Oscarnominierung für Michael Hanekes „Weisses Band“

Gestern ist Hanekes „Weißes Band“ für den Oscar nominiert worden und das gleich zweimal: zum einen für „Bester fremdsprachiger Film“ und dann noch für „Beste Kamera“. Ohne zu wissen was die Mitbewerber aus Argentinien, Peru und Israel zu bieten haben, denke ich, dass Haneke eine ausgezeichnete Chance hat.

Once

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Einfach alles anders machen, mit kleinem Budget und auch sonst sehr beschränkten Mitteln. Mal den umgekehrten Weg beschreiten: Musiker spielen Schauspieler – nicht andersherum. Das ganze noch mit einer feinen Geschichte und fantastischem Soundtrack versehen, schon ist die Idee eines Independent-Films auch ganz nah dran am sonst so unwahrscheinlichen kommerziellen Erfolg geboren.
„Once“ erzählt die Geschichte zweier Namenlosen dicht am Rande der Gesellschaft. Hier bin ich schon beim ersten bemerkenswerten Alleinstellungsmerkmal: Die zwei hauptdarstellenden Musiker, im wahren Leben Glen Hansard (The Frames) und Markéta Irglová, stellen sich für den Zuschauer nie namentlich vor. Zwei unbekannte, die sich zufällig auf der Straße bei des Mannes eigentlicher Leidenschaft – seine Lieder in den Einkaufsstraßen Dublins mit niemals gespieltem sondern stets wahrem Herzblut darzubieten – lernen sich über Nebensächlichkeiten (ihr kaputter Staubsauger, den er, gelernter Staubsaugerreparateur, reparieren kann) kennen. Sie finden schnell heraus, dass für beide die Musik ein nicht unerheblicher Bestandteil ihres ansonsten tristen Lebens ist. Geblendet von zu viel Hollywood-Schund malt man sich schon die weitere Geschichte aus: der erste Kuss, Schwören der ewigen Liebe, Plattenvertrag und Erfolg bis zum Abwinken. Nicht hier. Die zwar vorhandenene aber niemals gespielt wirkende Annäherung der beiden verläuft fast schon kindlich naiv. Die Schlüsselszene des Films findet in einem Musikgeschäft statt.

Hanif Kureishi: „The Buddah of Suburbia“

buddha

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Hanif Kureishi hat mit dem „Buddah der Vorstadt“ einen durchaus gelungenen Initiationsroman geschrieben, der vor allem durch Kureishis grandiosen Humor und durch die Schilderung einer Jugend besticht, die sich vor dem Hintergrund der musikalischen und politischen Entwicklungen im London der 70er Jahre abspielt.
Protagonist ist Karim, der Sohn des Pakistani Haroon und einer englischen Mutter, der sich gelangweilt vom Leben in den südlichen Vororten Londons auf die Suche nach dem ultimativen Kick, nach einem Lebensweg und einer Identität macht und dabei immer wieder knallhart auf die heuchlerische Realität der Erwachsenenwelt stößt. Als Haroon, Karims Vater, in einem esoterischen Anfall zum „Buddah der Vorstadt“ mutiert, Meditations-Kurse und Selbstfindungsabende für die überreizte und hyper-neurotische Londoner Oberschicht anbietet, und auf diesem Weg die Familie für die hippy-eske Eva verlässt, zerbricht Karims Welt zunächst unbemerkt. Im Laufe des Romans zieht Karim mit seiner neuen Familie (Haroon, Eva und Stiefbruder Charlie) nach London, erlebt dort den Aufstieg zu einem erfolgreichen Schauspieler, wird Zeuge der rassistischen Ausschreitungen der „National Front“, erhält Zugang in die Welt der freien Liebe und erlebt im Rausch der Drogen und der Hippie- und New Art-Musik die Geburt des New Wave und des Punk. Die Figur des Stiefbruders Charlie „Hero“ macht Karriere als Musiker und zeichnet die Lebensgeschichte David Bowies nach.

Orhan Pamuk – Das neue Leben

Wenn ich das Buch nur im Ansatz verstanden habe, mehr zu behaupten ist vermessen, dann wäre eine Rezension der absolut falsche Weg, das Buch vorzustellen. Es wartet solange, bis man von selbst auf es stößt oder einem ein anderer davon im Stillen berichtet. Es ist ein Buch für wenige.
Wer das Geheimnis entdecken will, muss sich selbst auf die Suche machen.
Also flüstere ich den beiden Lesern leise zu: lest dieses Buch.

