Jimmy White – Behind the white ball

Eigentlich bin ich ja kein Freund von Sportlerbiographien. Wen interessiert ihre Herkunft, außer dass sie dem Sportler vielleicht in jungen Jahren die Möglichkeit bot, seinen Sport zu entdecken oder ihn stundenlang auszuüben. Außerdem gehören sie zu den schnell gemachten und flüchtigen Produkten eines nur auf die Befriedigung des aktuellen Tagesbedarfs an Sensation und Unterhaltung ausgerichteten Buchmarkts, produziert für eine gleichgeschaltete Konsumgesellschaft, die man nur über Werbung und Marketing je neu auf ein zu konsumierendes Produkt einstellen muss wie einen süchtigen Patienten auf seine Medizin. Schlimmer noch als diese Sportlerbiographien sind die der gemachten Stars und Sternchen, wovon ich aber jetzt schweige.

Beiden ist gemeinsam, dass sie nie vom Sportler oder Star selbst geschrieben wurden, sondern immer in Zusammenarbeit mit einem Journalisten enstehen. Sicherlich sollte man auch gar nicht erwarten, ein Profisportler könnte so etwas auf einen hinreichenden Niveau erreichen. Bei manchem Sportler wäre man vielleicht dennoch überrascht.

Kreutzer kommt – Stromberg folgt

Habe mit halbem Auge die Vorschau gesehen und mich gefreut. Eine neue Staffel Stromberg? Leider nein. Was ganz Neues? Mal sehen. Zugegeben, ich bin kein besonderer Fan von Krimiserien im TV, schon gar nicht von deutschen Eigenproduktionen (obwohl, demnächst startet „Lasko – die Faust Gottes“ auf RTL, das wird bestimmt ein ganz großer Quatsch, da sollte man mal reinschauen…). Aber, wenn der Herbst mitspielt, dann riskier‘ ich mal einen Blick, dachte ich mir, vielleicht wird’s ja lustig. Der Sender hat nicht wirklich viel dazu getan, um dieses Vorverständnis abzubauen. Stattdessen ließ die Vorschau den Zuschauer offenbar bewusst im Unklaren darüber, was denn nun auf einen zukommt: Comedy oder ernster Krimi? Oder eine Mischung aus beidem?

1.10.2010 – Leonard Cohen in Stuttgart

Der Kontrast hätte kaum größer sein können. Neben der Schleyerhalle steppte der Bär auf dem Wasen in der Halle gab sich Leonard Cohen die Ehre. Dort Lärm, blinkende Lichter und ausgelassene Stimmung, hier ruhige Musik, gedämpftes Licht und wohlig melancholische Stimmung. Dort jugendliche Unordnung, hier die Eltern- oder gar Großelterngeneration sauber geordnet auf unzähligen Stuhlreihen. Dort Schüler hier ihre Lehrer. Wie auf einem Schulausflug, wenn das Hauptprogramm rum ist und jeder die letzten 2  Stunden des Ausflugs nach eigenen Vorstellungen gestalten darf. So hatte gestern wohl jeder seinen Spaß in Stuttgart.

Michel de Montaigne – Essais, oder Bloggen im 16. Jahrhundert

Ich erspare mir Hinweise auf Größe und Bedeutung des Autors. Ja, es wird ihm die „Erfindung“ der Textsorte Essay zugeschrieben und ja, er ist einer der großen Moralisten, ein Meister seiner Sprache und ein Mann von außerordentlicher Bildung und Belesenheit gewesen. In zumeist kurzen Texten, schreibt er über alles, was ihm in den Sinn kommt. Seine Texte sind von bleibendem Wert, aber das sind viele, wenn auch leider nicht allzu viele.
Was beim ihm in der Urform vorliegt, das Essay, wurde von zahlreichen Schriftstellern erweitert und vervollkommnet. Man denke an Thomas Manns „Versuch über Schiller“ oder Kants „Vom ewigen Frieden“. Im Vergleich zu diesen und anderen Essays wirken diejenigen Montaignes oft einfach, ja karg, was aber kein Mangel sein muss. 400 Jahre kreative Aneignung und Ausgestaltung haben das Gesicht der Gattung verändert, und doch konnte sie ihr Wesen immer bewahren.
Gerade in unseren Tagen aber wird die ursprungliche Form Montaignes wieder modern. Hätte Montaigne Internet gehabt, er wäre Blogger geworden.
Von seinem Turm aus übersah er die Welt und vor allem sich selbst. Seine Texte zeigen eine unglaubliche thematische Vielfalt: „Über die Trunkenheit“, „Über die Daumen“, „Wider die Nichtstuerei“ oder „Alles zu seiner Zeit“, „Über das Stafettenreiten“, „Über ein mißgebildetes Kind“.
Sein Hauptthema aber heißt „Montaigne“. Oft entspringen aus der Selbstreflexion die Themen und genauso häufig münden spontane Gedanken über ein scheinbar beiläufiges Thema in der Reflexion des eigenen Wesens. Montaigne verfügt über alle Merkmale, die einen guten Blogger auszeichnen sollten.
Er ist spontan und stets subjektiv, neigt zum Skeptizismus und zeigt Humor. Ist in der Lage, jedes Thema anzugehen und kreist doch letztlich immer nur um ein einziges, die Beobachtung der eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten.
Er ist für seine Zeit brandaktuell und traut sich, zu werten. Montaigne erwähnt Unmenschlichkeiten und Gräuel der Kolonialmächte im kürzlich entdeckten Amerika, übt Kritik an Kopernikus Theorie, die in seiner Zeit beginnt, ihre mächtige Wirkung zu entfalten. Alles ist bei ihm immer rückgebunden an die Weisheit des Altertums, wie auch jeder moderne Blogger, auch wenn er anderes meint, in einer langen Traditionslinie steht. Montaigne war diese bewußt, er kannte seine Tradition und verfügte aktiv über deren literarischen und kulturellen Hinterlassenschaften.
Montaignes Verdienst um die Entwicklung der Textsorte „Essay“ sind unbestreitbar.
Die Vorwegnahme und die geistige Vaterschaft der neben Email und Sms mächtigsten publizistischen Form der post-Postmoderne, des Blogs, ist seiner Ruhmestafel hinzuzufügen.

