Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“

Bildungsbürgerlicher Scheißdreck oder literarische Sensation, wunderbare Satire auf die deutsche Klassik oder blasierte Schreibereien eines ehemaligen Philosophiestudenten mit mathematischen-naturwissenschaftlichen Ambitionen? Die Geister spalten sich anscheinend, wenn es um dieses Buch von Jungautor Daniel Kehlmann geht. So jedenfalls meine Erfahrung, wenn man mit Leuten darüber ins Gespräch kommt. Ich fand es jedenfalls echt nicht schlecht, ziemlich subtil und vor allem wichtig: Gut gelacht habe ich auch an einigen Stellen. Bei der „Vermessung der Welt“ handelt es sich um eine Doppelbiographie. Im Wechsel der Kapitel erzählt Kehlmann, meist sehr raffiniert in indirekter Rede seiner Figuren, die sehr skurrilen Lebenswege und Abenteuer zweier genialer deutscher Wissenschaftler: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Beide begeben sich von unterschiedlichen Richtungen her kommend auf die Vermessung der Welt. Der eine von Seiten der Mathematik herkommend, der andere von Seiten der Naturwissenschaften. Der Leser erfährt einiges über den Lebenswandel der beiden: Während Humboldt durch den Dschungel robbt, fast an Selbstversuchen mit giftigen Pflanzen krepiert, unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte und auch fast seine Lebens Sechstausender in Lateinamerika und lavaspeiende Vulkane ersteigt, nur um dort Messungen vorzunehmen, denkt Gauss schon als 16jähriger die herkömmliche Geometrie an seine Grenzen, errechnet später sagenhafte Formeln und beweist nebenbei die Krümmung des Raumes. Beiden Helden kommen die genialsten Ideen und Erfindungen, sehr zur Erheiterung des Lesers, meist in den banalsten Situationen. Gauss unterbricht zum Beispiel den Beischlaf mit seiner Braut während seiner Hochzeitsnacht, um ein paar wichtige Formeln zu notieren. Die Braut und manch anderer, dem Gauss auf diesen 300 Seiten begegnet, fühlt sich im Umgang mit dem Mathematiker manches Mal wie von einem Pferd getreten. Beide Figuren sind in ihrem Streben, die Welt zu erkennen und rational zu druchdringen absolut kompromisslos und dadurch gleichzeitig weltfremd. Humboldt ist in auf seinen Expeditionen ein geistiger Verwandter von Aguirre, ein Fitzcarraldo, ein Mr Kurtz. Gauss ist der Inbegriff des irren Professors. Beide dringen durch ihre Forschung aus der Finsternis der Aufklärung hinaus, erahnen nebenbei das Ende des absolutistischen Zeitalters und treten in die lichte, entzauberte Welt der naturwissenschaftlichen Rationalität. Und das alles mit beschwingender Leichtigkeit. Kehlmann kann reduzieren, das ist wohl das vielleicht geniale Verdienst hier in diesem Buch. Er hat es geschafft, diese beiden vitae auf einige essentielle Zeitspannen herunterzukürzen, so dass in ihnen sehr schön und klar Mentalität, Zeitgeist an der Schwelle einer neuen Epoche sichtbar werden. Die mathematischen Ausführungen zu dem Gaussschen Treiben jedoch, seien sie noch so mühevoll simplifiziert und reduziert, habe ich aber natürlich wieder nicht verstanden. Ich sag nur: Mathe 1 Punkt.

Europa III

Erst nach einer Weile begannen die Männer zu begreifen, was da eben vor sich gegangen war. Der Marokkaner war weg. Abgehauen mit seinen Freunden in der kleinen weißen Yacht, die so elegant durch die Wellen schnitt. Am Bug lag seine blutige Taschenlampe, ein mit Schweiß, Speichel und Blut verdrecktes Zepter seiner Herrschaft. Ein schwarzer Beweis für seinen Verrat, kullerte die Taschenlampe im Bug hin und her.
Keinem der Männer war jetzt noch übel. Jeder der Männer fluchte in seiner eigenen Sprache und einer verstand den anderen in seiner Wut. Keiner der Männer wusste, was zu tun war. Kein Segel, kein Motor, kein Paddel an Bord.
Panik brach aus. Sie schrien und schlugen sich gegenseitig auf der Suche nach einem Ausweg. Als der erste über Bord ging, war es für einen Moment still. Dann riefen sie ihm nach, streckten ihre Hände nach ihm aus, fanden ihn nicht mehr, setzen sich wieder. Heftige Blitze schickten für Augenblicke weißes Licht über das schwarze Meer. Dann konnte man für einen Moment das Festland sehen. Da vorne lag es. Einer sah es, stand auf, zeigte hinaus aufs tosende Meer und rief. Europa! Die nächste Welle nahm ihn mit. Mit den bloßen Händen versuchten sie in Richtung Land zu paddeln. Man kann es schon sehen. Dort hinten. Nur noch ein kurzes Stück. Vielleicht eine Stunde, vielleicht weniger. Ihre in der Angst keimende Hoffnung trieb sie an, gemeinsam, ein letztes Mal. Sie kamen dem Land nicht näher. Im Gegenteil, es schien, als entfernten sie sich sogar davon. Der Sturm zog sie raus auf das offene Meer. Einer, der ganz vorne saß, stand auf. Er sprang einfach über Bord. Vorher rief er den anderen lachend etwas zu, das keiner verstand. Ihm folgten weitere. Manch einen sah man noch eine Weile lang, von den Wellen emporgehoben. Nur wenige konnten schwimmen. Die blieben sitzen. Endlich warf der Sturm das Boot um. Es kenterte und trieb kieloben im schwarzen Wasser. Zwölf Mann begrub es unter sich und gab sie nicht mehr frei. Was übrig war schrie. Sie klammerten sich aneinander. Zogen sich an dem anderen nach oben. So zog einer den anderen hinunter. Sie schluckten Wasser, schlugen wild um sich und versanken schließlich. Noch eine ganze Weile sah man den einen oder anderen, der schwimmen konnte, in Richtung Land schwimmen. Aber das Meer zog sie davon. Keiner von ihnen kam nach Europa.
Von den 40 Mann überlebte einer. Am nächsten Morgen trieb er in der friedlichen See, an eine schwarze Planke geklammert. Ein Frachtschiff aus Hamburg zog ihn an Bord. Beladen mit gebrauchten Autos lief es nach Dakar. Dort setzen sie den Mann an Land. Stumm ging er von Bord.

