Nick Cave and The Bad Seeds – Murder Ballads

Obwohl der umtriebige Nick Cave nach wie vor alle Jahre ein Album heraus bringt, in Wien Vorlesungen über Musik hält, Romane schreibt und man aus diesem Grunde ein relativ neues Werk von ihm vorstellen könnte wie die neue Platte „Dig Lazarus, dig“, möchte ich aber auf mein persönliches Lieblingsalbum von Nick Cave hinweisen, „Murder Ballads“ von 1996. Wer im Zusammenhang mit populärer Musik an das Wort Ballade denkt, wird wohl den Kopf schütteln. Es tut das auch zu Recht, wer an schmierige Heulsusen-songs im Schlage von Witney Houston, Celine Dion oder die noch übleren Titel, die im sogenannten R’n’B Bereich Balladen genannt werden, denkt und auch denjenigen, die diese Gattung in Verbindung mit „Metal“ bringen, wird nicht unbedingt wohler bei der Sache. Mir scheint, als bezeichnet man in der zeitgenössischen Popmusik einen übertrieben pathetischen, emotionalen Song langsamen bis mittleren Tempos, der gerne auch mit ein paar sozialkritischen Lampions austaffiert wird, als Ballade.
Nick Cave fasst Ballade offenbar im literarischen Sinne auf, also ein eine im poetischen Kleid erzählte, abgeschlossene dramatische Geschichte, die mit starken Effekten arbeitet, gern auch Schauer und ein wenig Grusel erregen darf, auf jeden Fall aber oft tragisch endet.
Denn genau diesem Schema folgen die Lieder auf dieser Platte. Jedes der Lieder erzählt von Mord und Todschlag. Von Mädchen, die das Meer sehen wollten, und an den falschen Typen geraten (The Kindness of Strangers), von feigen, durchgedrehten Irren, die in eiskalt eine Menge Leute umlegen, ohne den Mut zu haben, sich nach dem Amoklauf selbst zu richten (O’Malley’s Bar) oder von geisteskranken Irren, die ihre zunehmend extremeren Taten mit einem unglaubliche Fatalismus nur notdürftig bedecken (The Curse of Milhaven).
Dabei sind die Songs auf diesem Album immer mit einem großen Schuss Melancholie gewürzt, ganz wie es Nick Caves eigener Definition eines guten Songs entspricht, wie er es auch im Rahmen seines Seminar in Wien programmatisch formuliert hat. Insofern dürfen die Stücke auf diesem Album als typisch für das Songwriting Nick Caves gelten.
Mögen manche Alben von Nick Cave and the Bad Seeds auch den von bunten Popmusik weichgespülten Ohren und Hirnen nicht gerade angenehm klingen, so ist dieses Album doch bei aller Betonung des Textlichen und der unkonformen Länge der Songs ein durchaus eingängiges. Das Duett mit Kylie Minogue ist wohl noch jedem hinreichend bekannt. In Kontext dieses Albums gewinnt das fast zu oft gehörte Stück aber einen neuen, tieferen Glanz.
Auch PJ Harvey ist zu hören, die mir in letzter Zeit mehr als einmal über den Weg gelaufen ist (als Duettpartnerin von Mark Lanegan auf Bubblegum zum Beispiel), was ich als Zeichen und Aufforderung verstehe, mich an diesem Ort in Kürze etwas genauer mit ihrer Musik zu befassen.
Die Stimme von Nick Cave unterstreicht die böser Ironie des Albums zusätzlich. In diesem Sinne:
„La la la La la la lei
Even God’s little creatures, they have to die.“

Samuel Beckett – Murphy

Ich kenne Beckett nicht so gut, um zu erkennen, warum er diesen Roman aus den Dreißiger Jahren später nicht mehr gemocht hat. Dieses kleine Buch hat auch wenig Anklang gefunden, als es zum ersten Mal erschien. Kein Wunder, wenn man die grotesken Figuren und die absurden Dialoge betrachten. Allerdings ist es gerade das, was den Roman so reizvoll macht. Der Protagonist, Murphy, verbringt seine Zeit am liebsten nackt in seinem Schaukelstuhl, wo er in schaukelnder Meditation Erlösung vom Dasein sucht. Murphy leidet an der ihm unüberwindbar scheinenden Kluft zwischen eigener Innerlichkeit und den Anforderungen der Welt, die in Murphys Augen allesamt weitgehend zweitrangig, ja letztliche irrelevant sind. Murphy liebt Celia, die seinetwegen ihre Karriere als Prostituierte vorübergehend aufgegeben hat. Allerdings gestaltet sich das Überleben zu zweit schwierig, da nun keiner von beiden einer Arbeit nachgeht. Der Egoist Murphy findet erst nach langem Lavieren eine Arbeit, die ihm nicht sinnlos erscheint. Diese allerdings nimmt ihn so gefangen, dass er darüber seine Liebe zu Celia vergisst und sie wegen des Jobs verlässt, den er sich ja nur auf ihr Drängen hin gesucht hat.
Der Egoismus aller handelnden Personen ist ein hervorstechendes Merkmal dieses Romans: Ms. Counihan will Murphy wiedersehen, Neary will Murphy wiedersehen, da er Miss Counihan überzeugen möchte, Murphy aufzugeben und sich für ihn zu entscheiden. Wiley will Murphy aus den selben Gründen aus dem Weg räumen.
Murphy überwindet sein egoistisch pathologisches Phlegma nur scheinbar und findet Arbeit in einer Einrichtung für psychische Kranke.
Nur Celia scheint nicht vom Egoismus besessen zu sein. Sie gibt für Murphy ihren Beruf auf, was ihr nicht schwerfallen dürfte. Gelegentlich kümmert sie sich um den alten Kelly, hilft ihm beim Drachensteigenlassen. Dort aber bandelt sie schließlich mit neuen Kunden an, woraus man schließen darf, dass dies einer alten Gewohnheit entspricht und Kelly womöglich eher eine Art Zuhälter ist als ein alter Freund oder Verwandter.
Die Figuren leben mit ihren Spleens und Neurosen in einer scheinbar normalen Welt, die aber alles andere als das ist. Der Egoismus der Menschen und das Streben nach Erfüllung ihrer Gelüste machen aus dem zivilisierten London einen grotesken Ort des Absurden, ja Verrückten im pathologischen Sinne. Die Welt ist einfach wie sie ist, ohne übergeordneten Plan, ohne Ziel, ohne Sinn außer dem, den jeder selbst und auf eigene Faust in ihr sucht. Nur so finden sich Personen auf Zeit zusammen, in der irrigen, ja verrückten Idee, das Gleiche zu wollen, es gemeinsam zu wollen und gemeinsam verwirklichen zu können.
Die Gegegebenheiten der Welt führen dazu, dass die Figuren von ihrem ursprünglichen Plan abweichen müssen, aber nur um sich in einer anderen Spur sofort wieder an ihren ureigenen Spleen zu klammern. So ändert sich die Welt, die Menschen bleiben dieselben.
Die Sonne ist Symbol und stummer Zeuge dieses unerbittlichen Gangs des Kosmos, wie uns der erste Satz, einer der größten Anfangsätze der Literaturgeschichte, auf groteske Weise deutlich macht:
„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
Murphy findet in der Irrenanstalt endlich einen Menschen, von dem er sich verstanden glaubt. Allerdings ist jener Insasse, Mr. Endon, entweder aufgrund seiner psychischen Disposition nicht in der Lage, Murphys Gefühle und Wünsche zu erwidern oder er möchte lieber, wie Murphy ja ursprünglich auch, in seiner Einsamkeit verharren, was für Murphy jedenfalls ein und dasselbe ist. Über dieser Enttäuschung verliert Murphy endgültig seinen Lebenswillen und begeht Selbstmord.
Seine Asche soll zurück in die irische Heimat gebracht werden. Allerdings gerät der Bote mit der Asche in eine Schlägerei, in deren Verlauf sich Murphys Asche über den mit allerlei Unrat bedeckten Boden einer Kneipe verteilt und am darauf folgenden Tag mit samt dem restlichen Dreck im Müll landet.
Wenn mir nun jemand das Buch geschenkt hätte, was hätte diese Person mir damit sagen wollen?
Vielleicht, dass die Welt dort draußen eine verrückte ist, die weder gut noch schlecht, sondern einfach nur grotesk und verrückt ist, so dass man sich in einen radikalen Individualismus flüchten sollte?
Allerdings ist es genau dieser übersteigerte Egoismus, der die Welt zu der macht, als welche sie uns in diesem Roman erscheint! Warnt uns dieser Roman also im Gegenteil vor dem typisch modernen Individualismus, der hier als pathologisches Moment der modernen Gesellschaft in den grellen Signalfarben des Absurden gemalt wird?
Möglicherweise soll es aber auch ein raffiniert versteckter Hinweis zu sein, sein persönliches Verhältnis von Innerlichkeit und Welt zu überdenken.
Ich finde heute keine Lösung, es käme natürlich auch auf den Schenkenden an.
Letztendlich kann auch einfach die herrlich absurde Geschichte, die neben der kräftigen Komik auch eine guten Schuss Melancholie enthält, der Grund sein, diesen kleinen Roman zu verschenken, in dem der spätere Meister des Absurden bereits in allen wesentlichen Zügen zu erkennen ist.

Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes

Normalerweise vertraue ich fast ausschließlich dir Lynkeus, wenn es um die Empfehlung von Literatur geht Ich habe eine Ausnahme gemacht – und wurde nicht enttäuscht.

Barcelona, vierziger Jahre. Daniel ist ein Heranwachsender, seine Mutter starb, sein Vater ist Buchhändler. Als dieser die Zeit für richtig hält, führt er seinen zehnjährigen Sohn zum Friedhof der vergessenen Bücher. Schier endlose, verzweigte, verwinkelte Gänge und Gassen, bis an die steinernen Decken gefüllt mit abertausenden Büchern. Ein Geheimnis. Jeder, der es entdecken darf, übernimmt die Patenschaft für eines von ihnen und muss dafür sorgen, dass es niemals in Vergessenheit gerät. Daniel entscheidet sich für „Der Schatten des Windes“ eines gewissen Julian Caráx und liest es in einer Nacht. Die inhaltliche Geschichte des Buches wird nie wirklich behandelt, vielmehr treten ab jetzt die Hintergründe der Entstehung und vor allem die Geschichte rund um Julian Caráx in den Vordergrund. Mit dem Zeitpunkt, an dem Daniel das Buch zum ersten mal beiseite legt, beginnt die Verschmelzung zwischen ihm, Caráx und dem Schatten des Windes.
Er begibt sich, getrieben von kindlicher Entdeckungslust, auf die Suche nach Hintergründen und Antworten, die er hofft, vom Autor des für ihn so prägenden Werkes zu finden. Immer verwirrender – sowohl für den Leser, als auch für den Protagonisten – werden die Entwicklungen und Zusammenhänge, die ihn auf der Reise begleiten. Jedesmal wenn er denkt, er käme dem Geheimnis rund um die Existenz Caráx´ einen Schritt näher, tun sich vor ihm weitere Verzweigungen, Abgründe und Verwirrungen auf, die ihn jedoch nicht davon abhalten, weiterzuforschen.

Amiina – Kurr

Auf Island kommt es vor, dass Straßen verlegt werden, weil es bei Bauarbeiten zu teilweise schweren Problemen kommt. Maschinen fallen aus, den Menschen wird unwohl und schwindlig. An so einer Stelle, glauben einige Isländer, wohnen Elfen. Diese halten sich vornehmlich in und an großen Steinen und Felsen auf, an denen es auf Island bekanntlich nicht mangelt. In solch einem Fall ist es nicht selten, dass man beschließt, die Straße ein wenig zu verlegen, damit die Elfen in Ruhe weiterleben können. Die verstimmten Elfen kann man besänftigen, indem man Kerzen aufstellt und Musik spielt oder singt.
Zwar sind die vier Damen von Kurr ganz sicher keine Elfen und ihre Musik ist auch durchweg irdisch. Aber solch eine Musik dürfte auch Elfen gefallen. Die ruhigen Schwestern von Sigur Rós könnte man die vier Damen nennen. Streng genommen sind sie nur ein Streichquartett und die Musik des Albums beruht auch in jedem Moment auf sanft wiegenden Streichinstrumenten, die einen endlosen, in ruhigen gedeckten Tönen sich ausbreitenden Teppich bilden, wie er auf dem Cover zu sehen ist. In schöner Bildhafitgkeit durchzieht das musikalische Prinzip die ganze graphische Gestaltung der CD. Vier Frauen sitzen in mittlerer Entfernung an einem Tisch und stricken in sich versunken gemeinsam jenes Vlies, dessen vier Farben ständig alternieren. Die Innenseite der Cd setzt die Metaphorik des Fadens fort. Viele parallel verlaufende Linien verdichten sich zu Worten und Text ohne einmal abzusetzen. Nicht mit dem Lineal , sondern von dem leichten Zittern einer Hand gezogen, laufen diese Linien nie parallel von der einen Seite des Booklets als verschnörkelter Text in jenen Linien aus, die in so korrekter und gerader Anordnung nur das Zittern einer Hand malen kann. Nur zwei Mal verdichten sich die Linien auf der Cd noch einmal: zum Namen der Band und dem Titel der CD.
Entsprechend arm ist die Cd an Text. Der Gesang bleibt immer schwebend nonverbal oder verstummt ganz. Es scheint, als wachse aus dem ruhig Klangteppich die menschliche Stimme nur zeitweise empor, um sich freiwillig in die Harmonie des Klangs zu fügen.
Wie reich diese Cd dagegen an Klang ist. Neben den Klängen der Streichinstrumente, die hin und wieder ein wenig elektronisch untermalt werden, klingt, klingelt, blinkt, funkt und knistert es in einem fort. Ist die Musik von Sigur Rós zu vergleichen mit einem einsamen Spaziergang in den eisigen Hügeln des mitternächtlichen Islands, so ist diese Cd hier das Gegenstück dazu. Ein Blick aus einer kleinen, warmen, halbdunklen Hütte, der auch der schlimmste Sturm nichts anhaben kann, hinaus in das lange Schwarz der isländischen Nacht. Ein Blick, der in den paar hellen Metern vor dem Fenster nach jenem einsamen Wanderer sucht und weiß, dass er endlich kommen wird, ja muss.
Mit solch einer Musik, die man vielleicht isländische Romantik nennen kann, könnte man sicherlich die erzürnten Elfen besänftigen. Und wenn ich manchmal mit den Liedern dieser wunderschönen Cd im Ohr abends am nahen Waldrand vorbeikomme, dann ist mir hin und wieder so, als würde ich beobachtet.

