W.iderliche W.eihnachten (in) K.arlsruhe

Nach einer „neopaganen“ Tanzveranstaltung im Kulturzentrum „Tempel“ e.V, (mehr dazu demnächst) durfte ich unfreiwillig an der Weihnachtsfeier einer Versicherung teilnehmen. Ein Kellner platzierte uns versehentlich im Vorraum einer Gaststätte, in der gegen 23 Uhr noch eine geschlossene Gesellschaft eintraf. Wir fanden uns also zwischen zwanzig und dreißig geschniegelten Personen, vor denen ein seriöser Mann mittleren Alters, offensichtlich der Bereichsleiter hier in der Gegend, die erste von mehreren Reden hielt. Darin war hauptsächlich die Rede von Zahlen, so und so viele Millionen Umsatz in diesem Bereich, so und so viel Prozent mehr in jenem. Danach wurden die drei besten Mitarbeiter, d.h. diejenigen, die den meisten Umsatz gemacht haben, gelobt, gepriesen, vom Chef beschenkt und den anderen Subalternen beklatscht.
Danach sprach ein Abgesandter aus München, zum Schluss noch irgendeiner oder waren es zwei? In ihren Uniformen kaum auseinander zu halten konnte man sie höchstens an den Krawatten unterscheiden.
Im Grunde eine lächerliche Veranstaltung, die jedes Klischee bestätigt hat, vor allem im Hinblick auf das widerwärtige Gebaren dieser Leute. Neben der platten RTL-Rhetorik „Du hast einen guten Job gemacht“, fiel immer wieder das Wort „Produktion“.
Wikipedia verzeichnet zu dem Begriff folgendes:
„Produktion, (v. lat.: producere = hervor führen), Fertigung, Fabrikation, im rechtlichen Sprachgebrauch die Herstellung, ist der vom Menschen (Produzent) bewirkte Prozess der Transformation, der aus natürlichen wie bereits produzierten Ausgangsstoffen (Rohstoff) unter Einsatz von Energie, Arbeitskraft und bestimmten Produktionsmitteln lagerbare Wirtschafts- oder Gebrauchsgüter (Ökonomisches Gut) erzeugt.
Ich frage mich also, was produziert denn so eine Versicherung? Nichts. Sie verkauft eine Dienstleistung. Sie verkauft das Gefühl, abgesichert zu sein. Nichts weiter. Es ist also nicht gerechtfertigt, zu sagen, eine Versicherung produziere etwas anderes als Umsatz. In diesem Sinne aber ist der Begriff eine Metapher. Wieso also fällt dieser Begriff am laufenden Band?
Er ist ein rhetorischer Baustein einer Unternehmensstrategie, die auf dem Sicherheitsbedürfnis und der Angst der Bürger basiert und diese ausnutzt.
Das Rechtsempfinden des durchschnittlichen Menschen hält ihn normalerweise davon ab, die Schwäche der Menschen auszunutzen. Will eine Versicherung aber überleben, muss sie diese natürliche Hemmungen nachhaltig abbauen, sodass sich das gute Gewissen auf Dauer betäuben lässt. Genau diesem Zweck diente die Veranstaltung. Im falschen Begriff von der „Produktion“ wird vom einzelnen Kunden, dem man das Geld aus der Tasche gezogen hat, abstrahiert, vom möglicherweise schweren Schicksal abgelenkt. Übrig bleiben die nackten Zahlen und genau hier offenbart sich das wahre Gesicht dieser Branche.

Es geht nicht einmal mehr im Ansatz um Dienstleitung, mit keinem Wort, keiner Andeutung wurde in den Ansprachen der Kunden gedacht, alles dreht sich um die Generierung von Umsatz, also den Verkauf von „Produkten“. Neben diesem psycholinguistischen Trick kamen auch zwei andere Mechanismen zur Anwendung. Gier und Anerkennung. Anerkennung in Verbindung mit der Möglichkeit des Aufstiegs aber auch die Angst vor persönlichem Versagen, die durch den Gruppendruck erzeugt wird, machen es leicht, moralische Bedenken beiseite zu lassen. Dass Gier blind macht, ist im Moment ja bei jedem Blick in die Medien zu bemerkten.
Schlimm war allerdings die schmierige Unterwürfigkeit, mit der alle Mitarbeiter den Spitzenkräften zujubelten und über die schlechten Witze des Chefs lachten. So laut, dass man glauben konnte, ein jeder versuche den anderen zu übertönen, um auch ja vom Chef bemerkt zu werden. Wenn man schon nicht der beste Verkäufer ist, dann kann man wenigstens versuchen, der erste Speichellecker zu sein.

