Herrmann Kurzke: Georg Büchner. Geschichte eines Genies

Ich habe schon die Thomas Mann Biographie von K. gelesen. Im Vergleich zum vorliegenden Buch scheint mir jene viel sachlicher, wissenschaftlicher zu sein als dieses. Aber die Voraussetzungen sind auch völlig unterschiedlich. Bei Mann ein großes Werk, tausende Seiten Briefe und Tagebücher, unzählige weitere Quellen. Bei Büchner liegen die Dinge ganz anders. Ein ebenso beeindruckendes aber arg schmales Werk, dazu kaum Briefe oder sonstige Selbstzeugnisse. So ist es natürlich sehr schwer, ein Leben zu erzählen, das darin entstandene Werk zu verankern, beides in Zusammenhang zu bringt, Motivationen, Anregungen, Absichten deutlich zu machen. Kurzke schafft das bis zu einem gewissen Grad trotzdem. Am besten noch im Kapitel zum Hessischen Landboten, vielleicht weil sich da das Leben des Autors am meisten mit dem „Werk“ schneidet. Wo die Belege ausgehen, wird Kurzke kreativ. Er nennt es „typologisches Verfahren“ (298). Kurzke setzt Büchner mit den Figuren seiner Werke gleich, lässt ihn ihre Worte sagen. Dieses Verfahren wird vor allem beim Danton häufig verwendet. Mit einer sachlichen Biographie hat das wenig zu tun. Manchmal schreibt K. innere Monologe Büchners (z. B. das Anatomie-Kapitel 346ff), gelegentlich kleine Fantasien (großartig die zu Beginn des Leonce und Lena-Kapitels „im Elysium“ (367). Mich hat das an Golo Manns Wallenstein-Biographie erinnert, in der es ein Kapitel gibt, in dem Mann Wallenstein träumen lässt, ein eher kreativer Ansatz als ein streng wissenschaftlicher: Bei Mann fällt das Kapitel aus dem ansonsten eher streng wissenschaftlichen Rahmen, bei Kurzke ist dieses Verfahren permanent eingesetzt. Immerhin kennzeichnet er entsprechende Passagen optisch im Druckbild und sprachlich im Konjunktiv. Mir persönlich ist dieses Verfahren zu impressionistisch, zu suggestiv. Ehrlich gesagt stört es mich ein wenig. Seine literarhistorische Einordnung Büchners dagegen erscheint mir vernünftig, frei von ideologischen Etiketten vergangener Jahrzehnte. Ich habe Kurzkes Mann Biographie gerade nicht vorliegen, aber sprachlich erscheint mir das Büchnerbuch frischer, moderner als die Mann-Biographie. Vielleicht richtet sich die Büchner-Biographie auch eher an ein interessiertes Laienpublikum und die Mann-Biographie eher an ein Fachpublikum.
Kurzke bezeichnet Büchner als Genie, wie ja auch der Titel bereits verrät. Er versucht im Laufe des Buche bestimmte Aspekte eines Genies zu verfolgen. Am deutlichsten ist hier der Aspekt des Traumas als Triebfeder eines Genies, das er bei Büchner am Ende überall findet. Da aber aus den spärlichen Informationen meist keine traumatischen Erlebnisse unmittelbar ableitbar sind, hilft Kurzke auch hier wieder die „typologische Methode“, deren Erkenntniswert am Ende zweifelhaft, deren Unterhaltungswert aber sicherlich hoch ist.
Was Kurzke über Büchners philosophische Manuskripte sagt, gilt im Grunde für seinen Umgang mit dem wenigen Material, das er für seine Biographie benutzen konnte: „Man muss sie geradezu quetschen, um hie und da eine These ans Licht zubefördern.“ (362)
Eine lohnende Lektüre ist das Buch aber auf jeden Fall, um sich Büchner zu nähern. Lohnend vor allem auch wegen des kurzen Kapitels zur Wirkungsgeschichte Büchners und des Schlussworts, indem Kurzke eingesteht, das Genie Büchners letztlich nicht erklären zu können.

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