Thomas Gifford – Assassini

Um es kurz zu machen, ein schlechtes Buch. Bis zur Unerträglichkeit klischeehaft, angefangen von den Beschreibungen der Szene über die Charakterisierungen der Figuren, die ständig mit verschiedenen Schauspielern verglichen werden bis hin zur Darstellung der Details. Hier wird sogar die Marke des Whiskeys, der Uhr, des Autos nicht verschwiegen. Das erinnert an Product placment im Film. Das Buch erinnert mehr an einen Roman nach einem Film als ein originäres Machwerk. Überhaupt erinnert es sehr an einen Fernsehlilm.
Gifford arbeitet mit den Mitteln des Films, um seine haarsträubende Story von einer wiederbelebten Killertruppe des Vatikans erzählen. Der Protagonist ist so amerikanisch, dass das Buch nicht enden kann, bevor er nicht den Mörder seiner Schwester erschossen hat, alle Schuldigen gerichtet sind und die männliche und weibliche Hauptfigur (eine Nonne) zusammenfinden. Der einfache Amerikaner, weltanschaulich ausgerichtet an Kapitalismus und Altem Testament, besiegt eine verdorbene, intrigante, undurchschaubare Institution und stellt im profanisierten Armageddon des Showdowns Recht und Gerechtigkeit wieder her. Die Pax americana im Fernsehfilmformat.
Am Ende habe ich auf den Abspann gewartet und mich auf die Werbung gefreut, aber die kam nicht.
Wer dieses Buch liest, muss Zeit haben. Soviel Zeit wie unter einem Sonnenschirm am Strand eines All-inclusive Hotels. Oder sich ablenken wollen. Wovon auch immer. Und zu diesem Zwecke ist es allerdings mehr als geeignet. Obwohl die Geschichte an sich dem erfahrenen Leser kaum Spannung bietet, kommt diese doch immer wieder auf, wenn sie die Situation mal wieder zuspitzt und es um Leben und Tod geht. Damit man die Lust nicht verliert, ist das auch alle 150 Seiten spätenstens der Fall.
Wie gesagt, ein schlechtes Buch. Aber zum Zwecke der Ablenkung ideal.
In diesem Sinne: Pax vobiscum.

Carlos Ruiz Zafón – Der Schatten den Windes – Anmerkungen

Homberle hat ja bereits einen schönen Artikel zu diesem Buch geschrieben, dem ich mich in weiten Teilen auch anschließe. Immerhin kann ich mich aus diesem Grund auf ein paar Dinge beschränken, die mir während der Lektüre aufgefallen sind.
Interessant ist auf alle Fälle die Story. Drei Ebenen sind auszumachen. Die Handlung um den jungen Daniel Sempere, die Lebensgeschichte von Julian Carax, der Inhalt von Carax Roman „Der Schatten des Windes“ sowie die Geschichte des Buches, das man Händen hält und das eigentlich „die Nebelburg“ heißen müsste. Diese Ebenen sind, wie von Homberle angedeutet, mit einander und ineinander verschlungen. So entstehen Analogien aber auch Irrwege, was den Roman zu einer sehr anregenden Sache macht. Im Grunde ist dieses Buch auf der ersten Ebene eine Art Adoleszenzroman: Daniels Entwicklung vom Kind zum Mann, er erlebt alle wichtigen Stationen des Erwachsenwerdens, freilich in etwas extremerer Form als andere und findet, leider etwas zu einfach, am Ende seinen Platz im Kreise seiner kleinen Familie. Auf der zweiten Ebene ist das Buch ein Bildungsroman, indem Zafòn der Geschichte Daniels diejenige von Julian Carax unterlegt. Leider, möchte man sagen, findet auch Carax zu seinem inneren Frieden am Ende eines wechselhaften Schicksals, das von Liebe und Hass geprägt ist, ja er findet sogar seine Sprache wieder, schreibt schließlich den Roman, den der Leser in Händen hält. Nicht die Vermischung der Ebenen, die die Ebene des Inhalts am Ende sogar überspringen kann, sondern gerade das mehr als schale Ende, das nur Freunde von massentauglichen Hollywoodfilmen schön finden werden, zerstört viel dem eigentlichen Reiz des Romans und wirft überdies noch ein moralisches Problem auf.
Carax tötet in einem sehr lange hinausgezögerten Showdown Fumero, was keine große Überrraschung ist und aus Sicht des Lesers auch in Ordnung geht, ist Fumero doch ein widerlicher Sadist und Verbrecher. Außerdem aber bringt Carax den Chef seiner „zweiten“ Frau Nurieta Monfort um, der sicherlich kein netter Kerl ist, hat er doch die junge Frau mehr als belästigt. Dieser Mord wird nicht gerechtfertigt und um Carax‘ Hass darzustellen ist dieses inhaltliche Detail viel zu stark und verlangt, wenn schon nicht eine Rechtfertigung so doch zumindest Sühne. Aber auch diese fehlt, ja im Grunde wird diese Untat damit gutgeheißen, dass es Carax am Ende doch gelingt seinen Frieden zu finden und zur Schriftstellerei zurückzukehren. So bleibt dieser Mord als moralisches Problem bestehen, das man höchstens damit erklären kann, dass vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges ohnehin die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Jeder ist verdächtig, jeder hat Geheimnisse, die besser ungesagt bleiben. Einzig Fumero ist in dieser Hinsicht deutlich gezeichnet.
Die Zeit des spanischen Bürgerkriegs sollte den historischen Rahmen des Romans abgeben, aber Zafòn lässt der Beschreibung dieser Umstände zu viel Raum. Sie drängt sich zwischenzeitlich zu sehr in den Vordergrund, um noch als Nebenhandlung oder historisches Kolorit gelten zu können und rüttelt auf diese Weise sehr an der dramaturgischen Integrität des ganzen Romans.
Vielleicht noch ein Wort zu den Personen. Nicht immer gelingt es Zafón seine Figuren plausibel handeln zu lassen. Der zehnjährige Daniel des Beginns spricht nicht wie ein Kind, sondern wie ein vom Leben gezeichneter Held eines amerikanischen Films. Leider zieht sich dieses Problem durch das ganze Buch. Als Beispiel sei nur das erste Gespräch zwischen Fumero und Daniel erwähnt. Obwohl Zafón seinen Protagonisten seine Angst eingestehen lässt, spricht Daniel cool und mit kaum versteckten Zynismus zu Fumero, der wirklich ein abgebrühtes Arschloch ist.
Die Frauenfiguren lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Alle Frauen, zu denen sich Daniel oder Carax hingezogen fühlen, sind engelgleiche Gestalten, irgendwo zwischen Femme fatale und Heiliger Jungfrau einzuordnen. Alle anderen sind brave, einfache Frauen, die sich mit ihrer Rolle als Mutter und Versorger zufriedengeben müssen. Ein bisschen mehr Variation hätte dem Roman gut getan. Mein Lieblingsfigur ist Fermin, der aber doch ein bisschen zu sehr schillert. Ein Charakter von mephistophelischem Witz gepaart mit der Gerissenheit eines James Bond und der Libido eines Don Juan.
Viel zu kurz aber kommt mir leider der „Friedhof der vergessenen Bücher“. Dieses geheimnisvolle Institut hat soviel erzählerisches wie dramaturgisches Potential, dass es traurig ist, mit anzusehen, wie dieser Ort lediglich als Hintergrund der Handlung dient.
Immerhin passt es zum mehr oder weniger literarischen Thema des Buches, dass der Autor es sich nicht nehmen lässt, an zahlreichen Stellen auf andere Autoren der europäischen Literaturgeschichte (wie zum Beispiel Flaubert, Josesph Conrad, Kafka und Brecht) mit leisem Wink hinzudeuten.