Michel de Montaigne – Essais, oder Bloggen im 16. Jahrhundert

Ich erspare mir Hinweise auf Größe und Bedeutung des Autors. Ja, es wird ihm die „Erfindung“ der Textsorte Essay zugeschrieben und ja, er ist einer der großen Moralisten, ein Meister seiner Sprache und ein Mann von außerordentlicher Bildung und Belesenheit gewesen. In zumeist kurzen Texten, schreibt er über alles, was ihm in den Sinn kommt. Seine Texte sind von bleibendem Wert, aber das sind viele, wenn auch leider nicht allzu viele.
Was beim ihm in der Urform vorliegt, das Essay, wurde von zahlreichen Schriftstellern erweitert und vervollkommnet. Man denke an Thomas Manns „Versuch über Schiller“ oder Kants „Vom ewigen Frieden“. Im Vergleich zu diesen und anderen Essays wirken diejenigen Montaignes oft einfach, ja karg, was aber kein Mangel sein muss. 400 Jahre kreative Aneignung und Ausgestaltung haben das Gesicht der Gattung verändert, und doch konnte sie ihr Wesen immer bewahren.
Gerade in unseren Tagen aber wird die ursprungliche Form Montaignes wieder modern. Hätte Montaigne Internet gehabt, er wäre Blogger geworden.
Von seinem Turm aus übersah er die Welt und vor allem sich selbst. Seine Texte zeigen eine unglaubliche thematische Vielfalt: „Über die Trunkenheit“, „Über die Daumen“, „Wider die Nichtstuerei“ oder „Alles zu seiner Zeit“, „Über das Stafettenreiten“, „Über ein mißgebildetes Kind“.
Sein Hauptthema aber heißt „Montaigne“. Oft entspringen aus der Selbstreflexion die Themen und genauso häufig münden spontane Gedanken über ein scheinbar beiläufiges Thema in der Reflexion des eigenen Wesens. Montaigne verfügt über alle Merkmale, die einen guten Blogger auszeichnen sollten.
Er ist spontan und stets subjektiv, neigt zum Skeptizismus und zeigt Humor. Ist in der Lage, jedes Thema anzugehen und kreist doch letztlich immer nur um ein einziges, die Beobachtung der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Er ist für seine Zeit brandaktuell und traut sich, zu werten. Montaigne erwähnt Unmenschlichkeiten und Gräuel der Kolonialmächte im kürzlich entdeckten Amerika, übt Kritik an Kopernikus Theorie, die in seiner Zeit beginnt, ihre mächtige Wirkung zu entfalten. Alles ist bei ihm immer rückgebunden an die Weisheit des Altertums, wie auch jeder moderne Blogger, auch wenn er anderes meint, in einer langen Traditionslinie steht. Montaigne war diese bewußt, er kannte seine Tradition und verfügte aktiv über deren literarischen und kulturellen Hinterlassenschaften.
Montaignes Verdienst um die Entwicklung der Textsorte „Essay“ sind unbestreitbar.
Die Vorwegnahme und die geistige Vaterschaft der neben Email und Sms mächtigsten publizistischen Form der post-Postmoderne, des Blogs, ist seiner Ruhmestafel hinzuzufügen.

Kaufrausch, Kiesel, Kästner und Weber

„Die kapitalistische Wirtschaftsordnung braucht diese rücksichtslose Hingabe an den Beruf des Geldverdienens.“ (M. Weber).
Wie rücksichtslos diese Hingabe ist, sehen wir gerade, da die Politik, der Steigbügelhalter der Wirtschaft, versucht, die Scherben einer geplatzten Spekulationsblase zusammenzukehren und Banken und anderen Firmen mit dem Geld der Bürger wieder auf die Beine zu helfen. Der Staat muss das tun, Opel nicht zu retten, wäre politischer Selbstmord. So geht die Erpressung des Staats durch die Wirtschaft weiter, als sei nichts gewesen. Doch es geht mir nicht um diese.
Der Kapitalismus ist nicht mehr einer von Firmen, die ein gutes Produkt herstellen wollen und damit Geld zu verdienen, sondern nur noch einer der bedindungslosen Profitmaximierung. Wie kreativ man dabei geworden ist, durfte ich heute in einem schwedischen Möbelhaus beobachten. Ich wollte den unvermeidbaren Gang so kurz wie möglich gestalten und eilte entsprechend schnell durch die gewundenen Gänge des Hauses, den Blick auf den Wagen vor mir gerichtet. Irgendwo lag ein Plastiknetz mit Kieselsteinen im Regal. Ein Kilo für 1,79€. Steine! Wer kauft Steine? Aber wenn sie im Regal liegen, dann gibt es auch bestimmt eine entsprechende Nachfrage, denn zufällig liegt dort wie anderswo nichts im Regal.
Mit diesem Gedanken im Kopf stand ich in der Schlange an der Kasse, vor mit zwei Mitdreißigerinnen, den Wagen voll mit Dekomaterial. Dinge, die man sonst nirgends bekommt. Servietten, Lichterketten, Kerzen…
Und während sie so dastehen, fällt der einen etwas ein. Sie rennt weg, kommt wieder mit irgendeinem Artikel, die andere jauchtzt vor Begeisterung und rennt ihrerseits davon. Wieder da, beglückwünschen sie sich gegenseitig zu dem ach so schönen Artikel. Sie reden lachend, bis eine der beiden wieder davonläuft und einen weiteren wundervollen Gegenstand anschleift, diesmal gleich doppelt. So spart man Zeit, denn man will noch die einzigartigen Hotdogs essen und im Schwedenshop Ikeaschips kaufen. Kaufrausch, ganz klar.
Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Lachend bestaunen sie das Netz mit den Kieselsteinen. Unfassbar. Die rücksichtslose Hingabe an den Beruf des Geldverdienens hat sich gelohnt, Glückwunsch Herr IKEA. Aber was wäre die beste Idee eines berufsmäßigen Geldverdieners ohne die Herde derer, die von dem Kakao auch noch trinken, durch den sie gezogen werden, wie Kästner einmal sagte: „Was immer auch geschieht – nie sollst Du soweit sinken, von dem Kakao, durch welchen man Dich zieht, auch noch zu trinken.“
Kästners Warnung bleibt ungehört. Sollen die Firmen doch Milliarden verheizen, solange man haben kann, was man haben will. Degeneriert zu einer Herde willenloser Konsumenten, braucht das Volk keine Propaganda mehr, die Werbung habt diesen Platz eingenommen. Man ist glücklich über die hübsch dekorierte Wohnküche, wenn am Wochenende Freunde zum Kochen kommen. „Reich mir mal den Rettich rüber.“

