestehen weiter. Erst in einer Umgebung, die den notwendigen Schutz gewährleistet, kann der Mensch diesen Prozess in Angriff nehmen. Nur dort, in der Abgeschiedenheit der Höhle, am sicheren Lagerfeuer in der Nacht, können Begriffe, Namen, Beobachtungen des Tages in eine sinnvolle Form gebracht werden. Erst der gefahrlose Schlaf ermöglicht ein freies Spiel der Phantasie im Traum. Hier gibt der Mensch seiner Umwelt Sinn.
Erst wenn die schreckliche Welt sich vom sicheren Lagerfeuer in die Nacht zurückzieht, kann der Mensch das Außen in Form von Geschichten reflektieren.
Die Genese von Geschichten ist zu allererst ein metaphorischer Akt zur Sicherung des Überlebens.
Und möglicherweise fällt der Beginn des Menschseins mit dem Beginn der reflektierenden Weltaneignung in Form von Geschichten zusammen.

Punktum! – Gedanken rund ums Lesen I

Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins? Zu welchem Ende zieht sich der Mensch zurück in die Einöde einer Bibliothek und sitzt dort abwesend, über büchern gebückt, in andere welt vertieft, fern des farbenfrohen lebens und treibens der strassen und der kneipen? Eine mögliche Antwort ist vielleicht in dem Umstand zu suchen, dass jede geschichte ein ende hat; ein schluss, der unmissverständlich der welt, die sich dem leser für die dauer des lesens eröffnet, ein ende setzt und kein Weiter zulässt. Im gegensatz zum leben des menschen, das man zwar in zäsuren, lebensabschnitten, perioden und epochen denken kann aber keinesfalls muss, sind geschichten für den menschen eine abgeschlossene Entität, ein vollständige Einheit, eine vollständige welt, in der es nur eine bestimmte Anzahl von Worten, ein bestimmtes Personeninventuar und eine festgelegte, unveränderbare Handlung gibt. Das Leben des Menschen hingegen plätschert dahin und geht weiter, irgendwie, hat oftmals einen mangelnden Spannungsbogen, vielzuviel Personal, zuweilen schlechtes, desweilen zuviele verwirrende Handlunsgstränge, die ins nichts führen oder einfach sinnlos sind. Das Leben muss sich dem Lebenden aus diesem Grund einer abschließenden sinnvollen darstellung und folglich einer vollständigen rationalen durchdringung entziehen. Will der lebende Mensch sein Leben und seine Lebenswelt verstehen, so braucht er wohlgeformte geschichten, seien sie fiktive oder reale Auszüge des Lebens, die Licht auf das geschehen werfen, in denen er eine perspektive auf sein leben und somit zu einer Interpretion, zu einem Verständnis der Welt gelangen kann. Nur dadurch, dass nach dem letzten Satz einer Geschichte ein Punkt steht, vermag der Mensch die Geschichten als ein Instrument zum Weltverständnis und, denken wir weiter, als Planspiel, zur Hanlungsorientierung gebrauchen. Punktum!
meint Iwan Jakowlewitsch
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