Edward Gibbon – Verfall und Untergang des römischen Imperiums

Als man Mommsen bat, sein schon zur damaligen Zeit monumentales Werk über den Tod Caesars hinaus mit einer Darstellung der römischen Kaiserzeit fortzusetzen, lehnte er mit dem Hinweis ab, dass Inhalt und Form von Gibbons Darstellung nicht zu übertreffen seien und somit der Geschichte des langwierigen Niedergangs des Römischen Reiches nichts mehr Substantielles hinzugefügt zu werden könne. Diese Sichtweise darf man mit guten Gewissen anzweifeln, ruht doch Gibbons Werk fast ausschließlich auf der Auswertung schriftlicher Quellen, ganz im Gegensatz zu Mommsen, der nicht nur das Glück hatte auf Ergebnisse der noch jungen Wissenschaft von der Archäologie zurückgreifen zu können, sondern der ebenfalls in einem bis dahin (und bis heute) nicht gekannten Ausmaß vor allem epigraphisches Material für seine Untersuchung heranzog.
Dennoch oder gerade deswegen ist Gibbons Werk nur um so beeindruckender. Aus dem ebenso reichhaltigen wie problematischen Quellenmaterial arbeitet er die Gründe für den Verfall und den zwangsläufigen Untergang des Römischen Reiches im Westen heraus. Der Verfall der Sitten, allgemeine Dekadenz, die egoistische Suche nach Luxus und Macht zerstörten in einem überraschend langwierigen Prozess von fast 500 Jahren die so unerschütterlich scheinenden Fundamente des Römischen Reiches. Das Werk reicht von Augustus bis beinahe zu Karl dem Großen, geht also über den eigentlichen Untergang des Römischen Reiches im Jahre 476 n.Chr hinaus, als der letzte Kaiser, der kurioserweise nach dem sagenhaften Gründer der Stadt sowie nach dem großen Augustus benannt wurde, Romolus Augustulus, den kaiserlichen Purpur ablegte zugunsten von Odoaker, der Abstammung nach der Sohn eines Barbaren, die bereits seit langer Zeit die Geschicke des Römischen Reiches lenkten. Odoaker ließ dem Kaiser des Oströmischen Reiches in Konstantinopel ausrichten, in Italien bräuchte man keinen „Augustus“ mehr, weshalb der den Titel eines Rex Italiae annehmen wolle.
Präzise und mit einem guten Schuss Ironie verfolgt Gibbon die wechselhaften Ereignisse dieser 500 Jahre. Gerade die ironische manchmal sogar zynische Darstellung verhindert, dass das immerhin 3000 Seiten starke Werke unter detaillreichen Last der reinen Nacherzählung in tödlicher Langeweile erstarrt. Vielmehr bleibt der gesamte Bau auf diese Weise geschmeidig unterhaltsam, gelegentlich sogar amüsant.
Gibbon hat, wie Mommsen, den Mut die Ereignisse einer rein subjektiven Wertung zu unterziehen, die lediglich auf den ersten Blick von dem scheinbaren Rückgriff auf den common sense der Aufklärung objektiviert wird. Auf diese Weise gelingt es ihm, die herrschenden politischen Zustände im Europa der zweiten Hälften des 18. Jahrhunderts anzugreifen und zu kritisieren. Dadurch dass er immer wieder Analogien zwischen den antiken Verhältnissen und den zeitgenössischen schafft, gerät das Werk im Grunde zu einer Art von „Germania“ des aufgeklärten Absoutismus aus dem Blickwinkel des „bürgerlich-liberalen“ Englang. Tacitus wollte mit seiner Schrift bekanntlich nicht zeigen, wie einfach und naturverbunden die scheinbar so wilden Germanen in ihren dunklen Wäldern lebten, sondern er wollte Im Spiegel des Gegenteils die eigene Kultur der Dekandenz und der hemmungslos egoistischen Gier nach Reichtum und Macht darstellen.
Gibbon zeigt nur auf den ersten Blick Fremdes. Die zeitgenössischen Verhältnisse erscheinen im Abstand von 1200 Jahren greller und bedrohlicher. Abgemildert wird diese sich durchziehende Kritik an den bestehenden Verhältnissen durch typische aufklärischerische Anmerkungen über die bedeutenden Fortschritte, die im Laufe der Zeit auf den verschiedenen Feldern eines Gemeinwesens erreicht wurden. Nicht immer überzeugen diese Anmerkungen, schon gar nicht aus der Perspektive eines Lesers des 21. Jahrhunderts, dem der Gedanke eines teleologischen Geschichtsverständnisses, das hinter diesen Anmerkungen steckt, wohl eher reichlich schal vorkommen dürfte, als dass er sich dafür faszinieren könnte.