Biosphere – Cirque

Das Schicksal des Aussteigers Christopher McCandless scheint die Menschen nachhaltig zu beschäftigen. So hat sich auf Geir Jenssen alias Biosphere von dem Schicksal Christopher McCandless inspirieren lassen. Das Ergebnis ist dieses Album, das zwar nicht zu den besten Biospherescheiben zählt, aber dennoch tief zu beeindrucken weiß.
Ungewöhnlich für Biosphere ist der Beat, der sonst im Allgemeinen fehlt, hier aber an einigen Stellen seine strukturierende Funktion zurückgewinnt. Ebenfalls auffallend ist die Verwendung von Sprachfetzen in verschiedenenen Sprachen. Hat man erwartet auf diesem Album Naturgeräusche zu hören, so wird man enttäuscht. Dass gerade die Natursamples auf einem Album fehlen, das sich mit dem Schicksal des Aussteigers McCandless in Alaska auseinandersetzt, ist auf den ersten Blick um so erstaunlicher, da Aufnahmen aus der Natur oft auf den Platten von Biosphere verwendet werden. Ja es gibt sogar ein Album, das nur aus arrangierten Geräuschen besteht, aufgenommen im Zusammenhang mit Geir Jenssens Trip in den Himalya.
An einigen Stellen, Zum Beispiel gleich zu Beginn, meint man Nauturaufnahmen zu hören. Allerdings handelt es sich hierbei um künstliche erzeugte Klangbilder, die die Natur lediglich nachahmen sollen. Vielleicht noch nicht einmal das, sondern in ihrer Künstlichkeit lediglich auf die Natur verweisen. Überhaupt ist das Verhältnis von Natur und Kunst auf dieser Platte das zentrale Motiv. Vor diesem Hintergrund sind die diversen Spachsamples zu sehen, die eine recht große Variation aufweisen. Von Fetzen aus Telefongesprächen über Regieanweisungen bis hin zu monologischen Wiederholungen komponierter Satzstrukturen, die in beinahe Verscharakter bekommen.
Die Stellung des Menschen zwischen Natur und Kultur ist das Hauptthema der Platte, Nur so kann sich das Grundmotiv zu einem quasi-tragischen Moment weiterentwickeln. Das Verhältnis von Kultur und Natur ist nur dann überhaupt von Interesse, wenn versucht wird, den Menschen innerhalb dieses Spannungsverhältnis zu verorten und genau dieser Versuch ist hier unternommen.
Die Platte zeichnet den letzten Lebensabschnitt McCandless nach, allerdings nur in einem punktuellen Herausgreifen einzelner Stationen. Dass diese Wegmarken vielmehr innerer Natur sind, darf man aus der Tatsache schließen, dass die Musik mit zunehmender Dauer immer dunkler und bedrohlicher wird. Die Titel der einzelnen Stücke stützen das. „Too fragile to walk on“ heißt das letzte Lied.
Je weiter der Aussteiger sich von der Zivilisation entfernt, desto dunkler wird sein Schicksal, was nicht heißt, dass die ersten Partien der Platte fröhlich klingen. Im Vergleich mit den letzten Stücken der Platte erzeugen sie aber immerhin den Eindruck einer zum Überdruss gewordenen Gewöhnung an die materielle Kultur. Gerade die ständig wiederholten Sprachsamples untermalen diesen Eindruck. Die dialektische Struktur der Liedtitel (z. B. Black lamb & grey falcon; Moistened & dried; Algae & fungi) transformieren das Grundmotiv zu einer Beschreibung der Möglichkeiten der Existenz des Menschen in Angesicht Natur, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht und außerhalb der Kultur absolute Anpassung an ihre Gesetzmäßigkeiten fordert. Dazu rücken die dialektischen Liedtitel die innere Reise von McCandless zunehmend in ein mythisches Licht. Der Weg des Aussteigers führt aus der hochtechnisierten, der Natur weitgehend entrückten Zivilisation zurück in das mythische Reich einer mystischen Vereinigung des Menschen mit der Natur. Seinen dramatische Höhepunkt findet die Platte im neunten und zehnte Lied, die den oben erwähnten Beat auf eine für Biosphere ungewöhnliche Art und Weise in den Mittelpunkt rücken.
Man darf in diesem beiden Stücken McCandless Ankunft in der Wildnis erkennen, die Etablierung seines Stützpunkts in jenem alten Bus. Die vergleichsweise Heftigkeit des Beats spiegelt weniger die Euphorie des Aussteigers an einem Ziel angekommen zu sein als vielmehr das hektische Getriebenwerden, radikal Ruhe- und Rastlose des Aussteigers, der im Umkreis um seinen Bus die für Touristen (?) angelegten Notplätze verwüstet, um sich auch von den letzten Resten der Zivilisation abzuschneiden.
McCandless stirbt (ob an Hunger oder an einer Vergiftung ist letztlich nicht von Bedeutung) schließlich, nachdem er einige Monate allein, ohne Kenntnisse der Wildnis, ohne nennenswerte Ausrüstung im eisigen Alaska überlebt hat.
Diese Platte ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass die Geschichte von Christopher McCandless das Zeug hat, zu einem postmodernen (ich entschuldige mich für die Verwendung dieses Begriffs) Mythos zu werden. In tragischer Weise zeigt uns sein Schicksal, das keinerlei romantische Verbrämung erlaubt, dass der Prozess der Zivilisation den Menschen (abgesehen von einigen Naturvölkern) vollständig vereinnahmt und ihn von seinem einstigen Umfeld, das er immerhin die weitaus meiste Zeit seiner genotypischen Entwicklung bewohnt hat, vollständig abgeschnitten hat. Wir können nicht mehr zurück zur Natur, nur mit hohem Aufwand ist dies für begrenzte Zeit möglich. Wir sind Sklaven unserer eigenen Kultur, die uns so beherrscht wie es einst die Natur mit uns tat. Kultur als die Möglichkeit den Menschen aus seiner naturräumlichen Umklammerung zu befreien ist umgeschlagen in eine erneute vollständige Abhängigkeit des Menschen von der selbst erschaffenen Kultur. Eine Flucht aus der Zivilisation zurück in die Natur ist, wie uns das Beispiel von Christopher McCandless zeigt und die vorliegende Platte eindrucksvoll unterstreicht, nicht mehr möglich. Dort erwartet den Aussteiger nur noch der Tod.

Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“

Bildungsbürgerlicher Scheißdreck oder literarische Sensation, wunderbare Satire auf die deutsche Klassik oder blasierte Schreibereien eines ehemaligen Philosophiestudenten mit mathematischen-naturwissenschaftlichen Ambitionen? Die Geister spalten sich anscheinend, wenn es um dieses Buch von Jungautor Daniel Kehlmann geht. So jedenfalls meine Erfahrung, wenn man mit Leuten darüber ins Gespräch kommt. Ich fand es jedenfalls echt nicht schlecht, ziemlich subtil und vor allem wichtig: Gut gelacht habe ich auch an einigen Stellen. Bei der „Vermessung der Welt“ handelt es sich um eine Doppelbiographie. Im Wechsel der Kapitel erzählt Kehlmann, meist sehr raffiniert in indirekter Rede seiner Figuren, die sehr skurrilen Lebenswege und Abenteuer zweier genialer deutscher Wissenschaftler: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Beide begeben sich von unterschiedlichen Richtungen her kommend auf die Vermessung der Welt. Der eine von Seiten der Mathematik herkommend, der andere von Seiten der Naturwissenschaften. Der Leser erfährt einiges über den Lebenswandel der beiden: Während Humboldt durch den Dschungel robbt, fast an Selbstversuchen mit giftigen Pflanzen krepiert, unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte und auch fast seine Lebens Sechstausender in Lateinamerika und lavaspeiende Vulkane ersteigt, nur um dort Messungen vorzunehmen, denkt Gauss schon als 16jähriger die herkömmliche Geometrie an seine Grenzen, errechnet später sagenhafte Formeln und beweist nebenbei die Krümmung des Raumes. Beiden Helden kommen die genialsten Ideen und Erfindungen, sehr zur Erheiterung des Lesers, meist in den banalsten Situationen. Gauss unterbricht zum Beispiel den Beischlaf mit seiner Braut während seiner Hochzeitsnacht, um ein paar wichtige Formeln zu notieren. Die Braut und manch anderer, dem Gauss auf diesen 300 Seiten begegnet, fühlt sich im Umgang mit dem Mathematiker manches Mal wie von einem Pferd getreten. Beide Figuren sind in ihrem Streben, die Welt zu erkennen und rational zu druchdringen absolut kompromisslos und dadurch gleichzeitig weltfremd. Humboldt ist in auf seinen Expeditionen ein geistiger Verwandter von Aguirre, ein Fitzcarraldo, ein Mr Kurtz. Gauss ist der Inbegriff des irren Professors. Beide dringen durch ihre Forschung aus der Finsternis der Aufklärung hinaus, erahnen nebenbei das Ende des absolutistischen Zeitalters und treten in die lichte, entzauberte Welt der naturwissenschaftlichen Rationalität. Und das alles mit beschwingender Leichtigkeit. Kehlmann kann reduzieren, das ist wohl das vielleicht geniale Verdienst hier in diesem Buch. Er hat es geschafft, diese beiden vitae auf einige essentielle Zeitspannen herunterzukürzen, so dass in ihnen sehr schön und klar Mentalität, Zeitgeist an der Schwelle einer neuen Epoche sichtbar werden. Die mathematischen Ausführungen zu dem Gaussschen Treiben jedoch, seien sie noch so mühevoll simplifiziert und reduziert, habe ich aber natürlich wieder nicht verstanden. Ich sag nur: Mathe 1 Punkt.