Helmut Krausser: Fette Welt


Aus irgendeinem Grund war ich davon überzeugt, dieses Buch noch nicht gelesen zu haben. Bereits nach den ersten Zeilen kehrte die Erinnerung zurück und Kraussers markante Roman-Gestalten wankten mir wieder aus dem nebulösen Nichts in 3-D entgegen. Zu dem Zeitpunkt hat mich die „Fette Welt“ erneut am Genick gepackt, geschüttelt (vor Ekel und Lachen) und bis zum Zuklappen des Buches nicht wieder losgelassen, wie bereits schon mal vor wohl zehn Jahren. Ich muss sagen, es hat mich zutiefst amüsiert, dieses Buch erneut zu lesen.
Held des Buches ist Hagen Trinker, ein defätistischer Wahl-Penner und selbsterklärter Poet in der Nobel-Stadt München, der fetten Welt des Romans. Aus der bürgerlichen Welt zieht dieser zynische Anti-Ritter zu Beginn des Romans aus Verachtung ganz aus und erlebt – gelegentlich von seiner so genannten Familie, einem bunten Sammelsurium von Randexistenzen, begleitet, – so manche Aventiure. Hagen Trinker trinkt sich einen, dichtet und philosophiert unterwegs über die Scheiß-Welt und ihre Existenz, reißt die Brücken hinter sich ein und verliebt sich in die sechzehnjährige Ausreißerin Judith, arbeitet als Totengräber in einem Bestattungsinstitut und überfällt einen Supermarkt. Überschattet und getrieben wird die Hagen-Geschichte durch einen Serienkiller mit dem Decknamen „Herodes“, der in München sein Unwesen treibt und Kleinkinder in ihren Kinderwägen die Kehle durchschneidet. In Nacht und Nebel und im Fieber-Delirium kommt es zu Begegnungen und misantrophen Dialogen zwischen Hagen und Herodes, wobei unklar bleibt (und das ist ein phantastischer Kniff des Autors), ob es sich bei den beiden nicht um ein und dieselbe Person handeln könnte. Einer meiner erklärten Lieblingsszenen, früher wie heute, ist die Beerdigung des griechischen Jünglings, ein Vorbild für groteske Schreibkunst mit Slapstick-Charakter.
Das Buch (übrigens das letzte von Kraussers Hagen-Triologie) wurde gefeiert, daran kann ich mich noch erinnern. Nicht zuletzt waren die Öffentlichkeit und die Literaturkritik fasziniert von dem Autor, der nach eigenen Angaben und Klappentext selbst (halb-) freiwillig ein Jahr als Berber zugebracht hat, als Totengräber jobbte und währenddessen provinzialrömische Archäologie studierte. Entsprechend wird Krausser seit „Fette Welt“ von Literatur-Seminar zu Literatur-Seminar als einer der Vertreter „Junger Deutscher Literatur“ herumgereicht, liest und doziert dort vor einem Publikum, das zu diesem Humor wohl nur schwer Zugang haben sollte. Kraussers Penner-Welt und ihre Lebensäußerungen sind authentisch, wenn man sich dieses Urteil als Uneingeweihter erlauben darf. An einigen Stellen weht den Leser der muffige Geruch des Straßenlebens so real und poetisch an, dass man zugleich kotzen, lachen und staunen möchte. Faszinierend und somit das eigentlich interessante ist jedoch Kraussers Sprache, die intelligent ist, starke Bodenhaftung aufweist und in ihrer unkonventionellen Verspieltheit und ihrem Erfindungsreichtum den Leser verblüfft und immer wieder vor Lachen in den Sessel drückt.
„Fette Welt“ ist ein starkes Stück Gegenwartsliteratur, das ich in zehn Jahren gerne wieder lese, denke ich. Übrigens ist der Roman dann auch mit Jürgen Vogel als Hagen Trinker verfilmt worden. Wäre auch mal zu überlegen, sich das anzuschauen.

Michel de Montaigne – Essais, oder Bloggen im 16. Jahrhundert

Ich erspare mir Hinweise auf Größe und Bedeutung des Autors. Ja, es wird ihm die „Erfindung“ der Textsorte Essay zugeschrieben und ja, er ist einer der großen Moralisten, ein Meister seiner Sprache und ein Mann von außerordentlicher Bildung und Belesenheit gewesen. In zumeist kurzen Texten, schreibt er über alles, was ihm in den Sinn kommt. Seine Texte sind von bleibendem Wert, aber das sind viele, wenn auch leider nicht allzu viele.
Was beim ihm in der Urform vorliegt, das Essay, wurde von zahlreichen Schriftstellern erweitert und vervollkommnet. Man denke an Thomas Manns „Versuch über Schiller“ oder Kants „Vom ewigen Frieden“. Im Vergleich zu diesen und anderen Essays wirken diejenigen Montaignes oft einfach, ja karg, was aber kein Mangel sein muss. 400 Jahre kreative Aneignung und Ausgestaltung haben das Gesicht der Gattung verändert, und doch konnte sie ihr Wesen immer bewahren.
Gerade in unseren Tagen aber wird die ursprungliche Form Montaignes wieder modern. Hätte Montaigne Internet gehabt, er wäre Blogger geworden.
Von seinem Turm aus übersah er die Welt und vor allem sich selbst. Seine Texte zeigen eine unglaubliche thematische Vielfalt: „Über die Trunkenheit“, „Über die Daumen“, „Wider die Nichtstuerei“ oder „Alles zu seiner Zeit“, „Über das Stafettenreiten“, „Über ein mißgebildetes Kind“.
Sein Hauptthema aber heißt „Montaigne“. Oft entspringen aus der Selbstreflexion die Themen und genauso häufig münden spontane Gedanken über ein scheinbar beiläufiges Thema in der Reflexion des eigenen Wesens. Montaigne verfügt über alle Merkmale, die einen guten Blogger auszeichnen sollten.
Er ist spontan und stets subjektiv, neigt zum Skeptizismus und zeigt Humor. Ist in der Lage, jedes Thema anzugehen und kreist doch letztlich immer nur um ein einziges, die Beobachtung der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Er ist für seine Zeit brandaktuell und traut sich, zu werten. Montaigne erwähnt Unmenschlichkeiten und Gräuel der Kolonialmächte im kürzlich entdeckten Amerika, übt Kritik an Kopernikus Theorie, die in seiner Zeit beginnt, ihre mächtige Wirkung zu entfalten. Alles ist bei ihm immer rückgebunden an die Weisheit des Altertums, wie auch jeder moderne Blogger, auch wenn er anderes meint, in einer langen Traditionslinie steht. Montaigne war diese bewußt, er kannte seine Tradition und verfügte aktiv über deren literarischen und kulturellen Hinterlassenschaften.
Montaignes Verdienst um die Entwicklung der Textsorte „Essay“ sind unbestreitbar.
Die Vorwegnahme und die geistige Vaterschaft der neben Email und Sms mächtigsten publizistischen Form der post-Postmoderne, des Blogs, ist seiner Ruhmestafel hinzuzufügen.