Bemerkenswert sind aber vor allem die ausführlichen Abschnitte über das Christentum, das sich genau in dieser Zeit von einer kleines Sekte zur Staatsreligion wandelt. Mit deutlichen Vorbehalten schreibt Gibbon eine herrlich erfrischende Geschichte der Frühzeit des Christentums und zertrümmert mit kritischen Geist die althergebrachte Tradition der panegyrischen Kirchengeschichtsschreibung. So wie überall Egoismus, Ruhmsucht, Lüge, Missgunst und Neid herrschen, so auch in den Institutionen der jungen, sich entwickelnden Kirche. Gibbon unterscheidet auch hier mit feinem Gespür zwischen Heuchlern und Heiligen, wie er auch im Wühltisch der politischen Geschichte unter der großen Zahl schlechter, ja unfähiger Herrscher die fähigen Politikern und Feldherren mit sicherer Hand findet.
Das große Problem von Gibbons Darstellung ist der Primat der politischen Geschichte. Es ist ein kaum zu vermeidendes Grundübel politischer Geschichtsschreibung, dass sie leicht der Versuchung nachgibt, die Geschichte auf das Wirken großer Persönlichkeiten zu reduzieren. Gibbon kann sich dem nur teilweise entziehen. Der Primat von Politik und Militär ist deutlich und im Hinblick auf die Entstehungzeit des Werkes auch keineswegs anrüchig. Fast völlig ausgeblendet bleiben Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, womit auch er Hauptunterschied der geschichtswissenschaftlichen Methodik zwischen Gibbon und Mommen bezeichnet wäre.
Zum Schluss noch eine Warnung. Man sollte nicht in einen überflüssigen Geschichtspessimismus verfallen, nachdem man dieses umfangreiche Werk gelesen hat. Sicher kann sich einem der Gedanke aufdrängen, die Geschichte der Menschheit werde vorangetrieben durch die wechselhaften Ergebnisse militärischer Auseinandersetzungen, der Krieg als Vater aller Dinge also, und von einer kleinen Anzahl Männer je nach ihren individuellen Fähigeiten und Eitelkeiten blind in irgendeine Richtung gelenkt.
Die Geschichte der Menschen kennt keine Richtung, sie läuft schon gar nicht auf ein bestimmtes Ziel zu, das in allen seinen schillernden Ausprägungen immer nur eine ideologische Fiktion war. Die Geschichte der Menschen hat demnach auch keinen Sinn. Nicht Resignation sollte die Folge dieser Schlussfolgerung sein, sondern vielmehr Antrieb, die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig zu verbessern, um unseren Nachkommen genau das auch zu ermöglichen.

Esbjörn Svensson Trio – Seven days of falling

Am vergangenen Wochenende starb bei einem Tauchunfall im Alter von nur 44 Jahren Esbjörn Svensson, der kreative Kopf des ein schwedischen Jazztrios, das aus gutem Grund seinen Namen trug. Ungemein produktiv schuf er eine bis dahin noch nicht gehört Art von Jazz, die rockige Einflüsse sowie Elemente des Ambient zu einem einzigartigen Sound vereint, der seinesgleichen sucht. Nicht umsonst galt das Trio mit Svensson an der Spitze als erfolgreichste und was in meinen Augen viel wichtiger ist, als einflussreichste Band des modernen Jazz.
Als Beispiel mag hier das 2003 erschienene Album „Seven days of falling“ dienen. Eingängig in den Melodien und ungemein kreativ gehört das Album sicher zu dem besten, was ich von E.S.T bislang kenne. Es klingt ungemein modern, ohne die Wurzeln des „traditionellen“ Jazz der letzten 60 Jahre zu verleugnen.Ein weitaus geschulteres Ohr könnte sicher vielfältige Beziehungen und Einflüsse nachweisen. Dennoch verkommt das Album nicht zu einem platten postmodernen Synkretismus, wie er leider häufig anzutreffen ist. Ohne übermäßig laut oder verrückt zu sein, ist es dennoch auch gerade in den ruhigen Passagen ein sehr energiegeladenes Album, das man sich einmal live erlebt zu haben wünscht. Letztes Jahr hätte man diese Chance gehabt, quasi vor der Haustüre, tja…
Wer denkt, dass Jazz nicht mehr produktiv ist, sich im Epigonalen verloren hat und vergangener Tage und Helden nachtrauere sieht sich hier eines besseren belehrt.
In der Kunst besteht immer die Chance sie neu zu entdecken, dem scheinbar Alten neues Leben, ein anderes Leben einzuhauchen, in dem immer auch die Wurzeln des Alten neuen Boden finden und neu austreiben. Nur selten, vielleicht niemals war die Kunst voraussetzungslos und einfach nur neu. Immer ist das Neue, so fremd und verstörend es auch zuerst erscheinen mag, verknüpft mit dem Alten. Darauf aufmerksam gemacht zu haben ist Svensson zweitgrößtes Verdienst. Das größte ist seine Musik.