Jon Krakauer – In die Wildnis / Eddie Vedder – Into The Wild

Manchmal offenbart das Leben Zufälle, die beim zweiten Hinsehen gar kein Zufall sein können, Schicksal vielleicht, aber kein Zufall. Oder gibt es da vielleicht gar keinen Unterschied? Egal, sollen sich doch andere über das Warum Gedanken machen. Ich habe vor einigen Tagen zufällig entdeckt, dass Eddie Vedder, der Sänger von Pearl Jam, sein Soloalbum „Into The Wild“ veröffentlicht hat – gesehen und gekauft. Der Soundtrack zum gleichnamigen Film, was ich spontan vernachlässige und mir auch ziemlich egal ist. Nach dem ersten Hören gefallen mir ausnahmslos alle Titel – leider nur elf an der Zahl, bei einer Spielzeit von knapp mehr als 30 Minuten – ausgesprochen gut. Diesmal nicht nur gefühlt, sondern tatsächlich viel zu kurz. Nachdem ich das letzte Buch von Jon Krakauer „In eisige Höhen“ beiseite legte, wollte ich direkt mehr. Beim Stöbern im Buchladen finde ich sein Buch „In die Wildnis“ und blättere darin. Sofort fesselt mich die Geschichte um Chris McCandless. Im Moment als ich zur Kasse gehen will, sehe ich einen Stapel Bücher vor mir, mit einem Cover, dass mir doch sehr bekannt vorkommt. Der gleiche grün-weiße Bus mit der markanten, verwitterten Nummer 142 auf der Seite. Darauf sitzend der gleiche Typ, den ich auf dem Cover der CD, die ich vor kurzem gekauft habe, für Eddie Vedder hielt. Fast schon peinlich berührt schaue ich mich um, aus Angst jemand lacht mich bei dieser Offensichtlichkeit aus. „Into The Wild“ – „In die Wildnis“ – da hätte man auch gleich drauf kommen können. Die gestapelten Bücher sind die Neuauflage der gleichen Geschichte, die nun von Sean Penn verfilmt wurde, dessen Soundtrack mich unwissentlich die letzten Tage begleitete. Die nächsten Stunden verbringe ich damit, die beiden zusammenzuführen. Ich starte die Reise.

Chris McCandless ist Anfang 20 als er beginnt das Leben zu leben, das schon immer in ihm schwelt und mit aller Macht die Zügel in die Hand nehmen möchte, und nicht mehr jenes, welches von ihm erwartet wird. Aufgewachsen in überaus soliden Verhältnissen, überdurchschnittlich begabt was schulische und sonstige vermeintlich erstrebenswerte Leistungen angeht, sucht er schon früh nach Alternativen, um aus diesem für ihn beklemmenden und einschränkenden Umfeld von Zeit zu Zeit auszubrechen. Zwar spielt er seine Rolle, kommt aber immer weniger umhin, sein wahres Ich zu verbergen. So beginnt er immer häufiger damit, jede sich ihm bietende Möglichkeit zu nutzen, um auf Reisen zu gehen. Nach seinem Universitätsabschluss kann er sein lange gehegtes Ziel endlich verwirklichen. Er bricht alle Kontakte, allen voran den zu seinen Eltern, ab, verschenkt und lässt zurück, was ihn bindet und beginnt seine Erfüllung zu leben. Auf seiner zweijährigen Reise durch den Westen der USA hinterlässt er deutliche Spuren, die Krakauer durch seine Fotos, Tagebucheinträge, die er vornehmlich in Büchern als Randnotizen verfasst und zahllosen, aber nie belanglosen Bekanntschaften, nachzeichnen kann. Der Autor schafft es wieder, wie schon in „Eisige Höhen“, eine Geschichte, deren grober Verlauf und vor allem deren Ende schon hinlängliche bekannt scheint, so zu erzählen, dass es den Leser mitreißt. Es scheint nicht wichtig zu wissen, wie es endet, wichtig ist nur, das Erzählte von Anfang an mitzuerleben. Dabei zu sein. Wie McCandless es schafft durch sein Wesen, seine Taten, seine Worte, Menschen zum Nachdenken zu bringen, ihr Leben in Frage zu stellen, Dinge zu ändern, die als selbstverständlich angesehen werden, einfach nur, weil sie schon immer so waren. Das ist das faszinierende an der partiellen Biografie in diesem Buch. Man muss ihn nicht romantisieren, diesen Menschen, der sich am Ende fast völlig unwissend der gnadenlosen Natur des „wilden Alaskas“ stellt, nur um den Tod zu finden. Denn die Frage stellt sich beim Lesen ständig: ist er einfach nur ein durchgeknallter Junge, der sich über- und den Rest der Welt unterschätzt, oder ein Suchender, der etwas findet, was er nicht suchte? Darum geht es aber nicht. Viel wichtiger als die Tatsache, dass McCandless wahrscheinlich in der Tat viel zu blauäugig in die Wildnis Alaskas zog ist doch, dass er seiner Bestimmung folgte. Er tat das, was er für richtig hielt, was ihn trieb, was für ihn das Leben bedeutete. Den Tod auf diese Weise zu finden, befinden viele als dumm und am Ende auch als gerechtfertigt – gar als logischen Schluss – dennoch glaube ich, dass hier nicht das Ende wichtig ist, sondern der Weg, den er beschritt. Bei der Kritik, die dabei immer wieder auftaucht, vergessen diejenigen, die ihn für sein Ende belächeln, dass sein Ziel nicht das Überleben in der Wildnis war. Sein Ziel war das Leben in seiner ursprünglichsten Freiheit, nur geschmälert durch Zwänge, die rein körperlicher Natur sind: Nahrung und Schlafen. Auf seiner Reise, die ihn durch fast alle Staaten der Westküste der USA bis nach Mexiko führen, finanziert durch Gelegenheitsjobs und Bettelei reduziert er sich auf sein Selbst. Er lebt das Leben eines Aussteigers bis aufs Äußerste, scheut keine Gefahren und schafft es dennoch, Menschen zu begeistern. Eigentlich könnte man meinen, dass ein Charakter mit dieser nicht zu verleugnenden misanthropen Haltung die Einsamkeit sucht, um den Menschen zu entfliehen. Vielmehr glaube ich allerdings, dass er zu sich selbst finden musste, um anderen Menschen zu begegnen. Durch Krakauers Recherchen wird deutlich, dass er das in seinen Anfängen auch schaffte.

Als McCandless sein Ziel – Alaska – im April 1992 erreicht, begibt er sich auf den „Stampede Trail“ im Denali-Natinoalpark. Nach einigen Tagen erreicht er einen verlassenen Autobus. Dieser diente in der Zeit der bald aufgegebenen Erschließung des Gebiets als Unterkunft für die Arbeiter. Auch er nutzt ihn als Basiscamp für seine, ab nun rund 110 Tage – der genaue Zeitpunkt seines Todes ist nicht mehr rekonstruierbar – dauernde Expedition bis zu seinem Ende. Er ernährt sich ab jetzt nur noch von dem, was die Natur ihm anbietet und nennt sich von nun an Alex Supertramp. Seine einzigen Begleiter sind die Moskitos und die Literatur von Thoreau, London, Tolstoi und Pasternak. Trotz mangelnder Erfahrung und Ausrüstung hält er sich wacker. Die genauen Umstände, die letzten Endes zu seinem Tode führen, sind bis heute nicht geklärt. Er wird krank und verhungert.