Thomas Gifford – Assassini

Um es kurz zu machen, ein schlechtes Buch. Bis zur Unerträglichkeit klischeehaft, angefangen von den Beschreibungen der Szene über die Charakterisierungen der Figuren, die ständig mit verschiedenen Schauspielern verglichen werden bis hin zur Darstellung der Details. Hier wird sogar die Marke des Whiskeys, der Uhr, des Autos nicht verschwiegen. Das erinnert an Product placment im Film. Das Buch erinnert mehr an einen Roman nach einem Film als ein originäres Machwerk. Überhaupt erinnert es sehr an einen Fernsehlilm.
Gifford arbeitet mit den Mitteln des Films, um seine haarsträubende Story von einer wiederbelebten Killertruppe des Vatikans erzählen. Der Protagonist ist so amerikanisch, dass das Buch nicht enden kann, bevor er nicht den Mörder seiner Schwester erschossen hat, alle Schuldigen gerichtet sind und die männliche und weibliche Hauptfigur (eine Nonne) zusammenfinden. Der einfache Amerikaner, weltanschaulich ausgerichtet an Kapitalismus und Altem Testament, besiegt eine verdorbene, intrigante, undurchschaubare Institution und stellt im profanisierten Armageddon des Showdowns Recht und Gerechtigkeit wieder her. Die Pax americana im Fernsehfilmformat.
Am Ende habe ich auf den Abspann gewartet und mich auf die Werbung gefreut, aber die kam nicht.
Wer dieses Buch liest, muss Zeit haben. Soviel Zeit wie unter einem Sonnenschirm am Strand eines All-inclusive Hotels. Oder sich ablenken wollen. Wovon auch immer. Und zu diesem Zwecke ist es allerdings mehr als geeignet. Obwohl die Geschichte an sich dem erfahrenen Leser kaum Spannung bietet, kommt diese doch immer wieder auf, wenn sie die Situation mal wieder zuspitzt und es um Leben und Tod geht. Damit man die Lust nicht verliert, ist das auch alle 150 Seiten spätenstens der Fall.
Wie gesagt, ein schlechtes Buch. Aber zum Zwecke der Ablenkung ideal.
In diesem Sinne: Pax vobiscum.

Carlos Ruiz Zafón – Der Schatten den Windes – Anmerkungen

Homberle hat ja bereits einen schönen Artikel zu diesem Buch geschrieben, dem ich mich in weiten Teilen auch anschließe. Immerhin kann ich mich aus diesem Grund auf ein paar Dinge beschränken, die mir während der Lektüre aufgefallen sind.
Interessant ist auf alle Fälle die Story. Drei Ebenen sind auszumachen. Die Handlung um den jungen Daniel Sempere, die Lebensgeschichte von Julian Carax, der Inhalt von Carax Roman „Der Schatten des Windes“ sowie die Geschichte des Buches, das man Händen hält und das eigentlich „die Nebelburg“ heißen müsste. Diese Ebenen sind, wie von Homberle angedeutet, mit einander und ineinander verschlungen. So entstehen Analogien aber auch Irrwege, was den Roman zu einer sehr anregenden Sache macht. Im Grunde ist dieses Buch auf der ersten Ebene eine Art Adoleszenzroman: Daniels Entwicklung vom Kind zum Mann, er erlebt alle wichtigen Stationen des Erwachsenwerdens, freilich in etwas extremerer Form als andere und findet, leider etwas zu einfach, am Ende seinen Platz im Kreise seiner kleinen Familie. Auf der zweiten Ebene ist das Buch ein Bildungsroman, indem Zafòn der Geschichte Daniels diejenige von Julian Carax unterlegt. Leider, möchte man sagen, findet auch Carax zu seinem inneren Frieden am Ende eines wechselhaften Schicksals, das von Liebe und Hass geprägt ist, ja er findet sogar seine Sprache wieder, schreibt schließlich den Roman, den der Leser in Händen hält. Nicht die Vermischung der Ebenen, die die Ebene des Inhalts am Ende sogar überspringen kann, sondern gerade das mehr als schale Ende, das nur Freunde von massentauglichen Hollywoodfilmen schön finden werden, zerstört viel dem eigentlichen Reiz des Romans und wirft überdies noch ein moralisches Problem auf.
Carax tötet in einem sehr lange hinausgezögerten Showdown Fumero, was keine große Überrraschung ist und aus Sicht des Lesers auch in Ordnung geht, ist Fumero doch ein widerlicher Sadist und Verbrecher. Außerdem aber bringt Carax den Chef seiner „zweiten“ Frau Nurieta Monfort um, der sicherlich kein netter Kerl ist, hat er doch die junge Frau mehr als belästigt. Dieser Mord wird nicht gerechtfertigt und um Carax‘ Hass darzustellen ist dieses inhaltliche Detail viel zu stark und verlangt, wenn schon nicht eine Rechtfertigung so doch zumindest Sühne. Aber auch diese fehlt, ja im Grunde wird diese Untat damit gutgeheißen, dass es Carax am Ende doch gelingt seinen Frieden zu finden und zur Schriftstellerei zurückzukehren. So bleibt dieser Mord als moralisches Problem bestehen, das man höchstens damit erklären kann, dass vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges ohnehin die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Jeder ist verdächtig, jeder hat Geheimnisse, die besser ungesagt bleiben. Einzig Fumero ist in dieser Hinsicht deutlich gezeichnet.
Die Zeit des spanischen Bürgerkriegs sollte den historischen Rahmen des Romans abgeben, aber Zafòn lässt der Beschreibung dieser Umstände zu viel Raum. Sie drängt sich zwischenzeitlich zu sehr in den Vordergrund, um noch als Nebenhandlung oder historisches Kolorit gelten zu können und rüttelt auf diese Weise sehr an der dramaturgischen Integrität des ganzen Romans.
Vielleicht noch ein Wort zu den Personen. Nicht immer gelingt es Zafón seine Figuren plausibel handeln zu lassen. Der zehnjährige Daniel des Beginns spricht nicht wie ein Kind, sondern wie ein vom Leben gezeichneter Held eines amerikanischen Films. Leider zieht sich dieses Problem durch das ganze Buch. Als Beispiel sei nur das erste Gespräch zwischen Fumero und Daniel erwähnt. Obwohl Zafón seinen Protagonisten seine Angst eingestehen lässt, spricht Daniel cool und mit kaum versteckten Zynismus zu Fumero, der wirklich ein abgebrühtes Arschloch ist.
Die Frauenfiguren lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Alle Frauen, zu denen sich Daniel oder Carax hingezogen fühlen, sind engelgleiche Gestalten, irgendwo zwischen Femme fatale und Heiliger Jungfrau einzuordnen. Alle anderen sind brave, einfache Frauen, die sich mit ihrer Rolle als Mutter und Versorger zufriedengeben müssen. Ein bisschen mehr Variation hätte dem Roman gut getan. Mein Lieblingsfigur ist Fermin, der aber doch ein bisschen zu sehr schillert. Ein Charakter von mephistophelischem Witz gepaart mit der Gerissenheit eines James Bond und der Libido eines Don Juan.
Viel zu kurz aber kommt mir leider der „Friedhof der vergessenen Bücher“. Dieses geheimnisvolle Institut hat soviel erzählerisches wie dramaturgisches Potential, dass es traurig ist, mit anzusehen, wie dieser Ort lediglich als Hintergrund der Handlung dient.
Immerhin passt es zum mehr oder weniger literarischen Thema des Buches, dass der Autor es sich nicht nehmen lässt, an zahlreichen Stellen auf andere Autoren der europäischen Literaturgeschichte (wie zum Beispiel Flaubert, Josesph Conrad, Kafka und Brecht) mit leisem Wink hinzudeuten.

