Ich bin fassungslos. Gerade habe ich das Buch zur Seite gelegt – denke ich – aber beim Blick auf die Uhr wird mir klar, dass ich seit fast 45 Minuten gedankenverloren vor mich hinstarre. Was hat dieses Buch mit mir gemacht?
Am Anfang war eine Dokumentation, die derzeit bei DMAX läuft. Eine kommerzielle Expedition zum Gipfel des Mount Everest. Eine handvoll Menschen unterschiedlichster Herkunft und mit unterschiedlichsten Beweggründen haben dasselbe Ziel: einmal auf dem Dach der Welt stehen. Von der Intensität dieses Vorhabens gepackt, fand ich über Umwege Jon Krakauers „In eisige Höhen“. Der Journalist wird 1996 von der Zeitschrift „Outdoor“ beauftragt, einen Artikel über das sich zu der Zeit größter Beliebtheit erfreuende kommerzielle Bergsteigen zu schreiben. Bei der Expedition, an der Krakauer schließlich im April und Mai 1996 teilnimmt, sterben 12 Menschen. Aus dem geplanten Artikel entsteht am Ende ein Buch, weil er die dramatischen Ereignisse nur so zu verarbeiten vermag.
In der ersten Hälfte der rund 400 Seiten wechselt Krakauer ständig zwischen der Historie des Bergsteigens, den Hintergründen einiger früherer Besteigungen und dem Weg zum Basiscamp auf über 5000 Metern und erster Akklimatisierungsversuche in noch größeren Höhen. Nicht zuletzt kümmert er sich um die feinfühlige Herausarbeitung der unterschiedlichen Charaktere seiner Expeditionsgruppe rund um den Leiter Rob Hall. Er erzählt haarsträubende Geschichten über Laien am Berg, die die Besteigung des Everest mit einem Sonntagsausflug in den Zoo verwechseln und diesen Irrtum mit dem Verlust von Körperteilen durch Erfrierungen oder gar dem Leben bezahlen. Krakauer schafft es mit vielen kleinen Exkursen auch den alpinistisch eher jungfräulichen Leser in den Bann dieser Sportart – insbesondere im Zusammenhang mit dem Mythos Everest – zu ziehen. Wie es die Träumer, die hoffnungslosen Romantiker oder einfach nur Verrückte auf diesen Berg treibt, immer auf der Suche nach etwas, dass sie auf dem Gipfel – oder auf dem Weg dorthin/von dort – zu finden glauben. Am Ende scheint auf jeden Fall jeder etwas zu finden: Erleuchtung, Genugtuung, Freude, Befriedigung, Selbstbewusstsein, Einsamkeit, Enttäuschung, unendlichen Schmerz, Tod.

Die sich andeutende Dramatik der Erzählung beginnt mit einem Nebensatz, den man fast überliest und der deutlich macht, in welches Terrain sich die Menschen dort begeben. Bei einem Marsch auf 6400 Metern stolpert Krakauer das erste Mal über eine Leiche eines verunglückten Bergsteigers auf einem der Hautpfade in Richtung Gipfel. Die fast beiläufige Erwähnung dieses grausigen Fundes veranschaulicht, wie fokussiert er auf seine eigene Sache ist, da bleibt nicht viel Zeit und vor allem Kraft über Schicksale anderer zu sinnieren. In einem späteren Kapitel bringt Krakauer es mit einem Satz auf den Punkt: „Oberhalb von 8000 Metern ist nicht der Ort, wo Leute sich so was wie Moral leisten können“. Er bezieht sich hierbei auf eine Situation, als zwei japanische Bergsteiger zwei im sterben liegende Inder einfach ihrem Schicksal überlassen, ohne auch nur darüber nachzudenken, ihnen zu helfen. Wenn man versteht, dass das eigene Überleben so sehr in den Vordergrund rückt, um so zu reagieren und diese Aussage zu machen, kann man vielleicht insgeheim verstehen, wie man in einer Extremsituation wie dieser, den hier angedeuteten Rückschritt zum Tier vollzieht.

Fast alle aus Krakauers Gruppe und viele aus anderen, die am gleichen Tag die letzte Etappe zum Gipfel starten, erreichen diesen auch. Jedoch werden im Laufe dieser letzten, „nur“ fast 500 Höhenmeter vom auf 8400 Metern gelegenen Camp 4 zum Ziel, laut Krakauer nicht nachvollziehbare Fehler gemacht, die man sich in der so genannten „Todeszone“ einfach nicht erlauben darf. Zwar versucht er zu erklären und vor allem für sich selbst zu begreifen, wie es zu der Katastrophe kommen konnte, jedoch gelingt ihm das nicht vollständig, was daran liegen mag, dass es für derlei Begebenheiten keine rationale Erklärung und schon gar keine eindeutig zu klärende Schuldfrage gibt. Die Sherpas würden wohl sagen, dass sich der Berg seine Opfer holte, wie in jedem Jahr – und zwar nicht mehr und nicht weniger. Denn eigentlich liegt auch die Everest-Saison 1996 mit 12 Toten statistisch gesehen genau im Soll.

Übrig bleiben die Schicksale derer, die es geschafft haben, dem Sturm zu entkommen. Geplagt von Schuldgefühlen und sich ständig selbst fragend, was man hätte tun können, um seinen Kameraden zu helfen. Wahrscheinlich nichts – aber wie kann man sich da jemals sicher sein.


0 Kommentare

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

%d Bloggern gefällt das: