Pessoa – Buch der Unruhe, Fragment 387

Um einen Eindruck zu vermitteln, gebe ich hier das Fragment 387 wieder:

„Vermutlich bin ich, was man einen Dekadenten nennt, einer, dessen Geist äußerlich durch dieses traurige Leuchten einer künstlichen Fremdheit bestimmt ist, die einer rastlosen, seiltänzerischen Seele in unerwarteten Worten Gestalt gibt. Ich späre, daß ich so bin und daß ich absurd bin. Daher suche ich in Nachahmung einer Hypothese der Klassiker, zumindest den schmucken Empfindungen meiner Ersatzseele durch eine ausdrucksstarke Mathematik Form zu verleihen. Es kommt immer wieder vor, daß ich in einem bestimmten Stadium meines schriftlichen Nachdenkens nicht mehr weiß, wo das Zentrum meiner Aufmerksamkeit liegt – ob in den verstreuten Empfindungen, die ich zu beschreiben versuche wi e unbekannte Tapisserien, ob in den Worten , in die ich mich, im Wunsch, den Akt des Beschreibens zu beschreiben, verstricke, verirre und auf diese Weise andere Dinge sehe. Neben klaren und verschwommenen Gedanken-, Bild- und Wortassoziationen sage ich, was ich empfinde, wie auch was ich zu empfinden glaube, und unterscheide nicht mehr zwischen dem, was die Seele sagt und was die Bilder, die auf dem Boden blühen, auff den die Seele sie hat fallen lassen, ja, ich erkenne nicht einmal mehr, ob der Klang eines barbarischen Wortes oder der Rhythmus eines eingeschobenen Satzes mich nicht schon vom an sich unbestimmten Thema abbringt, von der schon angefahrenen Empfindung, und mich entbindet von allem Denken uns Sagen, wie jene großen Reisen, die man zur Zerstreuung unternimmt. Und all dies müßte, während des Wiedergebens hier, ein Gefühl von Nichtigkeit, Scheitern und Schmerz wachrufen und vermag mir doch nur goldene Schwingen zu verleihen. Sobald ich von Bildern spreche, entstehen – vielleicht, weil ich ein Zuviel an Bildern ablehne – neue Bilder in mir; sobald ich mich aufrichte, um zu verwerfen, was ich nicht empfinde, empfinde ich es bereits, und das Verwerfen wird zu einem mit Spitzen verzierten Gefühl. Sobald ich mich Irrwegen anheimgeben will, da der Glaube an mein Bemühen engültig geschwunden ist, lassen mich ein klassischer Begriff, ein räumliches, schmuckloses Adjektiv, plötzlich, wie im Licht eines Sonnenstrahls, klar die schläfrig geschriebene Seite vor mir erkennen, und die Buchstaben aus der Tinte meines Ferderhalters werden zu einer absurden Landkarte magischer Zeichen. Und ich lege mich beiseite wie meinen Federhalter und hülle mich ein in meinen Umhang, lehne mich zurück, allein, fern, zwischen zwei Welten, besiegt, am Ende, wie ein Schiffbrüchiger, der, märchenhafte Inseln vor Augen, untergeht inmitten eines veilchenblau vergoldeten Meeres, von dem er auf fernen Lagern wirklich träumte.“

Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernado Soares

Es fällt mir schwer etwas zu diesem Buch zu schreiben. Es ist ein Werk, dass man mit Goethe „inkommensurabel“ nennen möchte. Ich bin des Potugiesischen nicht mächtig, aber wenn die Übersetzung auch nur einen kleinen Teil des Klangs des Orginals einfangen konnte, dann muss das Orginal ein überwältigendes sprachliches Kunstwerk sein. Ein Grund, portugiesisch zu lernen.
Das Buch erzählt die fiktive Autobiographie des Hilfsbuchhalters Bernado Soares. Wer eine , von erzählte Lebensgeschichte erwartet, wird sich verwundert die Augen reiben.
Fragment Nr. 12: „Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.“
Auch wenn in diesen Sätzen mit dem Begriff „Bekenntnisse“ auf die lange Tradition der Gattung Autobiographie verwiesen wird, die von Augustinus „Confessiones“ über Rousseau bis zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und darüber hinaus reicht, hat der Leser bereits bemerkt, dass die Dinge hier anders liegen. Wieso sollte man sein Leben, oder überhaupt irgendetwas, schreiben, wenn man es im Grunde für nicht mitteilungswürdig hält. Es ist dies aber nicht die Absicht dieser Sätze auf genau diesen Umstand hinzuweisen, vielmehr hat dieser kurze Abschnitt programmatischen Charakter.
Sicher, auch diese Fragmente sind Bekenntnisse, aber solche, die nicht ein Leben mit und durch die Dichtung beschreiben (Goethe) oder einen Lebensweg christlicher Läuterung darstellen und rechtfertigen (Augustinus), sondern lediglich persönliche Zeugnisse der eigenen Existenz geben, die in ihrer hoch individuellen verdichteten Form und Widersprüchlichkeit jeden Rest von Allgemeingültigkeit verloren haben und somit anderen in der Tat nichts zu sagen haben.
Ist eine Autobiographie immer auch ein Versuch, sein Leben im Setzkasten der Zeit zu positionieren, ihm einen Sinn zu geben, die eigene Existenz zu rechtfertigen, so ist diese fiktive Autobiographie ein letztes beeindruckendes Bekenntnis der Sinnlosigkeit einer menschlichen Existenz.
Autobiographien leben eben der Wechselwirkung des Ichs mit der Welt. Hier aber ist diese Beziehung eine recht einseitige. So etwas wie äußere Handlung fehlt fast völlig. Manchmal sehen wir Soares am Fenster seines im vierten Stock gelegenen Büros in den Regen hinausschauen, ein anderes Mal streift der durch das Lissabon der kleinen Leute. Jedes äußere Ereignis, vom Regen über das Klingeln der Straßenbahn bis hin zu Soares Chef Vasquez, wird verinnerlicht, ins rein Seelische transponiert. Die Umwelt als Metapher der Seele. Entsprechend besteht das Buch aus einer Unzahl von Fragmenten. Pessoa an Cortez-Rodrigues (19.11.1914):“Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.“
Der fragmentarische Charakter des ist die einzig annehmbare Form der Darstellung in diesem Fall und sie ist ein Zeichen für die Unfähigkeit des Hilfsbuchhalters Soares sein Denken, Fühlen und Handeln, kurz sein Leben zu einem Ganzen zu formen.
Bezeichnenderweise kreisen seine Reflexionen sehr häufig um das Träumen. Nichts ist weiter von der physischen Welt entfernt wie der Traum oder die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz im Tod. Reflexion über die Träume ist eine schwierige Arbeit. Sie zwingt zu besonderen Formend es sprachlichen Ausdrucks. Die Paradoxie ist eine davon, die von Pessoa in diesem Buch oftmals bis in Unverständlichkeit getrieben wird. Vom Manieristischen über das Symbolistische bis tief hinein in das Labyrinth des Paradoxen bewegt sich die Sprache auf ihrem Versuch eine über die Grenzen zum Pathologischen hinaustreibende Reflexion des eigenen Ich sprachlich fassbar zu machen. Gerade darin liegt der außerordentliche Reiz dieses Buches, das einem die volle Aufmerksamkeit abverlangt, die man aufzubringen imstande ist. Groß ist die Versuchung, sich von den hypnotischen Relfexionen hinweg treiben zu lassen. Dann aber wird das Buch tatsächlich zu einem, das nichts mehr zu sagen hat. Über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes, das erst nach Pessoas Tod in unvollendeter Form 1935 erschien, auf Deutsch sogar erst in den 1980er Jahren, kann ich nichts sagen, aber ich bin der festen Überzeugung, das dieses Buch zu den wichtigsten Werken der Klassischen Moderne gehört.