Sigur Rós – ()

Im Artikel zum Amiina-Album erwähnt ist es nun an der Zeit, diese Band vorzustellen. Sie spielte auf dem Southside – damit hättest du mich beinahe rumgekriegt Homberle – und ich muss sagen, ich kann mir diese Art von Musik nicht unter freiem Himmel vorstellen, zumindest nicht in der Sonne, vielleicht bei Nacht oder Sonnenaufgang. Außerdem glaube ich, dass ein Großteil des Publikums sicher eher irritiert sein würde, denn die Musik der Isländer unterscheidet sich doch sehr von der der anderen Bands, die dort auftreten.
Naja, am 11.8. werde ich die Band im Palladium in Köln sehen, das sollte ein besserer Rahmen sein.
Es fällt mir schwer diese Art von Musik zu beschreiben. Der blinde Sänger spielt seine Gitarre mit einem Geigenbogen. Entsprechend ruhig und elegisch klingt es. Nein, ruhig ist das falsche Wort. Vom Tempo her gehört die Musik dieser Platte sicher eher in die Ambient-ecke, vor allem das Piano erinnert an Brian Eno, den Erfinder des Ambient. Entspannt klingt die Musik ebenfalls nicht. Vielleicht hilft ja der Text weiter – – – Es gibt keinen. Auf anderen Platten bedienen sich Sigur Ros ihrer finnischen Muttersprache, aber hier ist es nur Gesang. Gesang in seiner vielleicht ursprünglichen Form. Melodische Lautmalerei.
Eine Handvoll dieser Klangbilder dominieren dieses CD, beständig wiederholt und in sanft variierende Melodien eingebettet. Es scheint, als ob die Melodien um ihren Mittelpunkt kreisen, in dem Versuch diesem unhörbaren Zentrum im zerfließenden Klang der einzelnen Klangbilder so nahe wie möglich zu kommen. So wie ein Ast den ganzen Tag vom Wind aus seiner ursprünglichen , seiner ihm angemessenen Lage, leicht nach links, rechts, oben oder unten gedrückt wird. Ohne diesen Wind käme er zur Ruhe. Und so ist die absolute Melodie, nach der diese Platte sucht, eine ,die sie nie erreichen kann, ohne sich selbst zu verlieren: die Ruhe, das Schweigen. In der Stille transzendiert sich die Musik selbst.
Gesang und Melodie sind auf demselben unmöglichen Weg. So hat diese Platte einen durchaus tragischen Charakter. Im Laufe der CD steigert sich Melancholie der Beginns zu einer Apologie des Schmerzes über den Verlust der Stille im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit der Mittel, ein Schmerz über das einmalige Durchbrechen der Grenze zum Klang. Dieser Weg ist nicht umkehrbar, wie die Zeit, und auch nicht in einer vorausschreitenden, sich immer weiter vom Ursprung entfernenden Progression wieder zu erlangen. Was bleibt ist der Versuch allein und vielleicht eine tief empfundene Ahnung, dass das Ende mit dem Anfang zusammenfallen könnte.
Ein fundamentalontologisches Problem wird also auf dieser Platte in Form der Musik in der ganzen Bitterkeit des absoluten Dilemmas in dunklen Farben gemalt, die nur vom Kern der menschlichen Seele, zu dem die Kunst allein zu dringen vermag, erfasst werden können.
Das Leben als Gleichung zwischen Finden und Verlieren, die immer einen negativen Rest zu haben scheint.
Bildlich symbolisiert dies das Cover, das zwei Klammern zeigt, die nichts einklammern von nichts eingerahmt sind. Letztlich sind sie selbst der Rahmen, der Beliebiges zusammenfügen kann, um dem Wahllosen einen Sinn zu geben. Somit wirkt das Cover als retardierendes Moment dieser Platte.
Das Bild aus dem Amiina-Artikel ist an dieser Stelle zu Ende zu bringen. Klang jene Platte wie ein Blick aus einer heimelichen Hütte in dunkler Nacht nach einem etwas verspäteten Wanderer, so klingt diese wie der letzte Blick des Wanderers hinab auf die helle und warme Hütte in der eiskalten Nacht, bevor er sich abwendet und in den schroffen Hügeln Islands verschwindet.

