Edward Gibbon – Verfall und Untergang des römischen Imperiums

Als man Mommsen bat, sein schon zur damaligen Zeit monumentales Werk über den Tod Caesars hinaus mit einer Darstellung der römischen Kaiserzeit fortzusetzen, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass Inhalt und Form von Gibbons Darstellung nicht zu übertreffen seien und somit der Geschichte des langwierigen Niedergangs des Römischen Reiches nichts mehr Substantielles hinzugefügt zu werden könne. Diese Sichtweise darf man mit guten Gewissen anzweifeln, ruht doch Gibbons Werk fast ausschließlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen, ganz im Gegensatz zu Mommsen, der nicht nur das Glück hatte auf Ergebnisse der noch jungen Wissenschaft von der Archäologie zurückgreifen zu können, sondern der ebenfalls in einem bis dahin (und bis heute) nicht gekannten Ausmaß vor allem epigraphisches Material für seine Untersuchung heranzog.
Dennoch oder gerade deswegen ist Gibbons Werk nur um so beeindruckender. Aus dem ebenso reichhaltigen wie problematischen Quellenmaterial arbeitet er die Gründe für den Verfall und den zwangsläufigen Untergang des Römischen Reiches im Westen heraus. Der Verfall der Sitten, allgemeine Dekadenz, die egoistische Suche nach Luxus und Macht zerstörten in einem überraschend langwierigen Prozess von fast 500 Jahren die so unerschütterlich scheinenden Fundamente des Römischen Reiches. Das Werk reicht von Augustus bis beinahe zu Karl dem Großen, geht also über den eigentlichen Untergang des Römischen Reiches im Jahre 476 n.Chr hinaus, als der letzte Kaiser, der kurioserweise nach dem sagenhaften Gründer der Stadt sowie nach dem großen Augustus benannt wurde, Romolus Augustulus, den kaiserlichen Purpur ablegte zugunsten von Odoaker, der Abstammung nach der Sohn eines Barbaren, die bereits seit langer Zeit die Geschicke des Römischen Reiches lenkten. Odoaker ließ dem Kaiser des Oströmischen Reiches in Konstantinopel ausrichten, in Italien bräuchte man keinen „Augustus“ mehr, weshalb der den Titel eines Rex Italiae annehmen wolle.
Präzise und mit einem guten Schuss Ironie verfolgt Gibbon die wechselhaften Ereignisse dieser 500 Jahre. Gerade die ironische manchmal sogar zynische Darstellung verhindert, dass das immerhin 3000 Seiten starke Werke unter detaillreichen Last der reinen Nacherzählung in tödlicher Langeweile erstarrt. Vielmehr bleibt der gesamte Bau auf diese Weise geschmeidig unterhaltsam, gelegentlich sogar amüsant.
Gibbon hat, wie Mommsen, den Mut die Ereignisse einer rein subjektiven Wertung zu unterziehen, die lediglich auf den ersten Blick von dem scheinbaren Rückgriff auf den common sense der Aufklärung objektiviert wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, die herrschenden politischen Zustände im Europa der zweiten Hälften des 18. Jahrhunderts anzugreifen und zu kritisieren. Dadurch dass er immer wieder Analogien zwischen den antiken Verhältnissen und den zeitgenössischen schafft, gerät das Werk im Grunde zu einer Art von „Germania“ des aufgeklärten Absoutismus aus dem Blickwinkel des „bürgerlich-liberalen“ Englang. Tacitus wollte mit seiner Schrift bekanntlich nicht zeigen, wie einfach und naturverbunden die scheinbar so wilden Germanen in ihren dunklen Wäldern lebten, sondern er wollte Im Spiegel des Gegenteils die eigene Kultur der Dekandenz und der hemmungslos egoistischen Gier nach Reichtum und Macht darstellen.
Gibbon zeigt nur auf den ersten Blick Fremdes. Die zeitgenössischen Verhältnisse erscheinen im Abstand von 1200 Jahren greller und bedrohlicher. Abgemildert wird diese sich durchziehende Kritik an den bestehenden Verhältnissen durch typische aufklärischerische Anmerkungen über die bedeutenden Fortschritte, die im Laufe der Zeit auf den verschiedenen Feldern eines Gemeinwesens erreicht wurden. Nicht immer überzeugen diese Anmerkungen, schon gar nicht aus der Perspektive eines Lesers des 21. Jahrhunderts, dem der Gedanke eines teleologischen Geschichtsverständnisses, das hinter diesen Anmerkungen steckt, wohl eher reichlich schal vorkommen dürfte, als dass er sich dafür faszinieren könnte.
Bemerkenswert sind aber vor allem die ausführlichen Abschnitte über das Christentum, das sich genau in dieser Zeit von einer kleines Sekte zur Staatsreligion wandelt. Mit deutlichen Vorbehalten schreibt Gibbon eine herrlich erfrischende Geschichte der Frühzeit des Christentums und zertrümmert mit kritischen Geist die althergebrachte Tradition der panegyrischen Kirchengeschichtsschreibung. So wie überall Egoismus, Ruhmsucht, Lüge, Missgunst und Neid herrschen, so auch in den Institutionen der jungen, sich entwickelnden Kirche. Gibbon unterscheidet auch hier mit feinem Gespür zwischen Heuchlern und Heiligen, wie er auch im Wühltisch der politischen Geschichte unter der großen Zahl schlechter, ja unfähiger Herrscher die fähigen Politikern und Feldherren mit sicherer Hand findet.
Das große Problem von Gibbons Darstellung ist der Primat der politischen Geschichte. Es ist ein kaum zu vermeidendes Grundübel politischer Geschichtsschreibung, dass sie leicht der Versuchung nachgibt, die Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten zu reduzieren. Gibbon kann sich dem nur teilweise entziehen. Der Primat von Politik und Militär ist deutlich und im Hinblick auf die Entstehungzeit des Werkes auch keineswegs anrüchig. Fast völlig ausgeblendet bleiben Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, womit auch er Hauptunterschied der geschichtswissenschaftlichen Methodik zwischen Gibbon und Mommen bezeichnet wäre.
Zum Schluss noch eine Warnung. Man sollte nicht in einen überflüssigen Geschichtspessimismus verfallen, nachdem man dieses umfangreiche Werk gelesen hat. Sicher kann sich einem der Gedanke aufdrängen, die Geschichte der Menschheit werde vorangetrieben durch die wechselhaften Ergebnisse militärischer Auseinandersetzungen, der Krieg als Vater aller Dinge also, und von einer kleinen Anzahl Männer je nach ihren individuellen Fähigeiten und Eitelkeiten blind in irgendeine Richtung gelenkt.
Die Geschichte der Menschen kennt keine Richtung, sie läuft schon gar nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, das in allen seinen schillernden Ausprägungen immer nur eine ideologische Fiktion war. Die Geschichte der Menschen hat demnach auch keinen Sinn. Nicht Resignation sollte die Folge dieser Schlussfolgerung sein, sondern vielmehr Antrieb, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern, um unseren Nachkommen genau das auch zu ermöglichen.

Gruß vom alten Werther

Wenn du fragst, wie Leute hier sind, muß ich dir sagen: wie überall!
Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den größten Teil der Zeit, um zu leben, und das bißchen, das ihnen von Freiheit bleibt, ängstigt sie so, daß sie alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden…

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