Georg Kreisler – Gibt es gar nicht

Zugegeben: Diese Biographie über Georg Kreisler ist eine Liebhaber-Geschichte. Wer die bitterbösen Lieder des Wiener Chansoniers kennt und schätzt, wird sie sich früher oder später zur Brust nehmen. Trotzdem ist es kein Fehler, ihr eine Blogg-Besprechung zu würdigen, da es sich bei dem Herrn mit der schweren schwarzen Hornbrille (s. Bild) um eine faszinierende Persönlichkeit mit einer interessanten Künstler-Vita in einer spannenden Wirkungszeit, die der 40er und 50er Jahre, handelt. – Zunächst zur Person und seinem musikalischen Oeuvre: Kreisler wird 1922 in Wien geboren. Kindheit und frühe Jugend sind unglücklich. Der Vater ist zu streng und beharrt auf einem Brotberuf für seinen Sohnemann. Dazu ist er noch Jude. Mit der Familie flieht er nach der Annektion Österreichs durch das Dritte Reich in die USA, wo er seine musikalische Laufbahn am Konzertflügel aufnimmt und in typischen Humphrey Bogart-Bars und Kaschemmen spielt. Er wird eingezogen in die US-Army und zieht aus in den Krieg. 1955 kehrt er nach zahlreichen Misserfolgen nach Wien zurück und kommt als Kabarettist in der ausgehenden 50ern und in den 60er Jahren zu Ruhm. Kreisler schreibt „schwarze“ Chasons und hat für alles Etablierte und Bornierte, Heuchlerische und Angepasste ein böses poetisches Wort, eine verbale Ohrfeige übrig. Heute lebt Kreisler fünfundachzigjährig nach drei verschlissenen Ehen, von der Welt vergessen, in der Nähe von Salzburg. Er schreibt Opern, mehr zur eigenen Erfüllung als zur Aufführung. – Die Autoren des Buches, Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert, führen den Betrachter zu den wichtigen Stationen in Kreislers Leben und das vor allem in Gestalt gut und amüsant geschriebener Anekdoten. In diesen ganzen kleinen Geschichten, die in den Zeit der großen Umwälzungen und an den faszinierendsten Settings wie Hollywood, L.A., Berlin und Wien im Nachkriegsdeutschland spielen, erscheint der kauzige Kreisler als rebellischer Anarcho-Musiker, der seine Lieder schreibt, mal mehr, mal weniger fürs Publikum. Und bevor man sich versieht erlebt der Leser die ganz große Weltgeschichte im Kleinen. Einige Stories seien mal erwähnt: Die Biographie beginnt beispielsweise mit dem Familienbetrieb in Wien, in dem das Fußpuder „Teddy“ hergestellt wird. Hier begegnet man kurz einem arbeitslosen Künstler und Graphiker mit einem lächerlichen Schnauzbärtchen, der gelegentlich Aufträge für Werbetafeln gegen Schweißfüße in den Strassenbahnen zeichnet. Nach der Annektion taucht bei der jüdischen Familie Kreisler/Hochberg die Gestapo auf und verlangt alle Skizzen des frischgebackenen Reichskanzlers und ehemaligen Werbedesigners Hitler zurück. In seiner Zeit als GI wird wird Kreisler mit Henry Kissinger zum Verhörspezialisten ausgebildet, über den Kreisler kein einziges gutes Wort verliert. Nach dem Krieg leitet Kreisler die Vernehmungen von Nazi-Exgrößen wie Streicher (Chef des Völkischen Beobachters) in Nürnberg. Dieser erinnert sich lediglich und sehr beharrlich daran ein vertrottelter Volksschullehrer zu sein (was ja so unrichtig nicht ist). Auch Göhring gehört zu seinen Schäfchen. Göhring will Kreisler zum persönlichen Mitstreiter gegen den Russen machen und kreuzt dann zum letzten Gespräch dann doch nicht mehr auf. Zurück in den Staaten tingelt Kreisler mit seinen schwarz-humorigen Shows durch die Kneipen in L.A. und macht sich bei dem amerikanischen Kleinbürgertum der 50er Jahre eher unbeliebt durch seine Lieder „My psychoanalyst is an idiot“, „Please shoot your husband“. Und wie immer in Hollywood kommt dann auch zum Film. Er schreibt Filmmusik für Charley Chaplin, spielt selbst in kleinen Nebenrollen in Filmen mit. Der große Durchbruch erfolgt dann jedoch in Wien. Das Lied „Taubenvergiften“ gehört zwar zu seinen größten und wohl bekanntesten Hits. Er selbst hasst es wie die Pest. Die Größe liegt in den unauffälligeren Liedern, in denen er oft virtuos klassische Musikstücke zitiert („Die Triangel“). In den 68ern schlägt er sich auf die Seite der Studentenbewegung und singt das Lied von der durchbrochenen „Bannmeile“ und „Wer schützt die Polizei“. Ungeachtet der Publikumswünsche wendet er sich dann Dadaistischer Wortspielereien zu („Max auf der Rax“) und macht seit den achziger Jahren konsequent sein eigenes Ding. – Wie angedeutet, zuletzt hörte man von Kreisler, dass er an einer ganzen Opernserie schreibt… und das nur für die Schublade. Kreisler gibt keine Interviews (außer für Freunde wie Fink und Seufert), verweigert jegliche Preise, die man ihm für sein Lebenswerk andrehen will. Österreich, das ihn wieder als Bürger und Ehrenbürger haben will, wirbt heute täglich um ihn. Kreisler schickt jegliche Post zurück und besteht am Telefon für alle, die ihn nun totloben wollen, darauf: „Kreisler gibt es gar nicht!“ – Kreislers Lieder sind historische Aufnahmen. Als solche muss man sie als solche hören. Und vor allem, um ein Gefühl und vielleicht eine Begeisterung entwickeln zu können, muss man die Lieder live hören. Kreisler tritt ja selber nicht mehr auf und auf CD ist die Magie und Kraft oft nicht mehr spürbar. Am 12. Dezember gibt es allerdings in der Durlacher Orgelfabrik einen Kreislerabend, an dem Konstantin Schmidt am Flügel einen Auszug aus dem Kreislerschen Werk präsentiert. Dazu ist zu raten, auch wenn Schmidt ein dummer Lackaffe ist (wie ich neulich im Gespräch bemerken durfte). – Schlussendlich: Nette Biographie (keine Weltliteratur!) zu sehr guten Chasons eines zynischen Querulanten.
P.S.:
Ebenfalls hörenswert: Kreislerplatte von der Punk-Band „Die Kassierer“