Fragment

Roderich, König der Westgoten, betrat eine Kapelle in seiner Residenz Toledo. Dort befand sich ein Kistchen, das verschlossen bleiben sollte. Angeblich enthielt es eine Schriftrolle mit einer bedeutungsvollen Verheißung. Oft stand in diesen schweren Zeiten vor dieser schmucklosen Kiste im prächtigen Mantel der König Roderich , doch in dieser Nacht konnte er seiner Neugier nicht mehr länger standhalten. Mit starker Hand brach er das Siegel, entnahm das Pergament und las: „Dein Reich wird untergehen, deine Familie in alle Welt zerstreut, dein Gold geraubt, deine Kirche geschändet.“
Ruhig ging er in dieser Nacht zu Bett, gelassen ritt er am nächsten Morgen in die Schlacht. Er focht mutig und fiel.
Roderich war der letzte König der Westgoten.

Almost Famous – Tiny Dancer (Elton John)

Es gibt gute Lieder. Es gibt gute Filme. Für sich alleine schon Kunstwerke, die nahezu perfekt scheinen. In seltenen Fällen kann durch die scheinbar beiläufige Symbiose aus Musik und Bildern ein eigenes, kleines Kunstwerk in 2:30 entstehen.

1973. San Diego. William ist 15 als seine Schwester auszieht, weil ihre Mutter sie in den Wahnsinn treibt. Als Vermächtnis hinterlässt sie ihm ihre Plattensammlung. Von da an ist er infiziert. Er beginnt die Musik zu lieben und versucht seiner Liebe in Form von Plattenkritiken Ausdruck und Gehör zu verschaffen. Durch einige glückliche Umstände findet er sich schon bald im Tourbus der aufstrebenden Band „Stillwater“ wieder, um für das Rolling-Stone-Magazine einen Tourneebericht zu schreiben.

Schmoov – While you wait

Manch einer würde diese Art von Musik „Fahrstuhlmusik“ nennen. Wenn ich einen Aufzug finden sollte, in diese Platte läuft, dann müsste mich der Sicherheitsdienst am Abend mit Gewalt aus dem Lift zerren. Keine schwermütig melancholischen Klangteppiche wabern auf einen zu, sondern eine gefällige Verbindung aus Funk und House. Keine experimentellen Sound wird man hören, sondern gut auf einander abgestimmte Melodien, dezente Soundeffekte und einen stets präsenten funkigen Bass. Doch der Funk bestimmt die Platte nicht. Manchmal scheint die Musik in einen gezuckerten Bossa Nova abzudriften, wie in „Aqua Marina“, bis ein klares Saxophon dem Jazz zu seinem Recht verhilft. „The girl from Ipanema“ bleibt allein am Strand. Eher eine Homage an Stan Getz also als an Rio de Janeiro.
Dass mindestens einer der drei Engländer früher mal in einer Funkband gespielt hat, ist dennoch deutlich zu hören, wenn auch der Jazz in der zweiten Häfte der Platte mehr Raum einnimmt.
Ohne je aufdringlich zu wirken, schiebt sich diese Musik zwischen uns und die Welt. Wie eine Scheibe bunten Glases, die das ewig graue Licht wie den immergrauen Lärm um dich herum filtert und nur das durchlässt, was du nicht bestimmen kannst aber dennoch willst. Die Welt um dich herum wird sicher nicht bunter durch diese Musik, aber der graue Dreck des Tags eben auch nicht grauer.
Vielleicht wirst du die Augen zumachen wollen, wenn du am Bahnhof stehst, auf den verspäteten Zug (kam je einer pünktlich?) wartend diese Platte hörst. Vielleicht möchtest du dich auf der Musik hinwegträumen, an schönere Orte als diesen Bahnhof, zu netteren Menschen als diesen grauen griesgrämigen Passanten. Tu das nicht! Schau dir die Umgebung an. Leg die Musik über den Lärm des Bahnsteigs und mach die Wartenden zu Sklaven deiner Musik. Schau, wie sie sich gegen Rhythmus und Melodie wehren… Nichts harmoniert mit der Musik in deinem Ohr. Alles außerhalb dieser Harmonie wird lächerlich, schließlich irrelevant. Du trittst einen Schritt zurück von der Welt und erkennst, dass Darinsein kein erstrebenswertes Ziel mehr sein kann. Dein bunter Regenmantel macht dich immun gegen das bleierne Grau um dich herum.
Das Warten auf irgendwas oder irgendwen wäre mir viele Male leichter gefallen, wenn ich dabei diese Platte hätte hören können.