Thomas Gifford – Assassini

Um es kurz zu machen, ein schlechtes Buch. Bis zur Unerträglichkeit klischeehaft, angefangen von den Beschreibungen der Szene über die Charakterisierungen der Figuren, die ständig mit verschiedenen Schauspielern verglichen werden bis hin zur Darstellung der Details. Hier wird sogar die Marke des Whiskeys, der Uhr, des Autos nicht verschwiegen. Das erinnert an Product placment im Film. Das Buch erinnert mehr an einen Roman nach einem Film als ein originäres Machwerk. Überhaupt erinnert es sehr an einen Fernsehlilm.
Gifford arbeitet mit den Mitteln des Films, um seine haarsträubende Story von einer wiederbelebten Killertruppe des Vatikans erzählen. Der Protagonist ist so amerikanisch, dass das Buch nicht enden kann, bevor er nicht den Mörder seiner Schwester erschossen hat, alle Schuldigen gerichtet sind und die männliche und weibliche Hauptfigur (eine Nonne) zusammenfinden. Der einfache Amerikaner, weltanschaulich ausgerichtet an Kapitalismus und Altem Testament, besiegt eine verdorbene, intrigante, undurchschaubare Institution und stellt im profanisierten Armageddon des Showdowns Recht und Gerechtigkeit wieder her. Die Pax americana im Fernsehfilmformat.
Am Ende habe ich auf den Abspann gewartet und mich auf die Werbung gefreut, aber die kam nicht.
Wer dieses Buch liest, muss Zeit haben. Soviel Zeit wie unter einem Sonnenschirm am Strand eines All-inclusive Hotels. Oder sich ablenken wollen. Wovon auch immer. Und zu diesem Zwecke ist es allerdings mehr als geeignet. Obwohl die Geschichte an sich dem erfahrenen Leser kaum Spannung bietet, kommt diese doch immer wieder auf, wenn sie die Situation mal wieder zuspitzt und es um Leben und Tod geht. Damit man die Lust nicht verliert, ist das auch alle 150 Seiten spätenstens der Fall.
Wie gesagt, ein schlechtes Buch. Aber zum Zwecke der Ablenkung ideal.
In diesem Sinne: Pax vobiscum.

Ein Traum

Ich hatte einen Traum letzte Nacht, vom dem ich euch erzählen muss. Nur kann ich mich nicht recht erinnern. Erinnern konnte ich mich nur an Shakespeare:

„Ich habe ein äußerst rares Gesicht gehabt. Ich hatte ’nen Traum – ’s geht über Menschenwitz, zu sagen, was es für ein Traum war. Der Mensch ist nur ein Esel, wenn er sich einfallen läßt, diesen Traum auszulegen. Mir war, als wär‘ ich – kein Menschenkind kann sagen, was. Mir war, als wär‘ ich, und mir war, als hätt‘ ich – aber der Mensch ist nur ein lumpiger Hanswurst, wenn er sich unterfängt, zu sagen, was mir war, als hätt‘ ich’s; des Menschen Auge hat’s nicht gehört, des Menschen Ohr hat’s nicht gesehen, des Menschen Hand kann’s nicht schmecken, seine Zunge kann’s nicht begreifen, und sein Herz nicht wieder sagen, was mein Traum war.“

Genau das war’s.
Gut, dass man die Träume vergisst. Denn wie unerträglich schal ist selbst die dumpfe Erinnerung an einen vergessenen Traum.

Dort und hier

Dort und hier ist leicht zu sprechen aber schwer zu gehen
Irgendetwas liegt dazwischen das der Bleibende vom Gehen kennt
als er noch kein Andrer war

Zwischen dort und hier fehlt meist etwas
das nicht nur der Bleibende die Richtung nennt

Richtung ist bloß Illusion
von hier nach dort führt kein Pfad
denn das Und liegt kiesellos dazwischen

„Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“

Den ganzen trüben Sommer über fiel dieser Satz in so ziemlich jedem Gespräch, das ich führte. So häufig, dass er sogar auffiel. Erstaunlich wie flexibel dieses Sprichwort zu handhaben ist. In fast jedem Zusammenhang ist es anwendbar, aber das ist ja ein Charakteristikum fester Wortverbindungen.Was soll das heißen: bescheide dich mit dem, was du hast und strebe nicht nach dem weit Entfernten, Unerreichbaren, wenigstens aber schwer Erreichbaren. Gefährlich ist es, auf Dächern herumzulaufen und Vögel zu fangen. Da bleibt man doch lieber auf dem Boden und freut sich an dem kleinen Spatz in seiner Hand. Immerhin erscheint es für den Städter aus heutiger Sicht ohnehin irrwitzig zu sein, wegen einer Taube solch ein Risiko einzugehen. Sind doch Tauben für ihn bestenfalls lästig. Werden sie doch gerne als Flugratten bezeichnet, so gewinnt das Sprichwort nur noch mehr an Plausibilität. Tauben jagt man heute aus Gründen der Stadthygiene und man kommt ihnen doch nicht bei. Sie sind zäh und wenn auch nicht so schlau wie Ratten, so doch immerhin mindestens genauso widerstandsfähig gegen die hinterhältigen Nachstellungen, denen sie ausgesetzt sind.
Der Taubenzüchter dagegen dürfte den Kopf schütteln, wenn am Stammtisch mal wieder dieses Sprichwort fällt. Vielleicht ist ein Spatz noch nicht mal ein richtiger Vogel für den Vereinsmeier, der seiner Freizeitbeschäftigung nur in streng organisierter Form nachzugehen gewillt ist und mit einem an längst vergangene Zeiten erinnernden Rigorismus alles Störende oder Andersartige verdammt bis hin zum Wunsch nach Vernichtung. Wer schon mal einen Angler über Kormorane hat schimpfen hören, sie nähmen den Anglern den ganzen Fisch weg, weiß, wovon die Rede ist. Als ob der liebe Gott die Fische für den Angler erschaffen hätte.
Jede Gefahr würde der Taubenliebhaber auf sich nehmen, um seinen Vogel zu retten, ihn vom steilen Dach in die wohlbehütete Sicherheit des Käfigs zurückzubringen. Was sollte so einer mit einem Spatz. Mit sowas kann man bei der nächsten Geflügelschau keinen Blumentopf gewinnen.
Wenn aber der Taubenzüchter nicht aufbegehrt, sobald er das Sprichwort hört, so liegt das an der weitgehenden rhetorischen Entleerung des Satzes, der so abgedroschen ist, dass er jeden semantischen Wert eingebüßt hat und nur noch als rhetorisches Füllmaterial dient, vielleicht gerade noch als Eingeständnis der eigenen Sprachlosigkeit zu deuten ist.
Oft will man mit dem Sprichwort trösten. Freu dich an dem, was du hast, das ist doch auch schön. Aber ist das ein Trost? Mit diesem Sprichwort wird einem vielmehr eine Bescheidenheit aufgezwängt, die davon abhalten soll, seinen Zustand grundlegend zu überdenken. Denn das muss man, will man ihn ändern. Und genau diesen Mut zur Veränderung wird einem mit diesem Sprichwort in den Hals zurückgestopft, angereichert mit einer guten Prise Vorwurf der Unbescheidenheit. Wer mehr will, wird diesen Satz als Beleidigung auffassen, denn er glaubt sich ungerechtfertigt über seine Möglichkeiten und Verhältnisse erhoben zu haben, muss er sich dies Sprichwort von seinem Gegenüber anhören.
So ist dieser Spruch ein psycholinguistischer Trick mit dem Ziel den gesellschaftlichen Status quo zu erhalten. Jeder soll an seinem Platz bleiben, mit dem zufrieden sein, was er hat. Andere haben vielleicht mehr, sind reicher, mächtiger aber die haben doch auch ihre Probleme, hört man dann.
Ein Sprichwort als Mittel gesellschaftspolitischer Unterdrückung: dir gehört der Spatz, die Taube ist für einen anderen. Für jemanden, der sich auf dem gefährlichen Dach sicher zu bewegen weiß, so als ob der von der Natur aus mit einem feineren Gleichgewichtssinn ausgestattet wurde. Oder die Taube, dass sie weiß ist, werden wohl die meisten annehmen, kommt freiwillig von ihrem hohen Sitz herab, zu einem, der sie verdient. Wozu also den Spatz aufgeben für etwas, das in der weiten Ferne der Unwahrscheinlichkeit hockt. Man will nicht, dass sich die Menschen in die Unsicherheit einer ungewissen Zukunft begeben, denn das schadet dem Bestand des Staates. Somit ist dieser Spruch die Parole der staatliche Selbsterhaltung, der Aufrechterhaltung einer Ordnung, deren einziger Vorteil ist, dass es eben eine Ordnung ist und damit besser als jede Unordnung sein muss. Bei uns funktioniert dieses Sprichwort aber nur, weil hier jeder etwas zu verlieren hat. Oder das zumindest glaubt.
Der Spruch ist mehr als die Parole der Subalternen: er ist ein metaphorisches Traumverbot. Schlag dir das aus dem Kopf. Träume nicht von alten Zeiten oder neuen, träume nicht von dem Mädchen, das weit weg ist, träume nicht von Kunst, sondern geh‘ arbeiten und freu dich über den Kunstdruck an der Wand. Begrabe dein handgeschriebenes Gedicht in der Schublade und so fort und so fort. Und so macht es mich wütend, wenn ich den Satz hören muss, erst recht, wenn er mir gilt. Bleibt doch mit euren Spatzen in der Hand auf dem sicheren Gehweg, ich klettere hinauf auf’s Dach. Kann schon sein, dass ich falle.
Besser wär’s, man drehte den Satz um: Lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand.