Alfred Kubin – Die andere Seite

An einem trüben Novembertag bekommt der Protagonist, der namenlos bleibt, Besuch von einem Fremden, der sich als Agent eines alten Jugendfreundes, Claus Patera, ausgibt. Die Überraschung des Protagonisten, der wie der Autor Zeichner ist, steigert sich im Verlauf des folgenden Gespräches zunehmend. Durch wundersame Zufälle sei sein Jugendfreund Claus Patera zu märchenhaftem Reichtum gelangt, mit dem er sich in den Steppen Asiens ein eigenes Reich, das Traumreich, erschaffen habe. Der Agent übergibt eine Einladung ins Traumreich über zu siedeln sowie 100.000 Mark, die als Reisegeld vorgesehen sind. Nach einigem Zweifel reisen der Zeichner und seine Frau mit allen verfügbaren Verkehrsmitteln quer durch die Welt , bis ihre Reise nach Wochen in den Weiten der asiatischen Steppe auf dem Rücken von Kamelen vor der gigantischen Mauer, die den Zugang ins Traumreich kontrolliert, ein Ziel findet.
Der Zugang zum Traumreich ist nur denjenigen gestattet, die vom Herrn selbst eingeladen wurden. Wie sich später zeigt, soll die Mauer, wie so viele, nicht nur die Bewohner und das Reich vor unerlaubten Eindringlingen beschützen, sondern auch den Bewohnern das Verlassen des Landes unmöglich machen.
Im Traumreich scheint keine Sonne, sind keine Sterne, ist kein Mond zu sehen. Alles ist in ein dämmriges Zwielicht getaucht. Das Ehepaar findet in der Hauptstadt „Perle“ Unterkunft und der Zeichner bald sogar eine Anstellung bei einer Zeitschrift. Die gesamte Architektur der Stadt besteht aus Gebäuden, die komplett aus Europa stammen, für viel Geld erworben, demontiert, und hier wieder aufgebaut wurden. Außerdem sind es alles alte Häuser, die schon mitunter deutliche Verfallspuren zeigen. Allerdings erweist sich dieses Ambiente als inspirierend und die Besucher leben sich rasch ein. Sie gewöhnen sich an die altmodische Art der Bewohner sich zu kleiden. Etwas schwerer dagegen fällt den beiden allerdings die Geldwirtschaft. Dinge, die in Europa teuer sind, bekommt man im Traumreich sehr billig. Dafür sind andere Artikel, zum Beispiel Streichhölzer, extrem kostspielig, sodass den beiden sehr bald das Geld ausgeht.
Hinzu kommen weitere eigenartige Sitten. So kann es vorkommen, dass plötzlich Menschen vor der Tür stehen und die Begleichung einer Rechnung fordern, die nie gestellt wurde. Das Amt funktioniert nach bester Kafkascher Art, (dieser Roman hatte einigen Einfluss auf Kafka, sodass man eigentlich sagen müsste, dass die Mechanismen der Bürokratie, die er beschreibt, der Art Kubins folgen), Eingaben werden verschlampt, Anliegen verschleppt, Akten mit Federn ohne Tinte beschrieben.
All das stört die Bewohner nicht, sie folgen ihren Spleens und lassen es sich so gut gehen. Beispielsweise besucht der Protagonist regelmäßig einen Friseurladen, dessen Inhaber ständig philosophische Vorträge hält und stattdessen einen Affen namens Giovanni Battista das Geschäft führen lässt, was dieser mit Leidenschaft und Perfektion zu tun versteht.
Realität und Traum verschwimmen im Traumreich, allderdings wirkt das alles in der ersten Hälfte des Romans zwar skuril aber dennoch liebenswürdig ja anregend.
Erst mit dem Tod seiner Frau beginnen sich die Dinge für den Zeichner in einem anderen Licht zu zeigen. Je weiter die Krankheit seiner Frau fortschreitet, desto unheimlicher wird ihm auch sein Umfeld. Er sucht nach Antworten, nach Gründen für die vielen seltsamen Begebenheiten und stößt doch nur auf noch mehr Fragen. Seiner zunehmdenen Renitenz begegnen die anderen Einwohner mit Skepsis und Zurückhaltung. Sie haben akzeptiert, dass Auflehnung keinen Sinn und erst Recht keine Chance hat. Der Herrscher des Reiches ist kaum zu Gesicht zu bekommen aber doch immer gegenwärtig, selbst in den Augen der Einwohner. Nach unbekanntem Gesetz herrscht er über sein Reich, Absichten und Ziele dieser Herrschaft bleiben so unsichtbar wie er selbst. Die Bewohner sind ihm ausgeliefert, haben nur die Chance der Anpassung, des Arrangements mit den bestehenden Verhältnissen.
Doch irgendetwas ist ab nun anders. Die Dinge scheinen aus dem Ruder zu laufen. Erst vergammelt und verwest alles Material, dann bricht eine schreckliche Plage über die Bewohner von Perle. Während die Einwohner einer zunehmenden Agonie ausgeliefert sind, vermehren sich alle übrigen Lebewesen scheinbar explosionsartig, zu Beginn die Insekten, später auch alle übrigen Tiere. Wölfe, Bären und Tiger ziehen durch die Straßen und reißen die verängstigten Bewohner. Irgendwann ergreift die Einwohner eine Art von kollektiver Psychose, die sich in unglaublichen Szenen abspielt. Wüste Orgien wandeln sich zu Gewaltexzessen.
Das Traumreich geht zugrunde. Immer schrecklicher werden die Visionen des Untergangs, die der Protagonist schildert, immer grausamer und abartiger die Taten der verstörten Bewohner. Einem amerikanischen Fabrikant für Büchsenfleisch, Herkules Bell, ist es unterdessen gelungen , sich den Zutritt zum Traumreich zu erschwindeln. Nun beginnt er mit Agitationen gegen Patera mit dem Ziel, eine Revolution hervorzurufen, an deren Ende er sich selbst zum Herrscher über das Traumreich aufzuschwingen gedenkt.
In einer letzten Vision schildert der Zeichner den Kampf zwischen Patera und Bell als grandioses Zerrbild in den mythischen Bildern einer apokalyptischen Kosmologie.
Am Ende steht der Satz: „Der Demiurg ist ein Zwitter.“
Das Traumreich beginnt zu sterben als die kalte, rationale Vernunft die Grenze des Reichs übertreten kann. Bell steht für diese, Patera als Herrscher des Traumreichs für jene. Das Universum zerfällt in Gegensätze, die sich gegenseitig bekämpfen. Leben und Tod, Traum und Realität, Amerika und Asien etc. In Pateras Reich zerfließen diese Grenzen, für einen Neuling eine faszinierende Erfahrung, aus der heraus eine ungeheure schöpferische Kraft fließt. Das Unbewusste als Quelle der menschlichen Kreativität. Ein starker Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke an Freuds „Traumdeutung“, das 1900 erschien. Kubins Roman erschien 1909 zum ersten Mal und ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu lesen, Gesetzmäßikeiten des Unbewussten mit den Mitteln der Kunst nachzuspüren, zu simulieren, ja erst zu bestimmen. Was für den Neuling faszinierend war, wird für denjenigen, der zu lange im Reich des Traumes zu Gast war, zu einer alles überwältigenden Horrorvision, die den Träumer selbst zu vernichten droht. So ist das Reich des Traums nicht nur eine Spielwiese unserer eigenen kreativen Anlagen, sondern gleichzeitig auch ein uns selbst bedrohendes Monster, das wir nicht besiegen können, dem wir uns aber immer wieder zu stellen haben, vom dem wir uns aber nie überwältigen lassen dürfen.
Endet Kubins Roman mit der Erkenntnis der Gegensätzlichkeit aller Dinge und dem nie endenden Kampf derselben gegeneinander, so heißt das aber auch, dass im Menschen dieser Kampf ebenso tobt und es unsere Aufgabe ist, Herrscher unseres Traumreichs zu bleiben, es gegen die Realität draußen wie gegen die Monster drinnen zu behaupten. Damit ist das totalitäre Regime Pateras nur unter einem sozio-kulturellen Blickwinkel als negativ und bedrohlich zu betrachten und ich denke, dass ein solcher Blickwinkel dem Werk nur sehr wenig gerecht wird. Kubin war Künstler und ihn bewegten die Ausdrucksweisen und Möglichkeiten, die ihm die Bilder aus dem Unbewußten des Menschen für seine Kunst boten mehr als die Frage nach den bestehenden politischen Verhältnissen und der Kritik an denselben.