Helmut Koopmann – Goethe und Frau von Stein

Natürlich nicht das erste Buch über Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein. Wer schreibt schon das erste Buch über Goethe? Koopmann geht in diesem schlanken Buch (279 S.) im Detail Goethes Liebesbeziehung zu Charlotte von Stein nach. Von der ersten Begegnung bis 1775 bis zu Charlottes Tod 1827 reicht die Darstellung. Natürlich konzentriert sich Koopmann auf die Jahre, in denen diese Beziehung am intensivsten war. Die Jahre nach Goethes Rückkehr aus Italien werden gerafft, die Folgezeit von eisiger Abkühlung bis zu erneuter Annäherung im Alter unter dem Zeichen einer „Seelenfreundschaft“ unwesentlich weniger ausführlich dargestellt.
Jede Darstellung der Beziehung von Goethe und Charlotte von Stein leidet unter der Tatsache, dass lediglich Goethes Briefe erhalten sind. Charlotte von Stein ließ sich nach dem Abbruch der Beziehung ihre Briefe zurückgeben. Sie hat alle verbrannt. So bleibt man allein auf Goethes Briefe angewiesen. Über 1700 schriftliche Mitteilungen, Briefe und Zettel hat Goethe Charlotte im Laufe der Jahre zukommen lassen. Diesem Problem muss sich auch diese Studie stellen. Eine wirklich glaubwürdige Darstellung kann so meiner Meinung nach nicht gelingen. Reaktionen, Gefühle, ja Charlottes ganze Sichtweise auf diese Beziehung muss man aus Andeutungen in Goethes Briefen erschließen.
Um dem Briefwechsel der beiden und damit der gesamten Studie mehr Profil zu verleihen, wirft Koopmann im zweiten Kapitel einen Blick auf Goethes Briefwechsel mit Auguste Gräfin zu Stollberg, den er überzeugend als zeittypische Seelenoffenbarung im Zeichen von Empfindsamkeit und Werther-Nachfolge charakterisiert. Dadurch gewinnt der Briefwechsel mit Charlotte von Stein ungeheuer an Glaubwürdigkeit. Dass der Briefwechsel monologischer Art ist, verwundert angesichts der fehlenden Briefe von Charlotte keineswegs. allerdings läuft man Gefahr, auch die Beziehung von Goethe zu Charlotte als monologisch anzusehen. Sicher war der um sieben Jahre jüngere die treibendene Kraft, aber er wird mit Sicherheit im Laufe der Zeit auf ähnliche Gefühle, wenn auch sicherlich etwas zurückhaltender, bei Charlotte gestoßen sein.
Koopmann verfolgt präzise diese für Goethe wie für die Literatur besondere Beziehung. Bis zum Bruch bei Goethe Rückkehr aus Italien 1788 widmet der Autor jedem Jahr ein eigenes Kapitel. Mit feinem Gespür verzeichnet er Momente tiefster Zuneigung und Phasen der Abkühlung und Distanz. Einen etwas angestrengten und daher wenig überzeugenden Eindruck bekommt der aufmerksame Leser, wenn er feststellt, dass in beinahe jedem Kapitel bis zur Abreise Goethes nach Italien jeweils von Höhepunkten, von Goethe selbst nicht übertroffenen, immer neuen Gipfeln des sprachlichen Ausdrucks die Rede ist. Doch davon sollte man sich nicht anhalten lassen, dieser Studie zu folgen, die anhand reichlicher Auszüge aus Goethes Briefen, Werken und anderen Quellen den Verlauf der Beziehung eindrücklich nachvollzieht.
Elf Jahre sollte Goethes Beziehung zu der sieben Jahre älteren, verheirateten Hofdame dauern. Das gesamte erste Weimarer Jahrzehnt von Goethes Ankunft 1775 bis zu seiner Flucht nach Italien am 3. September 1786. Elf Jahre, in denen sich Goethe von dem jungen, ungestümen Stürmer und Dränger, der zusammen mit dem Herzog und ein paar anderen jungen Männern den Hof von Weimar zum großen Verdruss der alteingesessenen Gesellschaft mächtig durcheinanderwirbelte zu einem Mann, der der Gesellschaft und den Amtsgeschäften überdrüssig war und seinen einzigen Ausweg in der Flucht sah, entwickelte.
Der Frage, die natürlich am meisten interessiert, ob denn da mehr war als aus heutiger Sicht harmlose Zärtlichkeiten, weicht Koopmann nicht aus, allerdings bekommt man von ihm kein klares „Ja“ zu hören. Er ist sich sicher, dass die beiden sich an den unzähligen Abenden, an denen sie allein miteinander waren, mehr getan haben als nur Konversation zu betreiben. Und in der Tat legen manche Briefe das auch nahe.
Immerhin muss Koopmann vor der Frage kapitulieren, was es denn nun gewesen sei, das Goethe so lange an Charlotte fasziniert hat. Zwar kann er die dunklen Augen nennen, von denen Goethe oft sprach, und von deren Schönheit die wenigen Stiche, die von Charlotter erhalten sind, nur ein sehr blasses Abbild geben, aber das scheint ihm etwas wenig zu sein. Einen anderen, tieferen Grund für Goethes Liebe findet er nicht. Gott sei dank, denn was wäre die Liebe, wenn ein emeritierter Literaturprofessor sie erklären könnte?
Man wird Goethes Werke aus dieser Zeit nach der Lektüre diese Buchs etwas genauer lesen, denn die Liebe zu Charlotte findet auf vielen direkten und indirekten Wegen Eingang in das Werk des Dichters. Denn genau darin liegt die Bedeutung dieser Liebe für uns. Dass sie uns Einblick gewährt in die bisweilen verschlungenen Pfade, auf denen das Leben in die Dichtung hinüberreicht.