Kunst – Gesellschaft – web2.0. Ein Essay in Teilen – 2. Wilde Zeiten

Goethe fühlt sich wohl. Trägt seine „Werther-Uniform“, blauer Rock, gelbe Hose, gelbe Weste, halbhohe Stiefel. So kleidet sich die Jungend in ganz Deutschland. Genie, Kraft, Gefühl, Natur, Shakespeare sind die Schlagworte der Zeit, der Werther ist Leitbild, jeder will sein wie er, fühlen wie er, ja einige schießen sich tatsächlich wie der unglückliche Werther eine Kugel in den Kopf, den Roman in der Tasche. „Werther-Fieber“ nannte man das. „Werther-Effekt“ nennt man das heute. Der Sturm und Drang als Jugendbewegung, Urahn des Flowerpower, Großvater des Grunge. Allerdings, der Autor lebt, hat sich eben nicht die Kugel gegeben, als er an Liebe und Leben litt. Er Lebt jetzt in Weimar. Und wie!
Goethe ist 26, der regierende Fürst 18. Alles scheint möglich in dem kleinen Fürstentum. Die jungen Menschen am Hof finden sich, die Alten schauen kopfschüttelnd zu. Ein waschechter Generationenkonflikt, mit dem Vorteil auf der Seite der Jungen. Auch hier sind die Alten konservativ, reaktionär, spießig. Aber die höchste Autorität ist der junge Herzog. Also tut man, was man will. Keine übergeordnete Instanz schränkt die jungen Leute ein. Keiner kommt mit dem alten „Tu dies nicht, tu das nicht“ und wohlgemeinte Ratschläge der Alten kann man ignorieren, darin sollte man Übung haben in diesem Alter.
Gezielt provoziert die Jugend, verstößt gegen Etikette. Goethe kommt in seinen groben Wertherstiefeln zur fürstlichen Tafel marschiert, flucht ständig, sodass Charlotte von Stein ihm aus dem Weg geht und glaubt, „Goethe und ich werden niemals Freunde“.
Da sollte sie sich täuschen. Die feine Hofdame beschwert sich über das Verhalten des Dichters:
„…und nun sein unanständ’ges Betragen mit Fluchen, mit pöbelhaften niedern Ausdrücken. Auf sein Moralisches, sobald es aufs Handeln ankommt, wird’s vielleicht keinen Einfluss haben, aber er verdirbt andere.“
Andere, das ist vor allem der Herzog, um den sie sich sorgt. Immerhin soll dieser die Geschicke des Landes lenken, ein sich wie wild aufführender junger Dichter kann da doch kaum ein gutes Vorbild abgeben.
Goethes bringt das Schlittschuhfahren nach Weimar. Man ist begeistert. Läuft nachts auf den Seen, am Ufer stehen Diener mit Fackeln und erhellen die Szene.
Carl August und er sind unzertrennlich in dieser Zeit. Sie reiten durchs Land, knallen vorher mit den Reitpeitschen auf dem Markt. Goethe verletzt sich dabei am Auge, wie er nach Frankfurt schreibt. Mit den Jägern durchstreifen sie das Land, verbringen die Nächte am Lagerfeuer, schwimmen nackt in Flüssen und Seen zum Entsetzen der Landbevölkerung. Treten verkleidet oder unter falschem Namen auf, schäkern mit den Mädchen auf den Dörfern. Immer mehr junge, vor allem „genialische“ Naturen tauchen in Weimar auf, und sei nur für ein paar Wochen. Der Herzog hält sie aus, beschenkt sie, verabschiedet sie wieder. So kommen die Brüder Stolberg, Lenz, Klinger. Gemeinsam poltert man ins Zimmer der Herzogin Luise, die das sehr krumm nimmt, schießt mit Pistolen im Haus, reitet nachts mit weißen Bettlaken bekleidet durchs Land und verschreckt die Bauern. Fällt in Gasthöfen ein, säuft bis zum Umfallen, lässt die Fässer des Gasthauses den Berg hinunterrollen, wirft Gläser an die Wand.
Sie lassen die Tür zum Zimmer der Hofdame Amalie von Göchhausen zumauern. Man amüsiert sich, als man erfährt, dass das arme Ding wie blöd im Haus herumgelaufen ist, ihr Zimmer suchend, und schließlich in einem Zustand arger Verwirrtheit bei einer Freundin auf dem Sofa übernachten musste.
Ein knappes halbes Jahr dauert der Spuk. im Sommer 1776 wird Goethe zum „Geheimen Lagationsrat ernannt“, erhält 1200 Taler Gehalt (nur einer verdient mehr im Herzogtum) und wird gegen heftige Widerstände in das Geheime Conseil berufen, wird also Mitglied der Regierung. Man hat sich offenbar ausgetobt und lässt es jetzt ruhiger angehen.
10 Jahre lang wird sich Goethe nun den Regierungsgeschäften widmen, wird in seiner Liebe zu Charlotte von Stein erstarren und so gut wie nichts schreiben. Erst durch seine Flucht nach Italien wird er diesen Zustand überwinden können.
Auf den ersten Blick mag dieses halbe Jahr dem sinnlos oder vertan erscheinen, der glaubt das Leben bestünde aus Arbeit und ein Leben um des Lebens willen sei ein Widerspruch. In dieser Zeit wird aber der Grundstein gelegt für jenen berühmten Musenhof, der wohl einzigartig in der deutschen Geistesgeschichte sein dürfte. Nicht Wien, nicht Augsburg oder Mannheim, Braunschweig oder Hamburg, sondern in dem kleinen, im Vergleich ärmlichen und abgelegenen Fürstentum im Thüringer Wald finden sich eine Reihe von Künstlern zusammen, die sich gegenseitig inspirieren und motivieren, eingerahmt von einer Gruppe empfindungsfähiger Menschen. Im Rahmen eines absolutistischen Fürstentums bildet sich ein Kreis von Menschen, die versuchen, der Kunst den Primat über das Leben einzuräumen. Der Kreis von Weimar als soziales Experiment.