Selim Özdogan – Die Tochter des Schmieds

Selim Özdogan erzählt die Lebensgeschichte von Gül, der Tochter des Schmieds Timur. Er erzählt ihr Leben in der Türkei der 40iger bis zu Güls Auswanderung nach Deutschland, irgendwann Ende der 60iger Jahre. Beginnend mit Güls Mutter, der schönen Fatma, bewegt sich die Geschichte stets im kleinstädtischen oder dörflichen Milieu. Das Leben der Menschen dort ist einfach, folgt klaren Regeln, die von der Tradition, der Religion und der Familie vorgegeben werden. Mitunter entsteht ein idyllischer Eindruck, der hin und wieder durch gezielte Schläge des Schicksals nur noch vermehrt wird. Das Buch lebt hauptsächlich von der einfachen aber schönen Sprache, die sich gelegentlich derb aber auch poetisch geben kann. Insofern scheint mir hier die einfache Sprache der Menschen gut getroffen zu sein, unabhängig von der Muttersprache, die man sprechen gewohnt ist. Es ist eine große Kunst, das Wesen der Menschen in der Sprache, ja mittels der Sprache vorstellbar, erfahrbar zu machen. Dies gelingt dem Autor in diesem kleinen Roman an jeder Stelle, egal, ob man die Männer fluchen, die Mädchen singen oder die Ehepaare schweigen hört. Vielleicht sind die Personen, vor allem die drei Schwestern Gül, Melike und Sibel etwas zu künstlich gezeichnet, denn so schön es ist, die drei unterschiedlichen Charaktere miteinander aufwachsen zu sehen, so auffallend unwirklich kommt mir die charakterliche Symmetrie der Schwestern vor. Gül, die älteste, ist brav, still, duldend, während ihre kleinere Schwester Melike ein Wirbelwind ist, die trotzig immer ihren Kopf durchzusetzen weiß, sich nichts gefallen lässt. Sibel ist die jüngste der drei und steht zwischen den beiden. Von Melike hat sie den manchmal überzogenen Gerechtigkeitssinn, von Gül das Duldende, Brave.
Zwischen Einfachheit der Menschen und ihrer Schicksale und der bezaubernden Einfachheit der Sprache läuft der Roman nie Gefahr, platt zu werden. Sicherlich sind die Ereignisse alles andere als dramatisch oder gar tragisch. Gül erlebt, was jedes Kind erleben muss: ungerechte Behandlung, Zurückweisung, Scham, Schuld, Einsamkeit, aber auch Glück, Geborgenheit, Freundschaft. Aber gerade diese unprätentiöse Schlichtheit macht den Reiz des Romans aus, die ihre Höhepunkte in den frühen Kapiteln findet, in denen der poetische, ja fast märchenhafte Schimmer der Geschichte am stärksten und wirkungsvollsten ist. Die Kindheit ist ein mythisches Reich von der Welt der Erwachsenen aus gesehen, im Guten wie im Schlechten. Im letzten Abschnitt spricht Gül für einen Moment selbst. Bevor sie diese Welt verlässt, erklärt sie eindringlich, dass auch ihr einfaches Leben einen tiefen Sinn hatte. Gül ist in diesem Punkt zu beneiden, denn sie hat diesen Sinn gefunden.

Thomas Karlauf – Stefan George. Die Entdeckung des Charisma

Das ist es also. Vor einigen Jahren schon nahm ich mir vor, eines Tages eine Biographie Georges zu schreiben. Eine, die jenseits des hagiographischen Schrifttums der George-Jünger aber auch abseits der negativen Blickwinkel ihren Platz finden und George den ihm gebührenden in der deutsch-europäischen Literaturgeschichte zuweisen sollte. Mit dem Erscheinen von Karlaufs Biographie sehe ich mich dieser Aufgabe weitgehend enthoben. Als ich zum ersten Mal bewusst mit George in Berührung kam, führte keiner der großen Taschenbuchverlage eine Ausgabe seiner Werke im Programm. Das hat sich mittlerweile geändert. Es schien, als habe man George vergessen. In die Welt zwischen 68 und Mauerfall schien diese Gestalt und vor allem sein Werk nicht zu passen. Und ehrlich gesagt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es auch in unsere heutige Zeit nicht passt. Aber das muss auch nicht sein. Mehr noch als sein Werk, das dem Leser einiges abverlangt und das weit ab von den bunten Brackwasserlachen eines Erich Fried und Konsorten liegt, musste gerade den 68ern die Person verdächtig erscheinen. Oft, und auch nicht zu Unrecht, wurde George zum Vorwurf gemacht, dass seine Vorstellungen eines „Geheimen Deutschland“ die Ideologie des Nationalsozialismus bereichert und gestützt haben. Von einem neuen „Reich“ ist in seinem Werk die Rede, von einem mit quasi göttlicher Legitimation ausgestatteten „Führer“, von Opfertod und Unterordnung, vom Untergang des Alten und der Erschaffung eines Neuen aus dem Geist der Kunst. George starb Ende 1933, Avancen des neuen Staates, wie den Vorsitz einer neuen Akademie der Schönen Künste lehnte er ab, vom Politischen hatte er nie viel gehalten, ja ein Grundzug seines Denkens ist gerade die radikale Trennung des Politischen von der Kunst. Und doch kann man ihm einen mehr oder weniger latenten Antisemitismus vorwerfen, wie vielen seiner Zeitgenossen übrigens auch. Andererseits fühlten sich gerade viele deutsche Juden zu seinem Kreis angezogen, was diesen wiederum in rechten Kreisen verdächtig gemacht hat. Zu seinem Kreis gehörten begeisterte Anhänger der Nationalsozialisten und entschiedene Gegner wie Boehringer, grandiose Gelehrte wie Gundolf, Kommerell und Kantorowicz und krude Spinner wie Alfred Schuler. Kein Wunder, dass George mit Vorsicht zu genießen ist. Ohne Probleme kann man ihn einen Apologeten Hitlers nennen, einen unpolitschen, weltabgewandten, um die Folgen seiner Gedanken fahrlässig unbekümmerten, ja ignoranten Poeten, einen Päderasten, einen bedeutenden Pädagogen im Sinne einer ästhetischen Welterfahrung, einen Förderer der Kunst und einen egomanischen Homosexuellen mit einem ins Gegenteil gesteigerten Minderwertigkeitskomplex, der zur Befriedung seiner sexuellen Begierden wie seiner charakterlichen Defizite einen bestimmten Schlag von Männern um sich scharte und einige von ihnen in den Suizid trieb.
Schmal ist der Grad, auf dem sich der Biograph bewegt und tief der Abgrund über dem er steht, wenn er sich zu einem Georgebuch entschließt. Die Aufgabe wird durch den Umstand erschwert, dass jede Veröffentlichung zu George dem potentiellen Verdacht ausgesetzt ist, in den Kreis der sich im Castrum Peregrini versammelnden Verehrer Georges gezogen zu werden, die bis heute eine mehr oder minder starke, aber auf jeden seltsam anmutende, quasi-religiöse Verehrung George üben, die spätestens an der Schwelle eines neuen Jahrtausends jedem als gefährlich erscheinen muss, der auch nur flüchtig auf der 20. Jahrhundert zurückblickt.
Gäbe es nicht einen Namen, ein Mitglied jener „geheimnisvollen“ männderbündischen Sekte, einen Namen, den man in Deutschland jeden Tag mit „Edding an die Wände“ werfen sollte, würde man George längst nicht nur literarisch beerdigt haben, sondern auch sein Werk dem völkischen Dreck zugeschlagen und George aus dem kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik getilgt haben: Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Als rettender Strohhalm des kollektiven Gewissens der Deutschen sollte ihm und seinen Mitstreitern stets Hochachtung entgegen gebracht, auch wenn er beileibe kein überzeugter Demokrat war, zu dem er von der bundesrepublikanischen Mythogenese manchmal gemacht wird.
Macht man sich all dies klar, so sieht man, wie groß und wie gefahrvoll die Aufgabe Karlaufs gewesen ist und man kommt nicht umhin, ihm Respekt zu zollen. Er schafft es, obwohl, oder besser trotz seiner Verbundenheit mit dem Castrum Peregrini, eine gut abgewogene Biographie zu schreiben. Manchmal geht er für meinen Geschmack mit seinem Wunsch nach Neutralität ein bisschen zu weit, was angesichts des Themas aber wohl kein Fehler ist. Es gelingt ihm gut, das Geheimnis jenes Männerbundes zu entmystifizieren. der unter dem Namen „George-Kreis“, zumindest in der Literaturwissenschaft zweifelhafte Berühmtheit erlangt hat. Letztlich reduziere sich das Geheimnis des Kreises auf das Sexuelle. Das klingt plausibel, ist doch nachweisbar, dass einige aus dem Kreis selbst das Geheimnis nicht kannten, oder was sie sahen, nicht verstanden. Zwar wird das Leben im Kreis detailliert geschildert und damit auch die bisweilen dramatischen persönlichen Folgen für die „Jünger“ nicht unterschlagen, aber die Perspektive geht in diesem Punkt wohl etwas zu sehr von der zentralen Gestalt des Meisters George aus. Den negativen psycho-sozialen Folgen für die oftmals noch recht jungen Männer innerhalb des Kreises wird der Autor nicht immer gerecht.
Dieser Weg der Entmystifizierung mag einigen vielleicht nicht gefallen, weil er zeigt, dass Mythen oft nur solange funktionieren, wie jemand an sie glaubt. Interessant an George ist, dass er sich von seinem eigenen Mythos hat forttragen lassen. Wo ein Geheimnis war, bleibt Illusion, Suggestion und charakterliche Disposition übrig. Zuletzt sollte man angesichts der schillernden Gestalt George und seiner Selbststilisierung nicht seine Gedichte vergessen, die in meinen Augen mit dem besten gehören, die in deutscher Sprache je geschrieben wurden. Und anstatt zum Abschluss einen Vers zu zitieren, gedenke ich stattdessen lieber dem zu früh verstorbenen Wolf-Daniel Hartwich, durch den ich zum ersten Mal in Kontakt mit der grandiosen Lyrik von Stefan George kam.