Sick of it all – Scratch the surface

Hatte ich doch letztens glatt den Namen dieser Band vergessen. Es ist kein neues Album, sondern kam bereits 1994 heraus. Dennoch passt es sehr gut in die heutige Zeit. Obwohl Musik Gott sei dank nicht in irgendeine Zeit passen muss. Hauptsache sie ist gut. Und dieses Album passt deshalb so gut, weil es so unpassend ist. Die Musik ist alles anderen als massenkompatibel und soll es auch gar nicht sein. Guter alter Hardcore ist zu Hören: schnell, hart und kompromisslos. Äger, Hass und ein gute Portion Trotz sind in jedem Lied zu spüren. Man muss schreien, wenn man gehört werden will. Gerade heute. Die Tracks Nummer 6 und 7 (Step down und Maladjusted) bilden das Zentrum dieses Albums. In „Step down“ kommt die wütende Kritik an der alle Unterschiede einebnenden Konsumgesellschaft am deutlichsten zum Ausdruck. Dieser Song zeigt eine Gegenwelt, in der die Oberflächlichtkeiten und ritualisierten Verhaltensweisen der modernen Konsumgesellschaft nichts zählen. Nicht die Fassade ist das Wesentliche, sondern die Substanz.
Hinter den alle Individualität nivellierenden Verhaltensweisen. das zeigt der 7. Song, zu denen der Mensch gezwungen zu sein glaubt, ist erkennbar, was nicht in die Hochglanzbroschüre einer scheinbar fröhlichen Konsumgesellschaft passt: Schmerz und Leid.
Tief steckt der Frust über die alle Unterschiede zwischen den Menschen einebnende Konsumgesellschaft. Der Bürger wird reduziert auf seine Funktion als Konsument. Mit dieser Entwicklung parallel läuft ein Prozess, der den Bürger an Konformität gewöhnt und ihn auf dem Umweg über die Verlockungen der schönen Konsumwelt einer letztlich politischen Unmündigkeit entgegenführt.
Kant zufolge sollte sich der Mensch aus „seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ erheben. Dieses Album warnt uns davor, den entgegengesetzten Weg einzuschlagen, zurück in die weichen Kissen einer Unmündigkeit, die es letztlich erlauben würde, politische Mitsprache, Menschenrechte und Demokratie abzuschaffen.