Carlos Ruiz Zafón – Der Schatten den Windes – Anmerkungen

Homberle hat ja bereits einen schönen Artikel zu diesem Buch geschrieben, dem ich mich in weiten Teilen auch anschließe. Immerhin kann ich mich aus diesem Grund auf ein paar Dinge beschränken, die mir während der Lektüre aufgefallen sind.
Interessant ist auf alle Fälle die Story. Drei Ebenen sind auszumachen. Die Handlung um den jungen Daniel Sempere, die Lebensgeschichte von Julian Carax, der Inhalt von Carax Roman „Der Schatten des Windes“ sowie die Geschichte des Buches, das man Händen hält und das eigentlich „die Nebelburg“ heißen müsste. Diese Ebenen sind, wie von Homberle angedeutet, mit einander und ineinander verschlungen. So entstehen Analogien aber auch Irrwege, was den Roman zu einer sehr anregenden Sache macht. Im Grunde ist dieses Buch auf der ersten Ebene eine Art Adoleszenzroman: Daniels Entwicklung vom Kind zum Mann, er erlebt alle wichtigen Stationen des Erwachsenwerdens, freilich in etwas extremerer Form als andere und findet, leider etwas zu einfach, am Ende seinen Platz im Kreise seiner kleinen Familie. Auf der zweiten Ebene ist das Buch ein Bildungsroman, indem Zafòn der Geschichte Daniels diejenige von Julian Carax unterlegt. Leider, möchte man sagen, findet auch Carax zu seinem inneren Frieden am Ende eines wechselhaften Schicksals, das von Liebe und Hass geprägt ist, ja er findet sogar seine Sprache wieder, schreibt schließlich den Roman, den der Leser in Händen hält. Nicht die Vermischung der Ebenen, die die Ebene des Inhalts am Ende sogar überspringen kann, sondern gerade das mehr als schale Ende, das nur Freunde von massentauglichen Hollywoodfilmen schön finden werden, zerstört viel dem eigentlichen Reiz des Romans und wirft überdies noch ein moralisches Problem auf.
Carax tötet in einem sehr lange hinausgezögerten Showdown Fumero, was keine große Überrraschung ist und aus Sicht des Lesers auch in Ordnung geht, ist Fumero doch ein widerlicher Sadist und Verbrecher. Außerdem aber bringt Carax den Chef seiner „zweiten“ Frau Nurieta Monfort um, der sicherlich kein netter Kerl ist, hat er doch die junge Frau mehr als belästigt. Dieser Mord wird nicht gerechtfertigt und um Carax‘ Hass darzustellen ist dieses inhaltliche Detail viel zu stark und verlangt, wenn schon nicht eine Rechtfertigung so doch zumindest Sühne. Aber auch diese fehlt, ja im Grunde wird diese Untat damit gutgeheißen, dass es Carax am Ende doch gelingt seinen Frieden zu finden und zur Schriftstellerei zurückzukehren. So bleibt dieser Mord als moralisches Problem bestehen, das man höchstens damit erklären kann, dass vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges ohnehin die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Jeder ist verdächtig, jeder hat Geheimnisse, die besser ungesagt bleiben. Einzig Fumero ist in dieser Hinsicht deutlich gezeichnet.
Die Zeit des spanischen Bürgerkriegs sollte den historischen Rahmen des Romans abgeben, aber Zafòn lässt der Beschreibung dieser Umstände zu viel Raum. Sie drängt sich zwischenzeitlich zu sehr in den Vordergrund, um noch als Nebenhandlung oder historisches Kolorit gelten zu können und rüttelt auf diese Weise sehr an der dramaturgischen Integrität des ganzen Romans.
Vielleicht noch ein Wort zu den Personen. Nicht immer gelingt es Zafón seine Figuren plausibel handeln zu lassen. Der zehnjährige Daniel des Beginns spricht nicht wie ein Kind, sondern wie ein vom Leben gezeichneter Held eines amerikanischen Films. Leider zieht sich dieses Problem durch das ganze Buch. Als Beispiel sei nur das erste Gespräch zwischen Fumero und Daniel erwähnt. Obwohl Zafón seinen Protagonisten seine Angst eingestehen lässt, spricht Daniel cool und mit kaum versteckten Zynismus zu Fumero, der wirklich ein abgebrühtes Arschloch ist.
Die Frauenfiguren lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Alle Frauen, zu denen sich Daniel oder Carax hingezogen fühlen, sind engelgleiche Gestalten, irgendwo zwischen Femme fatale und Heiliger Jungfrau einzuordnen. Alle anderen sind brave, einfache Frauen, die sich mit ihrer Rolle als Mutter und Versorger zufriedengeben müssen. Ein bisschen mehr Variation hätte dem Roman gut getan. Mein Lieblingsfigur ist Fermin, der aber doch ein bisschen zu sehr schillert. Ein Charakter von mephistophelischem Witz gepaart mit der Gerissenheit eines James Bond und der Libido eines Don Juan.
Viel zu kurz aber kommt mir leider der „Friedhof der vergessenen Bücher“. Dieses geheimnisvolle Institut hat soviel erzählerisches wie dramaturgisches Potential, dass es traurig ist, mit anzusehen, wie dieser Ort lediglich als Hintergrund der Handlung dient.
Immerhin passt es zum mehr oder weniger literarischen Thema des Buches, dass der Autor es sich nicht nehmen lässt, an zahlreichen Stellen auf andere Autoren der europäischen Literaturgeschichte (wie zum Beispiel Flaubert, Josesph Conrad, Kafka und Brecht) mit leisem Wink hinzudeuten.