Edward Gibbon – Verfall und Untergang des römischen Imperiums

Als man Mommsen bat, sein schon zur damaligen Zeit monumentales Werk über den Tod Caesars hinaus mit einer Darstellung der römischen Kaiserzeit fortzusetzen, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass Inhalt und Form von Gibbons Darstellung nicht zu übertreffen seien und somit der Geschichte des langwierigen Niedergangs des Römischen Reiches nichts mehr Substantielles hinzugefügt zu werden könne. Diese Sichtweise darf man mit guten Gewissen anzweifeln, ruht doch Gibbons Werk fast ausschließlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen, ganz im Gegensatz zu Mommsen, der nicht nur das Glück hatte auf Ergebnisse der noch jungen Wissenschaft von der Archäologie zurückgreifen zu können, sondern der ebenfalls in einem bis dahin (und bis heute) nicht gekannten Ausmaß vor allem epigraphisches Material für seine Untersuchung heranzog.
Dennoch oder gerade deswegen ist Gibbons Werk nur um so beeindruckender. Aus dem ebenso reichhaltigen wie problematischen Quellenmaterial arbeitet er die Gründe für den Verfall und den zwangsläufigen Untergang des Römischen Reiches im Westen heraus. Der Verfall der Sitten, allgemeine Dekadenz, die egoistische Suche nach Luxus und Macht zerstörten in einem überraschend langwierigen Prozess von fast 500 Jahren die so unerschütterlich scheinenden Fundamente des Römischen Reiches. Das Werk reicht von Augustus bis beinahe zu Karl dem Großen, geht also über den eigentlichen Untergang des Römischen Reiches im Jahre 476 n.Chr hinaus, als der letzte Kaiser, der kurioserweise nach dem sagenhaften Gründer der Stadt sowie nach dem großen Augustus benannt wurde, Romolus Augustulus, den kaiserlichen Purpur ablegte zugunsten von Odoaker, der Abstammung nach der Sohn eines Barbaren, die bereits seit langer Zeit die Geschicke des Römischen Reiches lenkten. Odoaker ließ dem Kaiser des Oströmischen Reiches in Konstantinopel ausrichten, in Italien bräuchte man keinen „Augustus“ mehr, weshalb der den Titel eines Rex Italiae annehmen wolle.
Präzise und mit einem guten Schuss Ironie verfolgt Gibbon die wechselhaften Ereignisse dieser 500 Jahre. Gerade die ironische manchmal sogar zynische Darstellung verhindert, dass das immerhin 3000 Seiten starke Werke unter detaillreichen Last der reinen Nacherzählung in tödlicher Langeweile erstarrt. Vielmehr bleibt der gesamte Bau auf diese Weise geschmeidig unterhaltsam, gelegentlich sogar amüsant.
Gibbon hat, wie Mommsen, den Mut die Ereignisse einer rein subjektiven Wertung zu unterziehen, die lediglich auf den ersten Blick von dem scheinbaren Rückgriff auf den common sense der Aufklärung objektiviert wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, die herrschenden politischen Zustände im Europa der zweiten Hälften des 18. Jahrhunderts anzugreifen und zu kritisieren. Dadurch dass er immer wieder Analogien zwischen den antiken Verhältnissen und den zeitgenössischen schafft, gerät das Werk im Grunde zu einer Art von „Germania“ des aufgeklärten Absoutismus aus dem Blickwinkel des „bürgerlich-liberalen“ Englang. Tacitus wollte mit seiner Schrift bekanntlich nicht zeigen, wie einfach und naturverbunden die scheinbar so wilden Germanen in ihren dunklen Wäldern lebten, sondern er wollte Im Spiegel des Gegenteils die eigene Kultur der Dekandenz und der hemmungslos egoistischen Gier nach Reichtum und Macht darstellen.
Gibbon zeigt nur auf den ersten Blick Fremdes. Die zeitgenössischen Verhältnisse erscheinen im Abstand von 1200 Jahren greller und bedrohlicher. Abgemildert wird diese sich durchziehende Kritik an den bestehenden Verhältnissen durch typische aufklärischerische Anmerkungen über die bedeutenden Fortschritte, die im Laufe der Zeit auf den verschiedenen Feldern eines Gemeinwesens erreicht wurden. Nicht immer überzeugen diese Anmerkungen, schon gar nicht aus der Perspektive eines Lesers des 21. Jahrhunderts, dem der Gedanke eines teleologischen Geschichtsverständnisses, das hinter diesen Anmerkungen steckt, wohl eher reichlich schal vorkommen dürfte, als dass er sich dafür faszinieren könnte.
Bemerkenswert sind aber vor allem die ausführlichen Abschnitte über das Christentum, das sich genau in dieser Zeit von einer kleines Sekte zur Staatsreligion wandelt. Mit deutlichen Vorbehalten schreibt Gibbon eine herrlich erfrischende Geschichte der Frühzeit des Christentums und zertrümmert mit kritischen Geist die althergebrachte Tradition der panegyrischen Kirchengeschichtsschreibung. So wie überall Egoismus, Ruhmsucht, Lüge, Missgunst und Neid herrschen, so auch in den Institutionen der jungen, sich entwickelnden Kirche. Gibbon unterscheidet auch hier mit feinem Gespür zwischen Heuchlern und Heiligen, wie er auch im Wühltisch der politischen Geschichte unter der großen Zahl schlechter, ja unfähiger Herrscher die fähigen Politikern und Feldherren mit sicherer Hand findet.
Das große Problem von Gibbons Darstellung ist der Primat der politischen Geschichte. Es ist ein kaum zu vermeidendes Grundübel politischer Geschichtsschreibung, dass sie leicht der Versuchung nachgibt, die Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten zu reduzieren. Gibbon kann sich dem nur teilweise entziehen. Der Primat von Politik und Militär ist deutlich und im Hinblick auf die Entstehungzeit des Werkes auch keineswegs anrüchig. Fast völlig ausgeblendet bleiben Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, womit auch er Hauptunterschied der geschichtswissenschaftlichen Methodik zwischen Gibbon und Mommen bezeichnet wäre.
Zum Schluss noch eine Warnung. Man sollte nicht in einen überflüssigen Geschichtspessimismus verfallen, nachdem man dieses umfangreiche Werk gelesen hat. Sicher kann sich einem der Gedanke aufdrängen, die Geschichte der Menschheit werde vorangetrieben durch die wechselhaften Ergebnisse militärischer Auseinandersetzungen, der Krieg als Vater aller Dinge also, und von einer kleinen Anzahl Männer je nach ihren individuellen Fähigeiten und Eitelkeiten blind in irgendeine Richtung gelenkt.
Die Geschichte der Menschen kennt keine Richtung, sie läuft schon gar nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, das in allen seinen schillernden Ausprägungen immer nur eine ideologische Fiktion war. Die Geschichte der Menschen hat demnach auch keinen Sinn. Nicht Resignation sollte die Folge dieser Schlussfolgerung sein, sondern vielmehr Antrieb, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern, um unseren Nachkommen genau das auch zu ermöglichen.