Poesie + X

Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zeigt sich in seiner Halbjahresbilanz zufrieden was die wirtschaftliche Entwicklung des deutschen Buchmarktes betrifft. 9,3 Milliarden Euro wurden auf dem deutschen Buchmarkt 2006 umgesetzt, etwas mehr als ein Prozent Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr. Das dritte Jahre in Folge konnte die Branche „ein leichtes Plus“ erwirtschaften. Na dann, herzlichen Glückwunsch.
Von diesem Aufwärtstrend profitieren die kleineren Buchhandlungen am wenigsten, der Vertrieb via Internet kann am meisten zulegen. Aber das ist ein anderen Thema.
Wenn mehr Bücher gekauft werden, darf man wohl auch annehmen, dass mehr gelesen wird als früher. Das ist doch eigentlich erfreulich.
Allerdings sollte man nicht vergessen, dass auch der Verkauf von Hörbüchern zu der positiven Entwicklung auf dem deutschen Buchmarkt beigetragen hat. Dieser Begriff „Hörbuch“ kommt mir paradox vor. Wenn ich mir ein sogenanntes Hörbuch anhöre, was tue ich dann? Höre ich das Buch, wie ich es lese? Kann ich ein Hörspiel lesen, wie ich es anhöre? Beides kann nicht gelingen (man sollte ein Hörbuch vielleicht eher „Lesbuch“ nennen).
Ein Hörbuch hat mit dem Lesen nicht mehr zu tun als eine Literaturverfilmung mit dem zugrundeliegenden Stück oder Roman. Nennen wir deshalb einen solchen Film Sehbuch? Hörbuch und Film haben mit einem Buch fast nichts gemein. Beide kürzen, schmücken aus mit den jeweiligen Mitteln, die dem Medium zu Gebote stehen. Das Hörbuch in die Nähe eines Buches zu rücken ist nur auf den ersten Blick gerechtfertigt. Im besten Fall hört man denselben Text, wie er auch im Buch abgedruckt ist. Das war’s aber auch schon. Hörbuch wie Literaturverfimung haben, so angenehm oder so gut gemacht sie auch sein mögen, einen großen Mangel.
Dieser Mangel besteht darin, dass die Phantasie des Hörbuch-Lesers (??) oder Lesbuch-Hörers (??) nicht nur gelenkt, das ist ja legitim, sondern geradezu blockiert wird. Der Aufwand ein solches Produkt zu konsumieren ist daher viel geringer, als es das Lesen ist. Man kann ein Hörbuch schlicht und einfach schneller hören, als man die Vorlage lesen könnte. Unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten ist ein Hörbuch als wesentlich attraktiver, weil es 1. billiger herzustellen ist und 2. eine potentiel höhere Nachfrage generiert wird. Das Hörbuch degeneriert Literatur vollends zu einem Produkt, das hauptsächlich zur Befriedigung niederer Instinkte dient, oder zur Abwehr gegen Langweile eingesetzt werden kann. Allerdings ist das lediglich das Endstadium eines Prozesses, der so alt wie der kommerzialisierte Vertrieb von Büchern selbst ist.
Was dem Lesen heutzutage fast gänzlich verloren zu gehen droht, ist die Fähigkeit Literatur als Kunst zu begreifen. Das hat wohl zwei Gründe. Zum einen lässt die Massenware Buch ästhethische Aspekte zugunsten des einfachen Konsums unter den Tisch fallen, zum anderen sind leider viele Leser gar nicht mehr in der Lage, den künsterlischen Wert von Literatur zu erkennen, wenn er nicht im Klappentext angegesprochen wird. Oder sie versuchen diesen Wert anhand von Bestsellerlisten zu ermitteln.
Was hier mit Phantasie bezeichnet worden ist, ist im Grunde ein Komplex zusammengesetzt aus vielen, zum Teil sehr unterschiedlichen Emotionen und Kompetenzen, die den Menschen zu dem zurückführen, was Literatur in seiner ursprünglichen Form einmal gewesen sein mag: Erfahrung des Göttlichen. Aus einem Drang zur begrifflichen Bestimmung der feindlichen Umwelt heraus geboren, ist Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Speziellen etwas von Anfang am Göttlichen Ausgerichtetes. Der frühe Mensch konnte, und der heutige kann diese ebenso, sich in der Kunst über die Natur erheben und sich so einer irgendwie gearteten göttlichen Kraft verwandt oder gar, im Akt künsterlischen Schaffens gleichgestellt fühlen. In diesem Spannungsfeld bildet sich das Vermögen Kunst nicht nur zu schaffen, sondern auch zu erfahren und zu genießen. Und genau diese Fähigkeit zum ästhethischen Genuß geht leider vielen Lesern heute ab, woraus Schiller in einem Brief an Goethe eine interessante Forderung ableitete:

„So viel ist auch mir bei meinen wenigen Erfahrungen klar geworden, daß man den Leuten, im ganzen genommen, durch die Poesie nicht wohl, hingegen recht übel machen kann […]. Man muß sie inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und in Erstaunen setzen. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder als Gespenst muß die Poesie ihnen gegenüberstehen.“ (17.8.1797)

Julian Barnes: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln

Barnes versteht sein Handwerk und serviert mit seiner kleinen, amüsanten Weltgeschichte einen saftigen Leckerbissen, den ich Dir, Lynkeus heute Abend als ein verspätetes Geburtstagsgeschenk zukommen lassen werde.
Mit seinem Roman „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ ist dem englischen Schriftsteller Julian Barnes 1989 zweifelsohne ein großer Wurf gelungen. Mit Fug und Recht darf man das Werk als modernen Klassiker bezeichnen; Mit Recht befindet es sich auch auf den „Have-to-read“-Listen der literaturwissenschaftlichen Seminare, die sich mit moderner englischer Literatur beschäftigen (Dieser Umstand hat zwar keine große Bedeutung, nur fallen mir solche Sachen natürlich erst nach Beendigung meines universitären Studiums auf!).
Nein, das Buch ist kein entspannender Lesegenuss! Es treibt dem Leser derweilen ganz ordentlich Schweißperlen in die Stirn. Das kleine Gehirnjogging, das Barnes dem Leser hier zumutet, fordert unsere Kondition und Konzentration durch den experimentellen Charakter, den er diesem Werk zugrunde legt. Das Schweißtreibende und zugleich das Faszinierende an dem Werk sind seine formalen Aspekte. Der Text in seiner Gesamtheit entzieht sich einer klaren gattungstypologischen Charakterisierung. Es ist kein herkömmlicher Roman aus einem Guss, sondern am ehesten vielleicht ein „Portfolio“, eine Zusammenstellung von unterschiedlichen Textsorten, Genres und Erzählperspektiven. Angefangen bei dem Bibelkommentar des ersten Kapitels aus der Perspektive eines blinden Passagiers, über den rasanten psychologischen Thriller des zweiten Kapitels, den Orginaldokumenten eines tierischen Schauprozesses mit den Elementen der Tierfabel bis hin zu Reise- und Katastrophenberichten und einer Bildbeschreibung ist an Textgattungen eine große Bandbreite ausgeschöpft. Verbunden sind diese Texte durch eine zentrale Metapher für das menschliche Dasein bzw. das Dasein der Schöpfung, die in unterschiedlicher Gestalt und Variation in den Texten immer wieder auftaucht: Die Gefährdung der Schöpfung durch die Sintflut und die Errettung durch Noah und seine Arche. Auch wenn die einzelnen Texte in die unterschiedlichsten Richtungen streben und oft gar nichts miteinander zu tun haben, sind sie durch die gemeinsame grundlegende Metapher miteinander verbunden. Sie schwebt quasi über allen Texten und bildet eine Synthese, die es dem Werk dann doch noch erlaubt als Roman bezeichnet zu werden.