Biosphere – Autour de la lune

Wer am 23. März 2001 von den Fidschi-Inseln aus in den Himmel sah, der konnte es sehen. Gegen sieben Uhr in der Früh verglühten über dem Pazifischen Ozean die Überreste der russischen Raumstation Mir. Vielleicht ging damit in der Geschichte der bemannten Raumfahrt ein besonderes Kapitel zu Ende, dessen Fortsetzung in Form der ISS um die Erde kreist, es muss aber auf jeden Fall ein schöner Anblick gewesen sein.
Wer schon mal eine Sternschnuppe gesehen hat, und ich hoffe, jeder hat das schon einmal, der weiß wovon hier die Rede ist. Diese Sternschnuppe allerdings war menschlichen Ursprungs. Von Menschen zusammengesetzt, ins All geschossen, schließlich von Menschen kontrolliert abgebremst und zu Sternschnuppe gemacht. Wie weit es der Mensch doch gebracht hat.
Die Platte hat ihren Namen von dem ebenso betitelten Roman von Jules Verne. Zu deutsch: „Reise um den Mond.“ Diese Fortsetzung des Romans „Von der Erde zum Mond“ beschreibt schließlich die tatsächliche Reise zum Mond, die allerdings zu einer Reise um den Mond wird, während der erste Teil sich hauptsächlich den Vorbereitungen widmet. Interessanterweise stürzt das Projektil, in dem die Raumfahrer von Jules Verne zum Mond geschossen werden, bei der Rückkehr ebenfalls in den Pazifik.
Möglicherweise hat sich der Norweger Geir Jenssen, der hinter Biosphere steckt, von dieser Koinzidenz dazu inspirieren lassen, Geräusche und Töne aus der Mir in seiner Interpretation von Jules Vernes Roman zu verarbeiten.
Drei Quellen vereinen sich hier zu einer der extremsten Ambient-Platten:
Aufnahmen aus der Mir-Raumstation, Material aus dem französischen Hörspiel, sowie eigenen Kompositionen Geir Jenssens.
Allein das erste Stück „translation“ dauert 21 Minuten und bietet fast durchgehend einen einzigen Ton, der nur selten einmal unterbrochen oder verzögert wird, quasi einen kleinen Umweg macht, wie Licht, das sich in der Nähe einer Schwerkraftquelle krümmt. Nur um wenige Hertz schwankt der Ton um seine Mitte und bildet somit ein Signal, das seinen Empfänger sucht. Gleichzeitig dient er als Leitstrahl, der den Kurs bestimmt.
So eintönig dieses erste Stück auch klingen mag, es weist dennoch einen nicht zu überhörenden Variantenreichtum auf, der sich allerdings nur dem wirklich aufmerksam Zuhörenden erschließt. Die große Kunst Geir Jenssens zeigt sich in diesem Stück am vollkommensten: größtmögliche Varianz auf kleinstem Raum. Durch diesen Minimalismus weitet sich der Klangraum des Stücks unermesslich.
Die beiden folgenden Stücken „rotation“ und „modifié“ haben kommunikativen Charakter. Antwortet in jenem ein pulsierender Bass einer hohen, klirrenden, entfernt an Glockenspiel erinnernden Sequenz, so gewinnt das andere Stück seine Spannung aus einem grauen Rauschen, in dem man ganz hinten eine verbogene menschliche Stimme zu vernehmen glaubt. Text ist nicht zu verstehen, vielmehr verbiegt sich die Sprache zu einer an eine Melodie erinnernde Tonfolge.
„Vibratoire“ macht seinem Namen alle Ehre. Wer hier seine Anlage zu leise laufen lässt, hört nichts. Der grummelnde Bass schwillt in einem gemächlich regelmäßigen Wehchsel an und ab, als tue er das bereits seit Äonen.
War die erste Hälfte der Platte von hohen signalhaften Tönen dominiert, so gewinnen ab hier die extrem tiefen, fast unhörbaren Bässe die Oberhand, ohne aber je aufdringlich zu wirken. Sie bewegen sich auf ihrer Umlaufbahn in ewig stillen Kreis. Diese kosmische Ordnung scheint hier fühlbar zu werden. Aus dem tiefen Ringen des Bass steigen immer wieder hohe leise Tonfolgen auf, die in ihrer meditativen Wiederholung das kosmische Gefüge der Bässe konstrastieren und in ihrer Signalhaftigkeit den möglicherweise sinnlosen Versuch des Menschen markieren, sich in der ihn umgebenden weiten Dunkelheit zu orientieren und sie zumindest teilsweise zu durchdringen.
Diese Platte versucht mit Hilfe der Technik, bzw. künstlicher, mittelbar und unmittelbar vom Menschen erzeugten Tönen und Geräuschen die Grenzen der Musik auszuloten. Bisweilen, wie in 6. Stück, ist diese Grenze mit Sicherheit unterschritten. Das aber macht den Reiz von „Biosphere“ aus. Kunst als Versuch die Grenze zum Nicht-mehr-darstellbaren zu beschreiben. In diesem Sinne ist es nur ein kleiner Schritt zur Lyrik, zur Malerei oder zu anderen Ausprägungen von Kunst. An der Grenze dessen, was die jeweilige Disziplin mit ihren Mitteln darstellen kann, findet man vielleicht auch die skurrilsten Blüten der jeweiligen Zunft, mit Sicherheit aber ebenfalls einige der bedeutensten.