Kunst – Gesellschaft – web2.0 . Ein Essay in Teilen – 1. Goethe kommt nach Weimar

1775 kommt Goethe nach Weimar. Der Bürgersohn aus der Freien Reichsstadt Frankfurt, die ihren muffigen Stolz eines autonomen Bürgertums vor sich her trägt, soll nun den Fürstenknecht spielen. Goethes Vater ist dagegen, möchte vielmehr, dass der Sohn wie vor Jahren er selbst nach Italien fährt. Für den Moment scheint es, als habe der Vater gesiegt. Goethe besteigt die Kutsche und reist gen Süden. Nach ein paar fröhlichen Tagen holt ihn ein Brief des Kammerherrn von Kalb in Heidelberg ein.
„Ich packte für den Norden, und ziehe nach Süden, ich sagte zu, und komme nicht, ich sagte ab und komme“, heißt es in Goethes Reisetagebuch vom 30.10.1775.
Der Weg nach Italien führt über Thüringen. Unsicherheit spricht aus den Antithesen dieses Satzes. Die Warnung des Vater, in einen Bibelvers verpackt, eröffnet den kurzen Text. Zwischen den Wünschen des Vaters und der Einladung des Herzogs muss er sich entscheiden. Bürgertum oder Höfische Gesellschaft! Er will aber nicht in Frankfurt bleiben, auch wenn er einige liebe Menschen würde zurücklassen muss. Aber auch Weimar soll nicht für immer sein. Wohin die Reise gehen wird, ist ihm wohl selbst nicht klar in diesen Tagen.
Vom jungen Carl August, dem seit kurzem regierenden Fürsten, eingeladen, trifft Goethe am 7.11.1775 in dem kleinem thüringischen Fürstentum ein. Ein paar Tage später lernt er eine Frau kennen, die sein Leben mehr als zehn Jahren hindurch prägen wird, Charlotte von Stein.
Aber nicht allein den Günstling des jungen Fürsten zu geben, soll seine Aufgabe sein, nein, er soll in den Staatsdienst eintreten und neben seiner Schriftstellerei Politik und Verwaltung des kleinen Herzogtums mitgestalten. Eine große Aufgabe für einen 26-jährigen mittelmäßigen Juristen, auch wenn er im Moment der Stern am wolkenverhangenen Himmel der europäischen Literatur ist. Nicht Hofdichter, nicht Gründer und Mittelpunkt eines Musenhofes, Beamter soll er sein. Seine Art, seine Orginalität, sein Genie, wie es die Zeit nennt, soll dem 18-jährigen Herzog beiseite stehen, das ganze Staatswesen beleben. Und wenn der Herzog profitiert, so geht es auch den Untertanen besser. So jedenfalls in der Theorie des aufgeklärten Absolutismus.
Was soll`s. Die erste Zeit ist ohnehin eine des Kennenlernens. Mal schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Gehen kann man immer. Zur Not flüchten – aber das wird noch elf Jahre dauern.
Mit Wieland hat er sich schon angefreundet. Der ist ganz begeistert von ihm, alle früheren Vorbehalte gegen den Fremden mit einem Lächeln beiseite wischend: „Goethe, den wir seit neun Tagen hier besitzen, ist das größte Genie, und der beste, liebenswerteste Mensch, den ich kenne…“
Auch wenn er nicht für immer bleiben will (er wird es bekanntlich dennoch tun…), auch wenn der junge Mann nicht so recht weiß, was aus ihm selbst werden soll, in Weimar gefällt es ihm bald so gut, dass er im Dezember seinen Freund Herder in Thüringische zu lotsen versucht:„Lieber Bruder der Herzog bedarf eines General Superintendenten, hättest du die Zeit deinen Plan auf Göttingen geändert, wäre hier wohl was zu thun. Schreib mir ein Wort. Allenfalls ist auf die Veränderlichkeit der Zukunft ein Blick hierher. Leb wohl. […] Mir ists wohl hier, in aller Art. Wieland ist eine brave Seele und die Fürstenkinder edel lieb und hold.“
Zuversicht also. Die alten Zweifel verstummen im wirbelnden Neuen. Und in Weimar geht’s rund in den kommenden Monaten.