Esbjörn Svensson Trio – Seven days of falling

Am vergangenen Wochenende starb bei einem Tauchunfall im Alter von nur 44 Jahren Esbjörn Svensson, der kreative Kopf des ein schwedischen Jazztrios, das aus gutem Grund seinen Namen trug. Ungemein produktiv schuf er eine bis dahin noch nicht gehört Art von Jazz, die rockige Einflüsse sowie Elemente des Ambient zu einem einzigartigen Sound vereint, der seinesgleichen sucht. Nicht umsonst galt das Trio mit Svensson an der Spitze als erfolgreichste und was in meinen Augen viel wichtiger ist, als einflussreichste Band des modernen Jazz.
Als Beispiel mag hier das 2003 erschienene Album „Seven days of falling“ dienen. Eingängig in den Melodien und ungemein kreativ gehört das Album sicher zu dem besten, was ich von E.S.T bislang kenne. Es klingt ungemein modern, ohne die Wurzeln des „traditionellen“ Jazz der letzten 60 Jahre zu verleugnen.Ein weitaus geschulteres Ohr könnte sicher vielfältige Beziehungen und Einflüsse nachweisen. Dennoch verkommt das Album nicht zu einem platten postmodernen Synkretismus, wie er leider häufig anzutreffen ist. Ohne übermäßig laut oder verrückt zu sein, ist es dennoch auch gerade in den ruhigen Passagen ein sehr energiegeladenes Album, das man sich einmal live erlebt zu haben wünscht. Letztes Jahr hätte man diese Chance gehabt, quasi vor der Haustüre, tja…
Wer denkt, dass Jazz nicht mehr produktiv ist, sich im Epigonalen verloren hat und vergangener Tage und Helden nachtrauere sieht sich hier eines besseren belehrt.
In der Kunst besteht immer die Chance sie neu zu entdecken, dem scheinbar Alten neues Leben, ein anderes Leben einzuhauchen, in dem immer auch die Wurzeln des Alten neuen Boden finden und neu austreiben. Nur selten, vielleicht niemals war die Kunst voraussetzungslos und einfach nur neu. Immer ist das Neue, so fremd und verstörend es auch zuerst erscheinen mag, verknüpft mit dem Alten. Darauf aufmerksam gemacht zu haben ist Svensson zweitgrößtes Verdienst. Das größte ist seine Musik.