Wie der Titel bereits bereitwillig Auskunft gibt, erwartet den Leser eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln. 413 Seiten hat sich der Autor dafür Platz genommen. Eine Hybris sondergleichen, denkt sich jeder Leser bei der ersten Begegnung. In dieser anmaßenden Verkürzung liegt aber gerade die verführerische Kraft: Sofort beginnt man zu überlegen, welche Ereignisse der Weltgeschichte von derartig herausragender Bedeutung sein könnten, dass sie in einer Dokumentation der Weltgeschichte Eingang finden könnten. Die Auswahl, die wir vorfinden, ist natürlich stark idiosynkratisch. Mal sind die Texte fiktiv, mal historisch belegt. Die Abfolge der Kapitel ist weder chronologisch geordnet noch kausallogisch miteinander verknüpft. Der Eindruck der Beliebigkeit drängt sich dem Leser auf. Die Romanüberschrift, die an Sir Walther Raleigh´s „The History of the World” (1614) angelehnt ist, variiert diese, indem sie den bestimmten Artikel durch den unbestimmten ersetzt. War Raleighs monumentales Werk noch durch das ehrgeizige Ansinnen geprägt, die Geschichte der Welt seit ihrer Schöpfung als eine lineare Entwicklung wiederzugeben, so stellt sich Barnes Weltgeschichte dem Publikum als eine unter vielen vor. Der Gültigkeitsanspruch ist dem Autor in dieser Zeit verloren gegangen. Durch die zahlreichen heterogenen Kapitel, die wie ein Strauss von Feld- und Wiesenblumen in einer Vase auf dem Tisch stehen, zusammengehalten durch eine zentrale Metapher, zeugen von einer zyklischen Geschichtsauffassung. Die Wahrnehmung der Geschichte ist hier geprägt durch die Fragmentierung und Diskontinuität moderner Wirklichkeitserfahrung. Eine lineare Geschichtsschreibung wie bei Sir Raleigh, das große historische Erzählen ist nicht mehr möglich. Im Vordergrund steht die Erkenntnis, dass jeglicher historischer Zusammenhang arbiträr ist und nur von einer interpretierenden Geschichtsschreibung zusammengehalten wird. Chronologie, Kausalität und Fortschritt werden in dem Roman angezweifelt. In der Geschichte wiederholen sich lediglich immer wieder dieselben Phänomene. Der gesamte Komplex der Sintflut und der Arche, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wird, hat auch in heutiger Zeit ihre Gültigkeit und wird im Roman zur zentralen Metapher für die menschliche Existenz.
Alles in allem hat der Autor etwas Ähnlichkeit mit einem mittelalterlichen Bibelkommentator. Er kommentiert und interpretiert im ersten Kapitel den Bibeltext und wendet ihn in den folgenden Kapiteln auf Situationen in der neueren Geschichte an. Er argumentiert überzeugend, dass das in der Bibel enthaltene Grundprinzip, sei es hier noch so bitterböse und zynisch interpretiert, Gültigkeit für das Leben des Menschen im Allgemeinen wie durch die Geschichte hindurch besitzt.

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