Sigur Rós – ()

Im Artikel zum Amiina-Album erwähnt ist es nun an der Zeit, diese Band vorzustellen. Sie spielte auf dem Southside – damit hättest du mich beinahe rumgekriegt Homberle – und ich muss sagen, ich kann mir diese Art von Musik nicht unter freiem Himmel vorstellen, zumindest nicht in der Sonne, vielleicht bei Nacht oder Sonnenaufgang. Außerdem glaube ich, dass ein Großteil des Publikums sicher eher irritiert sein würde, denn die Musik der Isländer unterscheidet sich doch sehr von der der anderen Bands, die dort auftreten.
Naja, am 11.8. werde ich die Band im Palladium in Köln sehen, das sollte ein besserer Rahmen sein.
Es fällt mir schwer diese Art von Musik zu beschreiben. Der blinde Sänger spielt seine Gitarre mit einem Geigenbogen. Entsprechend ruhig und elegisch klingt es. Nein, ruhig ist das falsche Wort. Vom Tempo her gehört die Musik dieser Platte sicher eher in die Ambient-ecke, vor allem das Piano erinnert an Brian Eno, den Erfinder des Ambient. Entspannt klingt die Musik ebenfalls nicht. Vielleicht hilft ja der Text weiter – – – Es gibt keinen. Auf anderen Platten bedienen sich Sigur Ros ihrer finnischen Muttersprache, aber hier ist es nur Gesang. Gesang in seiner vielleicht ursprünglichen Form. Melodische Lautmalerei.
Eine Handvoll dieser Klangbilder dominieren dieses CD, beständig wiederholt und in sanft variierende Melodien eingebettet. Es scheint, als ob die Melodien um ihren Mittelpunkt kreisen, in dem Versuch diesem unhörbaren Zentrum im zerfließenden Klang der einzelnen Klangbilder so nahe wie möglich zu kommen. So wie ein Ast den ganzen Tag vom Wind aus seiner ursprünglichen , seiner ihm angemessenen Lage, leicht nach links, rechts, oben oder unten gedrückt wird. Ohne diesen Wind käme er zur Ruhe. Und so ist die absolute Melodie, nach der diese Platte sucht, eine ,die sie nie erreichen kann, ohne sich selbst zu verlieren: die Ruhe, das Schweigen. In der Stille transzendiert sich die Musik selbst.
Gesang und Melodie sind auf demselben unmöglichen Weg. So hat diese Platte einen durchaus tragischen Charakter. Im Laufe der CD steigert sich Melancholie der Beginns zu einer Apologie des Schmerzes über den Verlust der Stille im Bewusstsein der eigenen Unzulänglichkeit der Mittel, ein Schmerz über das einmalige Durchbrechen der Grenze zum Klang. Dieser Weg ist nicht umkehrbar, wie die Zeit, und auch nicht in einer vorausschreitenden, sich immer weiter vom Ursprung entfernenden Progression wieder zu erlangen. Was bleibt ist der Versuch allein und vielleicht eine tief empfundene Ahnung, dass das Ende mit dem Anfang zusammenfallen könnte.
Ein fundamentalontologisches Problem wird also auf dieser Platte in Form der Musik in der ganzen Bitterkeit des absoluten Dilemmas in dunklen Farben gemalt, die nur vom Kern der menschlichen Seele, zu dem die Kunst allein zu dringen vermag, erfasst werden können.
Das Leben als Gleichung zwischen Finden und Verlieren, die immer einen negativen Rest zu haben scheint.
Bildlich symbolisiert dies das Cover, das zwei Klammern zeigt, die nichts einklammern von nichts eingerahmt sind. Letztlich sind sie selbst der Rahmen, der Beliebiges zusammenfügen kann, um dem Wahllosen einen Sinn zu geben. Somit wirkt das Cover als retardierendes Moment dieser Platte.
Das Bild aus dem Amiina-Artikel ist an dieser Stelle zu Ende zu bringen. Klang jene Platte wie ein Blick aus einer heimelichen Hütte in dunkler Nacht nach einem etwas verspäteten Wanderer, so klingt diese wie der letzte Blick des Wanderers hinab auf die helle und warme Hütte in der eiskalten Nacht, bevor er sich abwendet und in den schroffen Hügeln Islands verschwindet.