Alfred Kubin – Die andere Seite

An einem trüben Novembertag bekommt der Protagonist, der namenlos bleibt, Besuch von einem Fremden, der sich als Agent eines alten Jugendfreundes, Claus Patera, ausgibt. Die Überraschung des Protagonisten, der wie der Autor Zeichner ist, steigert sich im Verlauf des folgenden Gespräches zunehmend. Durch wundersame Zufälle sei sein Jugendfreund Claus Patera zu märchenhaftem Reichtum gelangt, mit dem er sich in den Steppen Asiens ein eigenes Reich, das Traumreich, erschaffen habe. Der Agent übergibt eine Einladung ins Traumreich über zu siedeln sowie 100.000 Mark, die als Reisegeld vorgesehen sind. Nach einigem Zweifel reisen der Zeichner und seine Frau mit allen verfügbaren Verkehrsmitteln quer durch die Welt , bis ihre Reise nach Wochen in den Weiten der asiatischen Steppe auf dem Rücken von Kamelen vor der gigantischen Mauer, die den Zugang ins Traumreich kontrolliert, ein Ziel findet.
Der Zugang zum Traumreich ist nur denjenigen gestattet, die vom Herrn selbst eingeladen wurden. Wie sich später zeigt, soll die Mauer, wie so viele, nicht nur die Bewohner und das Reich vor unerlaubten Eindringlingen beschützen, sondern auch den Bewohnern das Verlassen des Landes unmöglich machen.
Im Traumreich scheint keine Sonne, sind keine Sterne, ist kein Mond zu sehen. Alles ist in ein dämmriges Zwielicht getaucht. Das Ehepaar findet in der Hauptstadt „Perle“ Unterkunft und der Zeichner bald sogar eine Anstellung bei einer Zeitschrift. Die gesamte Architektur der Stadt besteht aus Gebäuden, die komplett aus Europa stammen, für viel Geld erworben, demontiert, und hier wieder aufgebaut wurden. Außerdem sind es alles alte Häuser, die schon mitunter deutliche Verfallspuren zeigen. Allerdings erweist sich dieses Ambiente als inspirierend und die Besucher leben sich rasch ein. Sie gewöhnen sich an die altmodische Art der Bewohner sich zu kleiden. Etwas schwerer dagegen fällt den beiden allerdings die Geldwirtschaft. Dinge, die in Europa teuer sind, bekommt man im Traumreich sehr billig. Dafür sind andere Artikel, zum Beispiel Streichhölzer, extrem kostspielig, sodass den beiden sehr bald das Geld ausgeht.
Hinzu kommen weitere eigenartige Sitten. So kann es vorkommen, dass plötzlich Menschen vor der Tür stehen und die Begleichung einer Rechnung fordern, die nie gestellt wurde. Das Amt funktioniert nach bester Kafkascher Art, (dieser Roman hatte einigen Einfluss auf Kafka, sodass man eigentlich sagen müsste, dass die Mechanismen der Bürokratie, die er beschreibt, der Art Kubins folgen), Eingaben werden verschlampt, Anliegen verschleppt, Akten mit Federn ohne Tinte beschrieben.
All das stört die Bewohner nicht, sie folgen ihren Spleens und lassen es sich so gut gehen. Beispielsweise besucht der Protagonist regelmäßig einen Friseurladen, dessen Inhaber ständig philosophische Vorträge hält und stattdessen einen Affen namens Giovanni Battista das Geschäft führen lässt, was dieser mit Leidenschaft und Perfektion zu tun versteht.
Realität und Traum verschwimmen im Traumreich, allderdings wirkt das alles in der ersten Hälfte des Romans zwar skuril aber dennoch liebenswürdig ja anregend.
Erst mit dem Tod seiner Frau beginnen sich die Dinge für den Zeichner in einem anderen Licht zu zeigen. Je weiter die Krankheit seiner Frau fortschreitet, desto unheimlicher wird ihm auch sein Umfeld. Er sucht nach Antworten, nach Gründen für die vielen seltsamen Begebenheiten und stößt doch nur auf noch mehr Fragen. Seiner zunehmdenen Renitenz begegnen die anderen Einwohner mit Skepsis und Zurückhaltung. Sie haben akzeptiert, dass Auflehnung keinen Sinn und erst Recht keine Chance hat. Der Herrscher des Reiches ist kaum zu Gesicht zu bekommen aber doch immer gegenwärtig, selbst in den Augen der Einwohner. Nach unbekanntem Gesetz herrscht er über sein Reich, Absichten und Ziele dieser Herrschaft bleiben so unsichtbar wie er selbst. Die Bewohner sind ihm ausgeliefert, haben nur die Chance der Anpassung, des Arrangements mit den bestehenden Verhältnissen.
Doch irgendetwas ist ab nun anders. Die Dinge scheinen aus dem Ruder zu laufen. Erst vergammelt und verwest alles Material, dann bricht eine schreckliche Plage über die Bewohner von Perle. Während die Einwohner einer zunehmenden Agonie ausgeliefert sind, vermehren sich alle übrigen Lebewesen scheinbar explosionsartig, zu Beginn die Insekten, später auch alle übrigen Tiere. Wölfe, Bären und Tiger ziehen durch die Straßen und reißen die verängstigten Bewohner. Irgendwann ergreift die Einwohner eine Art von kollektiver Psychose, die sich in unglaublichen Szenen abspielt. Wüste Orgien wandeln sich zu Gewaltexzessen.
Das Traumreich geht zugrunde. Immer schrecklicher werden die Visionen des Untergangs, die der Protagonist schildert, immer grausamer und abartiger die Taten der verstörten Bewohner. Einem amerikanischen Fabrikant für Büchsenfleisch, Herkules Bell, ist es unterdessen gelungen , sich den Zutritt zum Traumreich zu erschwindeln. Nun beginnt er mit Agitationen gegen Patera mit dem Ziel, eine Revolution hervorzurufen, an deren Ende er sich selbst zum Herrscher über das Traumreich aufzuschwingen gedenkt.
In einer letzten Vision schildert der Zeichner den Kampf zwischen Patera und Bell als grandioses Zerrbild in den mythischen Bildern einer apokalyptischen Kosmologie.
Am Ende steht der Satz: „Der Demiurg ist ein Zwitter.“
Das Traumreich beginnt zu sterben als die kalte, rationale Vernunft die Grenze des Reichs übertreten kann. Bell steht für diese, Patera als Herrscher des Traumreichs für jene. Das Universum zerfällt in Gegensätze, die sich gegenseitig bekämpfen. Leben und Tod, Traum und Realität, Amerika und Asien etc. In Pateras Reich zerfließen diese Grenzen, für einen Neuling eine faszinierende Erfahrung, aus der heraus eine ungeheure schöpferische Kraft fließt. Das Unbewusste als Quelle der menschlichen Kreativität. Ein starker Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke an Freuds „Traumdeutung“, das 1900 erschien. Kubins Roman erschien 1909 zum ersten Mal und ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu lesen, Gesetzmäßikeiten des Unbewussten mit den Mitteln der Kunst nachzuspüren, zu simulieren, ja erst zu bestimmen. Was für den Neuling faszinierend war, wird für denjenigen, der zu lange im Reich des Traumes zu Gast war, zu einer alles überwältigenden Horrorvision, die den Träumer selbst zu vernichten droht. So ist das Reich des Traums nicht nur eine Spielwiese unserer eigenen kreativen Anlagen, sondern gleichzeitig auch ein uns selbst bedrohendes Monster, das wir nicht besiegen können, dem wir uns aber immer wieder zu stellen haben, vom dem wir uns aber nie überwältigen lassen dürfen.
Endet Kubins Roman mit der Erkenntnis der Gegensätzlichkeit aller Dinge und dem nie endenden Kampf derselben gegeneinander, so heißt das aber auch, dass im Menschen dieser Kampf ebenso tobt und es unsere Aufgabe ist, Herrscher unseres Traumreichs zu bleiben, es gegen die Realität draußen wie gegen die Monster drinnen zu behaupten. Damit ist das totalitäre Regime Pateras nur unter einem sozio-kulturellen Blickwinkel als negativ und bedrohlich zu betrachten und ich denke, dass ein solcher Blickwinkel dem Werk nur sehr wenig gerecht wird. Kubin war Künstler und ihn bewegten die Ausdrucksweisen und Möglichkeiten, die ihm die Bilder aus dem Unbewußten des Menschen für seine Kunst boten mehr als die Frage nach den bestehenden politischen Verhältnissen und der Kritik an denselben.

Gustave Flaubert – Die Erziehung des Herzens

Frédéric Moreau ist ein junger Mann, der zu einigen Hoffnungen Anlass gibt. Gut ausgebildet und mit ein wenig Vitamin B ausgestattet darf es durchaus als wahrscheinlich gelten, dass er im Frankreich der 1840er Jahre seinen Weg machen wird. Der Leser begegnet ihm in genau dieser Situation. Allerdings lernt er auf der Heimreise in die Provinz die Ehefrau eines durchtriebenen Geschäftsmannes kennen und verliebt sich in sie. Diese Frau, Madame Arnoux, ist es, um die seine Gedanken in der Zukunft kreisen und dieser unerfüllbaren Liebe ist zu einem Gutteil sein Versagen anzulasten.
Moreau ist ein Mann großer Pläne, darin vielleicht allen jungen Menschen ähnlich, die die Kraft, den Willen und die Fähigkeit in sich spüren, den Dingen ihren Stempel aufzudrücken. Die Zeit, in der sich Moreau und seine Altergenossen bewegen, scheint den Wünschen und Hoffnungen der jungen Menschen entgegen zu kommen, denn es ist eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der sich immer mehr beschleunigend in Jahre 1848 seinen Höhepunkt findet. Vieles, ja alles scheint möglich. Und so sind die Pläne des Protagonisten und seiner Freunde und Bekannten ebenso ehrgeizig und groß wie bunt. Der eine setzt auf Politik, der andere auf eine Karriere in der Wirtschaft, Pellerin auf die Kunst, Moreau mal auf das eine mal auf das andere. Das genau ist Moreaus großes Problem. Er ist schnell dabei einen Plan aufzustellen, aber leider besitzt er nicht die nötig Geduld, Hartnäckigkeit und Konzentration, um auch nur einen davon in die Tat umzusetzen. So beschließt er sein Leben als alternder Jungeselle in bescheidenen Verhältnissen. Sein zwischenzeitlicher Reichtum fällt zum einen einer dandyhaften Verschwendungssucht zum Opfer, der keinerlei Einkünfte durch eigene Arbeit entgegenstehen, zum anderen seinen oft gut gemeinten aber unvorsichtigen Investitionen zugunsten einiger befreundeter Damen und Herren.
Letztlich ist Moreau unfähig zu handeln, unfähig zu entscheiden und nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Er weiß selbst nie genau, was er will, er ist beeinflussbar wie vielleicht jeder jungen Mensch bis zu einem gewissen Grad.
Seine Pläne werden stets durchkreuzt. Drei unterschiedliche Instanzen hemmen Moreau in dieser Hinsicht: die unberechenbaren Wechselfälle des sozio-politschen Umfelds, die Menschen in seinem Umfeld und letztlich seine eigene Persönlichkeit, seine Unfähigkeit, eine Sache zu verfolgen und zu Ende bringen. Er will alles und das gleichzeitig. Er liebt Mdme Arnoux, kann aber von der „Prostituierten“ Rosanette nicht lassen und steigt gleichzeitig, Reichtum und Einfluss im Sinn, der edlen Madame Dambreuse nach und möchte auch noch die naive, aber in ihren Gefühlen stets ehrliche Louise Rogent, das typische Mädchen vom Lande, heiraten, mehr um sie nicht zu enttäuschen als aus Liebe zu ihr. Eine reist ihn immer von der anderen weg, oft gerade dann, wenn er sich kurz vor seinem Ziel glaubt.
So jagt er seinen Plänen und Leidenschaften hinterher, oft auch denen seiner Bekannten und Freunde unter denen sich Personen jeglichen Standes und jeglicher politischer Couleur finden, versucht es allen recht zu machen und erreicht nur kurzfristig etwas, das er mit Erfolg verwechselt: das vorübergehende Abnehmen dieser Verpflichtungen und das kurzweilige Glück bei einer der Frauen. Er ist also, wie Jules Barbey d’Aurevilly in seinem großartigen Verriss schreibt, eine „Marionette der Geschehnisse“.
Der Titel mag in die Irre führen, denn selbst wenn es eine solche „Erziehung“ gäbe, bestünde ihr Ziel in einem recht indifferenten Hinweis auf das Motiv der Entsagung.
Und vielleicht äußert sich eben gerade darin die Meisterschaft Flauberts, den man gerne als einen Realisten bezeichnet, dass dieser Roman, im weiteren Sinne als Bildungsroman zu betrachten, und die Welt, die in diesem gestaltet wird, eben keinen als vorbildlich zu erkennenden Weg anbietet und somit von einer beinahe schockierenden Offenheit ist, vor allem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Romanproduktion in der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sinnstiftende Instanzen sind verloren, das Individuum noch nicht in der Lage diese Lücke durch das Absolutsetzen der eigenen Individualität zu füllen. In diesem Sinne wäre der Roman als protomoderner Antibildungsroman zu bezeichnen. Dass Flaubert ein grandioser Erzähler ist, dessen behutsame Liebe zum Detail frühe Krititker dazu veranlasst hat, ihn einen Materialisten zu nennen, muss nicht eigens erwähnt werden. Die Übersetzung aber, ob gut oder schlecht kann ich nicht beurteilen, und die darin zu ahnende Schönheit der Sprache Flauberts sollte einen dazu ermutigen, seine Französischkenntnisse aufzufrischen.

Theodor Mommsen – Römische Geschichte

Sicher nicht unbedingt ein Werk für jeden, gerade deshalb aber genau richtig an diesem Platz. Für jemanden, der kein Historiker ist, mögen die mehr als 3000 Seiten sicherlich abschreckend wirkend und manche Passagen sind wohl in der Tat nicht jedem bloß historisch Interessierten eine angenehme Lektüre sein, obwohl das gesamte Werk durchgehend von hoher literarischer Qualität ist. Nicht umsonst bekam Mommsen dafür im Jahre 1902 den Nobelpreis für Literatur verliehen.

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