Amiina – Kurr

Auf Island kommt es vor, dass Straßen verlegt werden, weil es bei Bauarbeiten zu teilweise schweren Problemen kommt. Maschinen fallen aus, den Menschen wird unwohl und schwindlig. An so einer Stelle, glauben einige Isländer, wohnen Elfen. Diese halten sich vornehmlich in und an großen Steinen und Felsen auf, an denen es auf Island bekanntlich nicht mangelt. In solch einem Fall ist es nicht selten, dass man beschließt, die Straße ein wenig zu verlegen, damit die Elfen in Ruhe weiterleben können. Die verstimmten Elfen kann man besänftigen, indem man Kerzen aufstellt und Musik spielt oder singt.
Zwar sind die vier Damen von Kurr ganz sicher keine Elfen und ihre Musik ist auch durchweg irdisch. Aber solch eine Musik dürfte auch Elfen gefallen. Die ruhigen Schwestern von Sigur Rós könnte man die vier Damen nennen. Streng genommen sind sie nur ein Streichquartett und die Musik des Albums beruht auch in jedem Moment auf sanft wiegenden Streichinstrumenten, die einen endlosen, in ruhigen gedeckten Tönen sich ausbreitenden Teppich bilden, wie er auf dem Cover zu sehen ist. In schöner Bildhafitgkeit durchzieht das musikalische Prinzip die ganze graphische Gestaltung der CD. Vier Frauen sitzen in mittlerer Entfernung an einem Tisch und stricken in sich versunken gemeinsam jenes Vlies, dessen vier Farben ständig alternieren. Die Innenseite der Cd setzt die Metaphorik des Fadens fort. Viele parallel verlaufende Linien verdichten sich zu Worten und Text ohne einmal abzusetzen. Nicht mit dem Lineal , sondern von dem leichten Zittern einer Hand gezogen, laufen diese Linien nie parallel von der einen Seite des Booklets als verschnörkelter Text in jenen Linien aus, die in so korrekter und gerader Anordnung nur das Zittern einer Hand malen kann. Nur zwei Mal verdichten sich die Linien auf der Cd noch einmal: zum Namen der Band und dem Titel der CD.
Entsprechend arm ist die Cd an Text. Der Gesang bleibt immer schwebend nonverbal oder verstummt ganz. Es scheint, als wachse aus dem ruhig Klangteppich die menschliche Stimme nur zeitweise empor, um sich freiwillig in die Harmonie des Klangs zu fügen.
Wie reich diese Cd dagegen an Klang ist. Neben den Klängen der Streichinstrumente, die hin und wieder ein wenig elektronisch untermalt werden, klingt, klingelt, blinkt, funkt und knistert es in einem fort. Ist die Musik von Sigur Rós zu vergleichen mit einem einsamen Spaziergang in den eisigen Hügeln des mitternächtlichen Islands, so ist diese Cd hier das Gegenstück dazu. Ein Blick aus einer kleinen, warmen, halbdunklen Hütte, der auch der schlimmste Sturm nichts anhaben kann, hinaus in das lange Schwarz der isländischen Nacht. Ein Blick, der in den paar hellen Metern vor dem Fenster nach jenem einsamen Wanderer sucht und weiß, dass er endlich kommen wird, ja muss.
Mit solch einer Musik, die man vielleicht isländische Romantik nennen kann, könnte man sicherlich die erzürnten Elfen besänftigen. Und wenn ich manchmal mit den Liedern dieser wunderschönen Cd im Ohr abends am nahen Waldrand vorbeikomme, dann ist mir hin und wieder so, als würde ich beobachtet.