Europa II

Schwer war der große, dunkle Kahn und schwierig zu kontrollieren in der zunehmenden Dünung. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle ihren Platz im Boot gefunden hatten. So geräumig es auch auf den ersten Blick ausgesehen haben mochte, nur mir großer Mühe fanden alle darin Platz. Vorne im Kahn gab der Marokkaner der weißen Yacht Lichtzeichen. Sie setzte sich in Bewegung, zog das schwarze Boot vom Strand hinaus in die offene See. Eng aneinander gedrängt hockten die Männer in ihrem schwarzen Boot.
Mit harter Stimme befahl der Marokkaner den Männern still sitzen zu bleiben. Wer nicht auf ihn hörte oder in Folge der beengten Platzverhältnisse einen Krampf bekam, den schlug der Marokkaner mit einer schweren, schwarzen Taschenlampe. Wo die Schläge seiner Lampe nicht hinreichten, schlugen die Nachbarn auf den Missetäter ein. Jede Bewegung übertrug sich auf die anderen, die ihrerseits auswichen und dabei wieder andere anstießen. So gingen fluchende Wellen aus Zorn durchs Boot, die der Marrokaner am Bug mit seiner schweren, schwarzen Taschenlampe brach. Die um ihn herumsaßen, bekamen alle Schläge ab. Sie bluteten am Kopf, aus der Nase. Unfähig sich bei der Enge die Arme schützend vor’s Gesicht zu heben, versuchten sie ihren Kopf weg zu drehen. In ihrer Wut stießen sie den Nachbarn, der doch genauso litt und genauso hilflos war.
Der Seegang nahm zu. Vielen wurde übel. Alle hatten Angst. Aber ihre Hoffnung war stärker. Sie schlug der Angst unerbittlich ins Gesicht, wie es der Marokkaner mit den anderen tat, bis sie kuschte und für eine Weile Ruhe gab.
Wie viele Widrigkeiten hatten sie nicht durchgemacht, um an den in ihrem Rücken versinkenden Strand, in dieses Boot, zu kommen. Hunger, Hitze, Durst, Demütigung und Gewalt. Alles das hatten sie ertragen und sie würden wohl auch das bisschen Übelkeit und die Enge überstehen. Zwei, drei Stunden, hatte der Marokkaner gesagt, würde die Überfahrt dauern, nur zwei Stunden noch! Für einen kurzen Moment schien der Mond durch die aufreißenden aufreißenden. Schwere, schwarze Wolken zogen auf, die See wurde unruhig. Der Kahn stampfte, krängte, rollte zunehmend.
Keiner der Männer war je auf dem Meer gewesen. Sie wimmerten, weinten, beteten, kotzen vor Übelkeit auf den Rücken des Vordermanns. Durch den aufziehenden Sturm zog die weiße, schnittige Yacht den behäbigen, überladenen Kahn, eine Stunde vom Land entfernt. Da machte die weiße Yacht kehrt, lief direkt auf den Kahn zu. Als sie nahe genug war, sprang der Marokkaner ins Wasser, erreichte mit ein paar Zügen im schäumenden Meer die kleine weiße Yacht. Noch während er an Bord kletterte, kappte man die Leine. Die kleine weiße Yacht nahm Fahrt auf und schnitt elegant durch die hohen Wellen. In einem weiten Bogen nahm sie Kurs auf zurück und verschwand nach ein paar Minuten im stürmischen Grau des Ozeans.

Europa I

Da dieser Text die hochverehrten Juroren eines bedeutenden Literaturwettbewerbs offenbar doch nicht überzeugen konnte, lege ich ihn, der besseren Lesbarkeit halber in drei Teilen, den geneigten Lesern dieses Blogs vor, damit er nicht in der Schublade verstaubt und vergessen wird.

Europa

Das letzte Wort

Das letzte Wort soll dieses Jahr Jaques Brel haben:

Je ferai un domaine
Où l’amour sera roi
Où l’amour sera loi
Où tu seras reine.

Alles Gute an meine Mitstreiter

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