Gustave Flaubert – Die Erziehung des Herzens

Frédéric Moreau ist ein junger Mann, der zu einigen Hoffnungen Anlass gibt. Gut ausgebildet und mit ein wenig Vitamin B ausgestattet darf es durchaus als wahrscheinlich gelten, dass er im Frankreich der 1840er Jahre seinen Weg machen wird. Der Leser begegnet ihm in genau dieser Situation. Allerdings lernt er auf der Heimreise in die Provinz die Ehefrau eines durchtriebenen Geschäftsmannes kennen und verliebt sich in sie. Diese Frau, Madame Arnoux, ist es, um die seine Gedanken in der Zukunft kreisen und dieser unerfüllbaren Liebe ist zu einem Gutteil sein Versagen anzulasten.
Moreau ist ein Mann großer Pläne, darin vielleicht allen jungen Menschen ähnlich, die die Kraft, den Willen und die Fähigkeit in sich spüren, den Dingen ihren Stempel aufzudrücken. Die Zeit, in der sich Moreau und seine Altergenossen bewegen, scheint den Wünschen und Hoffnungen der jungen Menschen entgegen zu kommen, denn es ist eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der sich immer mehr beschleunigend in Jahre 1848 seinen Höhepunkt findet. Vieles, ja alles scheint möglich. Und so sind die Pläne des Protagonisten und seiner Freunde und Bekannten ebenso ehrgeizig und groß wie bunt. Der eine setzt auf Politik, der andere auf eine Karriere in der Wirtschaft, Pellerin auf die Kunst, Moreau mal auf das eine mal auf das andere. Das genau ist Moreaus großes Problem. Er ist schnell dabei einen Plan aufzustellen, aber leider besitzt er nicht die nötig Geduld, Hartnäckigkeit und Konzentration, um auch nur einen davon in die Tat umzusetzen. So beschließt er sein Leben als alternder Jungeselle in bescheidenen Verhältnissen. Sein zwischenzeitlicher Reichtum fällt zum einen einer dandyhaften Verschwendungssucht zum Opfer, der keinerlei Einkünfte durch eigene Arbeit entgegenstehen, zum anderen seinen oft gut gemeinten aber unvorsichtigen Investitionen zugunsten einiger befreundeter Damen und Herren.
Letztlich ist Moreau unfähig zu handeln, unfähig zu entscheiden und nicht in der Lage, sich durchzusetzen. Er weiß selbst nie genau, was er will, er ist beeinflussbar wie vielleicht jeder jungen Mensch bis zu einem gewissen Grad.
Seine Pläne werden stets durchkreuzt. Drei unterschiedliche Instanzen hemmen Moreau in dieser Hinsicht: die unberechenbaren Wechselfälle des sozio-politschen Umfelds, die Menschen in seinem Umfeld und letztlich seine eigene Persönlichkeit, seine Unfähigkeit, eine Sache zu verfolgen und zu Ende bringen. Er will alles und das gleichzeitig. Er liebt Mdme Arnoux, kann aber von der „Prostituierten“ Rosanette nicht lassen und steigt gleichzeitig, Reichtum und Einfluss im Sinn, der edlen Madame Dambreuse nach und möchte auch noch die naive, aber in ihren Gefühlen stets ehrliche Louise Rogent, das typische Mädchen vom Lande, heiraten, mehr um sie nicht zu enttäuschen als aus Liebe zu ihr. Eine reist ihn immer von der anderen weg, oft gerade dann, wenn er sich kurz vor seinem Ziel glaubt.
So jagt er seinen Plänen und Leidenschaften hinterher, oft auch denen seiner Bekannten und Freunde unter denen sich Personen jeglichen Standes und jeglicher politischer Couleur finden, versucht es allen recht zu machen und erreicht nur kurzfristig etwas, das er mit Erfolg verwechselt: das vorübergehende Abnehmen dieser Verpflichtungen und das kurzweilige Glück bei einer der Frauen. Er ist also, wie Jules Barbey d’Aurevilly in seinem großartigen Verriss schreibt, eine „Marionette der Geschehnisse“.
Der Titel mag in die Irre führen, denn selbst wenn es eine solche „Erziehung“ gäbe, bestünde ihr Ziel in einem recht indifferenten Hinweis auf das Motiv der Entsagung.