Sigrid Damm – Goethe und Christiane

Nach dem Buch über die Beziehung Goethes zu Frau von Stein schloss sich nahtlos die Lektüre des vorliegenden Werkes an. In der breitgefächerten Goetheforschung kommt Christiane Vulpius traditionell schlecht weg. Obwohl sie seit 1788 bis zu ihrem Tod im Jahr mit ihm zusammenlebte, seit 1806 sogar offiziell als seine Ehefrau. Die hartnäckigen und langlebigen Resentiments des kleinen Weimarer Hofes scheinen in dieser beinah bis auf den heuitgen Tage reichenden Abneigung eine dauerhafte Fortsetzung zu finden. Unbegreiflich schon für viele der Zeitgenossen, warum Goethe sich ausgerechnet in ein armes, aus einfachsten Verhältnissen stammenden, Mädchen verliebt und beschließt, sie zu sich zu nehmen. Selbst seit 1775 geadelt und bis zu seinem Aufbruch nach Italien 1786 in den höchsten Gremien des kleinen Fürstentums beschäftigt, von Bürgern wie Adligen verehrt und bewundert, mit freundschaftlichen Kontakten, die bis in die höchsten Kreisen reichten, hatte er eine große Auswahl an adligen Töchtern gutbetuchter Fürsten. Und doch wählt er ein armes Mädchen aus Weimar, das ihm kurz nach seiner Rückkehr aus Italien im Park an der Ilm über den Weg läuft. Das zu akzeptieren fiel der Weimarer Hofgesellschaft schwer und es fällt auch aufgeklärteren Gemütern neueren Zeiten schwer sich damit abzufinden. Die Nichtbeachtung der Frau von Goethe geht sogar soweit, dass man sie Christiane nennt. Ihr richtiger Name ist aber Christiana. Goethe hat sie so genannt, in Urkunden und anderen Dokumenten findet sich der richtige Name und ihre Briefe unterschrieb sie mit ihrem richtigen Namen. Es verwundert also sehr, wenn erst Sigrid Damm dafür sorgen muss, dass Christianes richtiger Name in das Bewußtsein der Menschen rückt. Wenn sie von der Autorin dennoch weiterhin Christiane genannt wird, so ist das eine Kapitulation vor tumben Behäbigkeit der Konvention.
Gerade die unkorrekte Nennung beweist die überhebliche Ignoranz, mit der Christiane seit, sie in Goethes Leben trat, behandelt wurde. Andere haben Glück und werden irgendwann nach ihrem Tod vergessen, vollständig. Von Christiane bleiben aber auch 200 Jahre nach ihrem Tod zumeist Negatives. Man nannte sie „Goethes Magd“, „ein rundes Nichts“, „eine geistige Null“, Bettina von Armin bezeichnete sie sogar als „Blutwurst“.
Dass Goethe sie geliebt hat, und das doch ausreichend sein sollte, wird manchmal sogar angezweifelt.
Es ist also Sigrid Damms Verdienst, Goethes langjähriger Begleiterin und Frau Gerechtigkeit verschafft und ihr in ihrem Buch ein im besten Sinne unspektakuläres und freundlich gesinntes Denkmal gesetzt zu haben.
Sachlich und trotzdem leise Sympathie bekunden erzählt sie Christianes Leben vor der Bekanntschaft mit Goethe. Erst nach ca. 100 Seiten treffen Goethe und die 15 Jahre jüngere Christiane im Park an der Ilm aufeinander. Vorher lernt man nicht nur ihre Vofahren kennen, sondern man darf auch einen Blick auf die kultur- und alltagsgeschichtlichen Umstände der sogenannten „einfachen“ Leute im 17. und 18.Jahrhunderts.
Das verzweifelte Bemühen der Vorfahren um unbezahlte Stellen in der Verwaltung der absolutistischen Fürstentümer der Zeit, die Not, die Armut, etc.
Das Leben mit Goethe wird unter Einbeziehung zahlreicher Quellen lebendig dargestellt. Man verfolgt das Leben der beiden durch die Jahre, sieht Höhen und Tiefen kommen und wieder gehen; verfolgt die ersten schüchternen Versuche Christianes im Leben der feinen Gesellschaft Fuß zu fassen, sich zu behaupten.
Man sieht sie tanzen und sich vergnügen, während Goethe zuhause sitzt und planvoll ein Werk vorantreibt.
Auch ihren Tod schildert die Autorin, wie Christiane sich in schweren Krämpfen windet und Goethe sich selbst in eine Krankheit flüchtet, um das alles nicht mit ansehen zu müssen. Goethes so bekannte „Scheu“ vor dem Tod findet an dieser Stelle sein dunkelstes Beispiel.
Sicher hatte Christiane nicht den Einfluss auf das Werk ihres Mannes wie Charlotte von Stein oder Marianne von Willemer. Sie, die sich nie viel mit seinem Werk beschäftigt hat, obwohl die oft kolportierte Aussagen, nach der sie nie eines seiner Werke gelesen habe, nicht zutrifft, musste oft zugunsten des Werkes ihres Mannes zurücktreten, wenn er monatelang auf Reisen war, sich lange Zeit nach Jena zurückzog, um ungestört arbeiten zu können. In letzter Konsequenz musste sie sich dem „höheren“ Ziel unterordnen, was ihre lange Zeit schwerfiel. Und dennoch hat Goethe zu ihr gehalten und sie schließlich, auch um sie materiell abzusichern im Falles seines Todes, zu Frau genommen.
Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk, Gott sei Dank, und schon gar keines, das durch die feministische Brille die Verhältnisse verzerrt. Es ist ein Buch mit starkem erzählerischem Akzent. Das belegen auch die zahlreichen Elipsen, die, vor allem zu Beginn des Buches, ein klein wenig negativ ausfallen. In der Ausgabe des Spiegel ist dieses schöne Werk auch zu einem mehr als fairen Preis in einer guten Ausgabe zugänglich.

Leo Perutz – Von neun bis neun

Es ist nicht leicht, dieses Buch angemessen zu besprechen und dennoch nicht zu viel zu verraten. Dass es bereits kurz nach der Veröffentlichung ein großer Erfolg war, belegt die Tatsache, dass eine Firma, die sich später Metro Goldwyn Mayer Pictures Corporaion“ nennen sollte, bereits 1922 die weltweiten Rechte dafür erwarb. Dabei ist es leider geblieben. Eine Verfilmung dieses kleinen Romans existiert bislang nicht. Kurz gesagt handelt das Buch von dem Studenten Stanislaw Demba, der im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts versucht, 400 Kronen aufzutreiben, damit er mit seiner Angebeteten, Sonja, eine Reise nach Venedig machen kann. Er muss sich beeilen, denn ein Nebenbuhler ist im Begriff an Dembas Stelle mit Sonja nach Venedig zu reisen. Die Fahrkarten sind bestellt, am nächsten Tag soll es losgehen. Demba hat nicht viel Zeit. Innerhalb eines Tages muss er an das Geld kommen, sonst kann er sich nicht nur die Reise abschminken, sondern auch seine Sonja, deren Gefühle für ihn wohl schon deutlich abgekühlt sind, wenn sie lieber mit einem anderen auf Reisen gehen will.
Der Roman erzählt von Dembas verzweifeltem Versuch an das Geld zu kommen. Oft ist er ihm ganz nahe, zum Greifen nah, im buchstäblichen Sinn, und dennoch unendlich weit entfernt. es liegt vor ihm und doch nimmt er es nicht, verlässt dafür so schnell es geht den jeweiligen Ort. Er in der Mitte des Romans, in Kapitel 6, erfahren wir, wieso Demba stets seine Hände unter dem Mantel verborgen hält. Interessant sind die vorangehenden Kapitel nicht nur wegen ihrer skuril-grotesken Charakter- und Milieustudien, die so exakt skizziert sind, dass sie manchmal wie Karikaturen wirken. Eine interessante Technik, Verzerrung durch exakte Darstellung. Auch die Form gerade der ersten 5 Kapitel ist bemerkenswert. Sie ähnelt ein wenig dem Drama. Man betritt die Szene, sieht eine Gruppe von Personen, die sich um ihre jeweils eigenen Angelgenheit kümmern (das zweite Kapitel beispielsweise zeigt uns zwei angesehene Wissenschaftler, Orientalisten und Völkerkundler, die sich im Park über die Verbreitung und die Auswirkungen des Haschischkonsums unterhalten. Erst später tritt Demba auf. Man fühlt sich erinnert an Regieanweisungen im Drama: „Die Vorigen, Demba tritt hinzu.“ Allerdings ergibt sich eine Beziehung zwischen den Passanten und Demba erst im Moment, als er auftritt. Was vorher geschieht steht damit nicht in Zusammenhang. Die Konfrontation wird so umso deutlicher, genauso wie die Verstörung und Verwirrung der Menschen, die sich Dembas kurioses Verhalten nicht erklären können. Einer der Professoren hält in mit überzeugend zur Schau getragener Autorität für einen „Haschischesser“: „Ich erkenne sie sofort, wenn ich sie sehe.“
Ob Demba sein Ziel erreicht, was sein Geheimnis ist, verschweige ich an dieser Stelle. Man darf die Pointe nicht kennen, auf keinen Fall. Sonst verliert der Roman seinen Reiz. Am Ende klärt sich alles auf. Aber dieses Ende ist, vor allem in kompositorischer und erzähltechnischer Hinsicht, grandios, so dass man den Roman danach noch einmal lesen muss.

New Model Army – High (2007)


Zwei Jahre sind seit dem letzten Album „Carnival“ vergangen. Ein Album, dass es bis heute nicht geschafft hat, mich vollständig zu erreichen. Kaum einer Platte habe ich in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie dieser, und dennoch, in die Liste der richtig guten Alben der New Model Army wird sie es wohl nicht mehr schaffen. Sei’s drum – die Jungs um Justin Sullivan haben mit „High“ ein Album nachgelegt, das vom ersten Eindruck ähnlich klingt wie sein Vorgänger, mich aber von der ersten Sekunde an überzeugt hat.

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