Edward Gibbon – Verfall und Untergang des römischen Imperiums

Als man Mommsen bat, sein schon zur damaligen Zeit monumentales Werk über den Tod Caesars hinaus mit einer Darstellung der römischen Kaiserzeit fortzusetzen, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass Inhalt und Form von Gibbons Darstellung nicht zu übertreffen seien und somit der Geschichte des langwierigen Niedergangs des Römischen Reiches nichts mehr Substantielles hinzugefügt zu werden könne. Diese Sichtweise darf man mit guten Gewissen anzweifeln, ruht doch Gibbons Werk fast ausschließlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen, ganz im Gegensatz zu Mommsen, der nicht nur das Glück hatte auf Ergebnisse der noch jungen Wissenschaft von der Archäologie zurückgreifen zu können, sondern der ebenfalls in einem bis dahin (und bis heute) nicht gekannten Ausmaß vor allem epigraphisches Material für seine Untersuchung heranzog.
Dennoch oder gerade deswegen ist Gibbons Werk nur um so beeindruckender. Aus dem ebenso reichhaltigen wie problematischen Quellenmaterial arbeitet er die Gründe für den Verfall und den zwangsläufigen Untergang des Römischen Reiches im Westen heraus. Der Verfall der Sitten, allgemeine Dekadenz, die egoistische Suche nach Luxus und Macht zerstörten in einem überraschend langwierigen Prozess von fast 500 Jahren die so unerschütterlich scheinenden Fundamente des Römischen Reiches. Das Werk reicht von Augustus bis beinahe zu Karl dem Großen, geht also über den eigentlichen Untergang des Römischen Reiches im Jahre 476 n.Chr hinaus, als der letzte Kaiser, der kurioserweise nach dem sagenhaften Gründer der Stadt sowie nach dem großen Augustus benannt wurde, Romolus Augustulus, den kaiserlichen Purpur ablegte zugunsten von Odoaker, der Abstammung nach der Sohn eines Barbaren, die bereits seit langer Zeit die Geschicke des Römischen Reiches lenkten. Odoaker ließ dem Kaiser des Oströmischen Reiches in Konstantinopel ausrichten, in Italien bräuchte man keinen „Augustus“ mehr, weshalb der den Titel eines Rex Italiae annehmen wolle.
Präzise und mit einem guten Schuss Ironie verfolgt Gibbon die wechselhaften Ereignisse dieser 500 Jahre. Gerade die ironische manchmal sogar zynische Darstellung verhindert, dass das immerhin 3000 Seiten starke Werke unter detaillreichen Last der reinen Nacherzählung in tödlicher Langeweile erstarrt. Vielmehr bleibt der gesamte Bau auf diese Weise geschmeidig unterhaltsam, gelegentlich sogar amüsant.
Gibbon hat, wie Mommsen, den Mut die Ereignisse einer rein subjektiven Wertung zu unterziehen, die lediglich auf den ersten Blick von dem scheinbaren Rückgriff auf den common sense der Aufklärung objektiviert wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, die herrschenden politischen Zustände im Europa der zweiten Hälften des 18. Jahrhunderts anzugreifen und zu kritisieren. Dadurch dass er immer wieder Analogien zwischen den antiken Verhältnissen und den zeitgenössischen schafft, gerät das Werk im Grunde zu einer Art von „Germania“ des aufgeklärten Absoutismus aus dem Blickwinkel des „bürgerlich-liberalen“ Englang. Tacitus wollte mit seiner Schrift bekanntlich nicht zeigen, wie einfach und naturverbunden die scheinbar so wilden Germanen in ihren dunklen Wäldern lebten, sondern er wollte Im Spiegel des Gegenteils die eigene Kultur der Dekandenz und der hemmungslos egoistischen Gier nach Reichtum und Macht darstellen.
Gibbon zeigt nur auf den ersten Blick Fremdes. Die zeitgenössischen Verhältnisse erscheinen im Abstand von 1200 Jahren greller und bedrohlicher. Abgemildert wird diese sich durchziehende Kritik an den bestehenden Verhältnissen durch typische aufklärischerische Anmerkungen über die bedeutenden Fortschritte, die im Laufe der Zeit auf den verschiedenen Feldern eines Gemeinwesens erreicht wurden. Nicht immer überzeugen diese Anmerkungen, schon gar nicht aus der Perspektive eines Lesers des 21. Jahrhunderts, dem der Gedanke eines teleologischen Geschichtsverständnisses, das hinter diesen Anmerkungen steckt, wohl eher reichlich schal vorkommen dürfte, als dass er sich dafür faszinieren könnte.
Bemerkenswert sind aber vor allem die ausführlichen Abschnitte über das Christentum, das sich genau in dieser Zeit von einer kleines Sekte zur Staatsreligion wandelt. Mit deutlichen Vorbehalten schreibt Gibbon eine herrlich erfrischende Geschichte der Frühzeit des Christentums und zertrümmert mit kritischen Geist die althergebrachte Tradition der panegyrischen Kirchengeschichtsschreibung. So wie überall Egoismus, Ruhmsucht, Lüge, Missgunst und Neid herrschen, so auch in den Institutionen der jungen, sich entwickelnden Kirche. Gibbon unterscheidet auch hier mit feinem Gespür zwischen Heuchlern und Heiligen, wie er auch im Wühltisch der politischen Geschichte unter der großen Zahl schlechter, ja unfähiger Herrscher die fähigen Politikern und Feldherren mit sicherer Hand findet.
Das große Problem von Gibbons Darstellung ist der Primat der politischen Geschichte. Es ist ein kaum zu vermeidendes Grundübel politischer Geschichtsschreibung, dass sie leicht der Versuchung nachgibt, die Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten zu reduzieren. Gibbon kann sich dem nur teilweise entziehen. Der Primat von Politik und Militär ist deutlich und im Hinblick auf die Entstehungzeit des Werkes auch keineswegs anrüchig. Fast völlig ausgeblendet bleiben Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, womit auch er Hauptunterschied der geschichtswissenschaftlichen Methodik zwischen Gibbon und Mommen bezeichnet wäre.
Zum Schluss noch eine Warnung. Man sollte nicht in einen überflüssigen Geschichtspessimismus verfallen, nachdem man dieses umfangreiche Werk gelesen hat. Sicher kann sich einem der Gedanke aufdrängen, die Geschichte der Menschheit werde vorangetrieben durch die wechselhaften Ergebnisse militärischer Auseinandersetzungen, der Krieg als Vater aller Dinge also, und von einer kleinen Anzahl Männer je nach ihren individuellen Fähigeiten und Eitelkeiten blind in irgendeine Richtung gelenkt.
Die Geschichte der Menschen kennt keine Richtung, sie läuft schon gar nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, das in allen seinen schillernden Ausprägungen immer nur eine ideologische Fiktion war. Die Geschichte der Menschen hat demnach auch keinen Sinn. Nicht Resignation sollte die Folge dieser Schlussfolgerung sein, sondern vielmehr Antrieb, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern, um unseren Nachkommen genau das auch zu ermöglichen.

Gruß vom alten Werther

Wenn du fragst, wie Leute hier sind, muß ich dir sagen: wie überall!
Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden…

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