Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins? Zu welchem Ende zieht sich der Mensch zurück in die Einöde einer Bibliothek und sitzt dort abwesend, über büchern gebückt, in andere welt vertieft, fern des farbenfrohen lebens und treibens der strassen und der kneipen? Eine mögliche Antwort ist vielleicht in dem Umstand zu suchen, dass jede geschichte ein ende hat; ein schluss, der unmissverständlich der welt, die sich dem leser für die dauer des lesens eröffnet, ein ende setzt und kein Weiter zulässt. Im gegensatz zum leben des menschen, das man zwar in zäsuren, lebensabschnitten, perioden und epochen denken kann aber keinesfalls muss, sind geschichten für den menschen eine abgeschlossene Entität, ein vollständige Einheit, eine vollständige welt, in der es nur eine bestimmte Anzahl von Worten, ein bestimmtes Personeninventuar und eine festgelegte, unveränderbare Handlung gibt. Das Leben des Menschen hingegen plätschert dahin und geht weiter, irgendwie, hat oftmals einen mangelnden Spannungsbogen, vielzuviel Personal, zuweilen schlechtes, desweilen zuviele verwirrende Handlunsgstränge, die ins nichts führen oder einfach sinnlos sind. Das Leben muss sich dem Lebenden aus diesem Grund einer abschließenden sinnvollen darstellung und folglich einer vollständigen rationalen durchdringung entziehen. Will der lebende Mensch sein Leben und seine Lebenswelt verstehen, so braucht er wohlgeformte geschichten, seien sie fiktive oder reale Auszüge des Lebens, die Licht auf das geschehen werfen, in denen er eine perspektive auf sein leben und somit zu einer Interpretion, zu einem Verständnis der Welt gelangen kann. Nur dadurch, dass nach dem letzten Satz einer Geschichte ein Punkt steht, vermag der Mensch die Geschichten als ein Instrument zum Weltverständnis und, denken wir weiter, als Planspiel, zur Hanlungsorientierung gebrauchen. Punktum!
meint Iwan Jakowlewitsch

1 Kommentar

lynkeus · 17.06.2007 um 21:16

Ich stimme dir vollends zu Iwan. Allerdings möchte ich auf einen weiteren Aspekt hinweisen. Die Notwendigkeit von Geschichten für die Generierung von Sinn ist unbestritten, woher aber kommen diese? Sie sind selbst bereits sekundäre, sinnstiftende Reflexionen und Interpretationen der Welt. Eine Orientierung an Literatur ist somit ein tertiäres Ereignis, das sich aber immer auf Erfahrungen draußen in der Welt bezieht und insofern dem vorgegangenen Ereigniss viel näher verwandt als auf den ersten Blick vielleicht erkennbar.
Ein Antizipieren von Literatur zum Zwecke der individuellen Sinnstiftung muss aber immer ein Akt höchster Aufmerksamkeit sein und bleiben. Sonst besteht die Gefahr Ideologien in die Hände zu fallen. Deren Angebot ist immer interessengesteuert und zweckorientiert. Sie nutzen genau das notwendige Bedürfnis des Menschen nach Sinn aus und versuchen den kritischen Punkt an der Grenze von Literatur und Welt zu besetzen, an der der Mensch auf der Suche nach Sinn ansetzt.

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