Biosphere – Cirque

Das Schicksal des Aussteigers Christopher McCandless scheint die Menschen nachhaltig zu beschäftigen. So hat sich auf Geir Jenssen alias Biosphere von dem Schicksal Christopher McCandless inspirieren lassen. Das Ergebnis ist dieses Album, das zwar nicht zu den besten Biospherescheiben zählt, aber dennoch tief zu beeindrucken weiß.
Ungewöhnlich für Biosphere ist der Beat, der sonst im Allgemeinen fehlt, hier aber an einigen Stellen seine strukturierende Funktion zurückgewinnt. Ebenfalls auffallend ist die Verwendung von Sprachfetzen in verschiedenenen Sprachen. Hat man erwartet auf diesem Album Naturgeräusche zu hören, so wird man enttäuscht. Dass gerade die Natursamples auf einem Album fehlen, das sich mit dem Schicksal des Aussteigers McCandless in Alaska auseinandersetzt, ist auf den ersten Blick um so erstaunlicher, da Aufnahmen aus der Natur oft auf den Platten von Biosphere verwendet werden. Ja es gibt sogar ein Album, das nur aus arrangierten Geräuschen besteht, aufgenommen im Zusammenhang mit Geir Jenssens Trip in den Himalya.
An einigen Stellen, Zum Beispiel gleich zu Beginn, meint man Nauturaufnahmen zu hören. Allerdings handelt es sich hierbei um künstliche erzeugte Klangbilder, die die Natur lediglich nachahmen sollen. Vielleicht noch nicht einmal das, sondern in ihrer Künstlichkeit lediglich auf die Natur verweisen. Überhaupt ist das Verhältnis von Natur und Kunst auf dieser Platte das zentrale Motiv. Vor diesem Hintergrund sind die diversen Spachsamples zu sehen, die eine recht große Variation aufweisen. Von Fetzen aus Telefongesprächen über Regieanweisungen bis hin zu monologischen Wiederholungen komponierter Satzstrukturen, die in beinahe Verscharakter bekommen.
Die Stellung des Menschen zwischen Natur und Kultur ist das Hauptthema der Platte, Nur so kann sich das Grundmotiv zu einem quasi-tragischen Moment weiterentwickeln. Das Verhältnis von Kultur und Natur ist nur dann überhaupt von Interesse, wenn versucht wird, den Menschen innerhalb dieses Spannungsverhältnis zu verorten und genau dieser Versuch ist hier unternommen.
Die Platte zeichnet den letzten Lebensabschnitt McCandless nach, allerdings nur in einem punktuellen Herausgreifen einzelner Stationen. Dass diese Wegmarken vielmehr innerer Natur sind, darf man aus der Tatsache schließen, dass die Musik mit zunehmender Dauer immer dunkler und bedrohlicher wird. Die Titel der einzelnen Stücke stützen das. „Too fragile to walk on“ heißt das letzte Lied.
Je weiter der Aussteiger sich von der Zivilisation entfernt, desto dunkler wird sein Schicksal, was nicht heißt, dass die ersten Partien der Platte fröhlich klingen. Im Vergleich mit den letzten Stücken der Platte erzeugen sie aber immerhin den Eindruck einer zum Überdruss gewordenen Gewöhnung an die materielle Kultur. Gerade die ständig wiederholten Sprachsamples untermalen diesen Eindruck. Die dialektische Struktur der Liedtitel (z. B. Black lamb & grey falcon; Moistened & dried; Algae & fungi) transformieren das Grundmotiv zu einer Beschreibung der Möglichkeiten der Existenz des Menschen in Angesicht Natur, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht und außerhalb der Kultur absolute Anpassung an ihre Gesetzmäßigkeiten fordert. Dazu rücken die dialektischen Liedtitel die innere Reise von McCandless zunehmend in ein mythisches Licht. Der Weg des Aussteigers führt aus der hochtechnisierten, der Natur weitgehend entrückten Zivilisation zurück in das mythische Reich einer mystischen Vereinigung des Menschen mit der Natur. Seinen dramatische Höhepunkt findet die Platte im neunten und zehnte Lied, die den oben erwähnten Beat auf eine für Biosphere ungewöhnliche Art und Weise in den Mittelpunkt rücken.
Man darf in diesem beiden Stücken McCandless Ankunft in der Wildnis erkennen, die Etablierung seines Stützpunkts in jenem alten Bus. Die vergleichsweise Heftigkeit des Beats spiegelt weniger die Euphorie des Aussteigers an einem Ziel angekommen zu sein als vielmehr das hektische Getriebenwerden, radikal Ruhe- und Rastlose des Aussteigers, der im Umkreis um seinen Bus die für Touristen (?) angelegten Notplätze verwüstet, um sich auch von den letzten Resten der Zivilisation abzuschneiden.
McCandless stirbt (ob an Hunger oder an einer Vergiftung ist letztlich nicht von Bedeutung) schließlich, nachdem er einige Monate allein, ohne Kenntnisse der Wildnis, ohne nennenswerte Ausrüstung im eisigen Alaska überlebt hat.
Diese Platte ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass die Geschichte von Christopher McCandless das Zeug hat, zu einem postmodernen (ich entschuldige mich für die Verwendung dieses Begriffs) Mythos zu werden. In tragischer Weise zeigt uns sein Schicksal, das keinerlei romantische Verbrämung erlaubt, dass der Prozess der Zivilisation den Menschen (abgesehen von einigen Naturvölkern) vollständig vereinnahmt und ihn von seinem einstigen Umfeld, das er immerhin die weitaus meiste Zeit seiner genotypischen Entwicklung bewohnt hat, vollständig abgeschnitten hat. Wir können nicht mehr zurück zur Natur, nur mit hohem Aufwand ist dies für begrenzte Zeit möglich. Wir sind Sklaven unserer eigenen Kultur, die uns so beherrscht wie es einst die Natur mit uns tat. Kultur als die Möglichkeit den Menschen aus seiner naturräumlichen Umklammerung zu befreien ist umgeschlagen in eine erneute vollständige Abhängigkeit des Menschen von der selbst erschaffenen Kultur. Eine Flucht aus der Zivilisation zurück in die Natur ist, wie uns das Beispiel von Christopher McCandless zeigt und die vorliegende Platte eindrucksvoll unterstreicht, nicht mehr möglich. Dort erwartet den Aussteiger nur noch der Tod.

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