Und vielleicht äußert sich eben gerade darin die Meisterschaft Flauberts, den man gerne als einen Realisten bezeichnet, dass dieser Roman, im weiteren Sinne als Bildungsroman zu betrachten, und die Welt, die in diesem gestaltet wird, eben keinen als vorbildlich zu erkennenden Weg anbietet und somit von einer beinahe schockierenden Offenheit ist, vor allem vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Romanproduktion in der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sinnstiftende Instanzen sind verloren, das Individuum noch nicht in der Lage diese Lücke durch das Absolutsetzen der eigenen Individualität zu füllen. In diesem Sinne wäre der Roman als protomoderner Antibildungsroman zu bezeichnen. Dass Flaubert ein grandioser Erzähler ist, dessen behutsame Liebe zum Detail frühe Krititker dazu veranlasst hat, ihn einen Materialisten zu nennen, muss nicht eigens erwähnt werden. Die Übersetzung aber, ob gut oder schlecht kann ich nicht beurteilen, und die darin zu ahnende Schönheit der Sprache Flauberts sollte einen dazu ermutigen, seine Französischkenntnisse aufzufrischen.

Nick Cave and The Bad Seeds – Murder Ballads

Obwohl der umtriebige Nick Cave nach wie vor alle Jahre ein Album heraus bringt, in Wien Vorlesungen über Musik hält, Romane schreibt und man aus diesem Grunde ein relativ neues Werk von ihm vorstellen könnte wie die neue Platte „Dig Lazarus, dig“, möchte ich aber auf mein persönliches Lieblingsalbum von Nick Cave hinweisen, „Murder Ballads“ von 1996. Wer im Zusammenhang mit populärer Musik an das Wort Ballade denkt, wird wohl den Kopf schütteln. Es tut das auch zu Recht, wer an schmierige Heulsusen-songs im Schlage von Witney Houston, Celine Dion oder die noch übleren Titel, die im sogenannten R’n’B Bereich Balladen genannt werden, denkt und auch denjenigen, die diese Gattung in Verbindung mit „Metal“ bringen, wird nicht unbedingt wohler bei der Sache. Mir scheint, als bezeichnet man in der zeitgenössischen Popmusik einen übertrieben pathetischen, emotionalen Song langsamen bis mittleren Tempos, der gerne auch mit ein paar sozialkritischen Lampions austaffiert wird, als Ballade.
Nick Cave fasst Ballade offenbar im literarischen Sinne auf, also ein eine im poetischen Kleid erzählte, abgeschlossene dramatische Geschichte, die mit starken Effekten arbeitet, gern auch Schauer und ein wenig Grusel erregen darf, auf jeden Fall aber oft tragisch endet.
Denn genau diesem Schema folgen die Lieder auf dieser Platte. Jedes der Lieder erzählt von Mord und Todschlag. Von Mädchen, die das Meer sehen wollten, und an den falschen Typen geraten (The Kindness of Strangers), von feigen, durchgedrehten Irren, die in eiskalt eine Menge Leute umlegen, ohne den Mut zu haben, sich nach dem Amoklauf selbst zu richten (O’Malley’s Bar) oder von geisteskranken Irren, die ihre zunehmend extremeren Taten mit einem unglaubliche Fatalismus nur notdürftig bedecken (The Curse of Milhaven).
Dabei sind die Songs auf diesem Album immer mit einem großen Schuss Melancholie gewürzt, ganz wie es Nick Caves eigener Definition eines guten Songs entspricht, wie er es auch im Rahmen seines Seminar in Wien programmatisch formuliert hat. Insofern dürfen die Stücke auf diesem Album als typisch für das Songwriting Nick Caves gelten.
Mögen manche Alben von Nick Cave and the Bad Seeds auch den von bunten Popmusik weichgespülten Ohren und Hirnen nicht gerade angenehm klingen, so ist dieses Album doch bei aller Betonung des Textlichen und der unkonformen Länge der Songs ein durchaus eingängiges. Das Duett mit Kylie Minogue ist wohl noch jedem hinreichend bekannt. In Kontext dieses Albums gewinnt das fast zu oft gehörte Stück aber einen neuen, tieferen Glanz.
Auch PJ Harvey ist zu hören, die mir in letzter Zeit mehr als einmal über den Weg gelaufen ist (als Duettpartnerin von Mark Lanegan auf Bubblegum zum Beispiel), was ich als Zeichen und Aufforderung verstehe, mich an diesem Ort in Kürze etwas genauer mit ihrer Musik zu befassen.
Die Stimme von Nick Cave unterstreicht die böser Ironie des Albums zusätzlich. In diesem Sinne:
„La la la La la la lei
Even God’s little creatures, they have to die.“

Samuel Beckett – Murphy

Ich kenne Beckett nicht so gut, um zu erkennen, warum er diesen Roman aus den Dreißiger Jahren später nicht mehr gemocht hat. Dieses kleine Buch hat auch wenig Anklang gefunden, als es zum ersten Mal erschien. Kein Wunder, wenn man die grotesken Figuren und die absurden Dialoge betrachten. Allerdings ist es gerade das, was den Roman so reizvoll macht. Der Protagonist, Murphy, verbringt seine Zeit am liebsten nackt in seinem Schaukelstuhl, wo er in schaukelnder Meditation Erlösung vom Dasein sucht. Murphy leidet an der ihm unüberwindbar scheinenden Kluft zwischen eigener Innerlichkeit und den Anforderungen der Welt, die in Murphys Augen allesamt weitgehend zweitrangig, ja letztliche irrelevant sind. Murphy liebt Celia, die seinetwegen ihre Karriere als Prostituierte vorübergehend aufgegeben hat. Allerdings gestaltet sich das Überleben zu zweit schwierig, da nun keiner von beiden einer Arbeit nachgeht. Der Egoist Murphy findet erst nach langem Lavieren eine Arbeit, die ihm nicht sinnlos erscheint. Diese allerdings nimmt ihn so gefangen, dass er darüber seine Liebe zu Celia vergisst und sie wegen des Jobs verlässt, den er sich ja nur auf ihr Drängen hin gesucht hat.
Der Egoismus aller handelnden Personen ist ein hervorstechendes Merkmal dieses Romans: Ms. Counihan will Murphy wiedersehen, Neary will Murphy wiedersehen, da er Miss Counihan überzeugen möchte, Murphy aufzugeben und sich für ihn zu entscheiden. Wiley will Murphy aus den selben Gründen aus dem Weg räumen.
Murphy überwindet sein egoistisch pathologisches Phlegma nur scheinbar und findet Arbeit in einer Einrichtung für psychische Kranke.
Nur Celia scheint nicht vom Egoismus besessen zu sein. Sie gibt für Murphy ihren Beruf auf, was ihr nicht schwerfallen dürfte. Gelegentlich kümmert sie sich um den alten Kelly, hilft ihm beim Drachensteigenlassen. Dort aber bandelt sie schließlich mit neuen Kunden an, woraus man schließen darf, dass dies einer alten Gewohnheit entspricht und Kelly womöglich eher eine Art Zuhälter ist als ein alter Freund oder Verwandter.
Die Figuren leben mit ihren Spleens und Neurosen in einer scheinbar normalen Welt, die aber alles andere als das ist. Der Egoismus der Menschen und das Streben nach Erfüllung ihrer Gelüste machen aus dem zivilisierten London einen grotesken Ort des Absurden, ja Verrückten im pathologischen Sinne. Die Welt ist einfach wie sie ist, ohne übergeordneten Plan, ohne Ziel, ohne Sinn außer dem, den jeder selbst und auf eigene Faust in ihr sucht. Nur so finden sich Personen auf Zeit zusammen, in der irrigen, ja verrückten Idee, das Gleiche zu wollen, es gemeinsam zu wollen und gemeinsam verwirklichen zu können.
Die Gegegebenheiten der Welt führen dazu, dass die Figuren von ihrem ursprünglichen Plan abweichen müssen, aber nur um sich in einer anderen Spur sofort wieder an ihren ureigenen Spleen zu klammern. So ändert sich die Welt, die Menschen bleiben dieselben.
Die Sonne ist Symbol und stummer Zeuge dieses unerbittlichen Gangs des Kosmos, wie uns der erste Satz, einer der größten Anfangsätze der Literaturgeschichte, auf groteske Weise deutlich macht:
„Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues.“
Murphy findet in der Irrenanstalt endlich einen Menschen, von dem er sich verstanden glaubt. Allerdings ist jener Insasse, Mr. Endon, entweder aufgrund seiner psychischen Disposition nicht in der Lage, Murphys Gefühle und Wünsche zu erwidern oder er möchte lieber, wie Murphy ja ursprünglich auch, in seiner Einsamkeit verharren, was für Murphy jedenfalls ein und dasselbe ist. Über dieser Enttäuschung verliert Murphy endgültig seinen Lebenswillen und begeht Selbstmord.
Seine Asche soll zurück in die irische Heimat gebracht werden. Allerdings gerät der Bote mit der Asche in eine Schlägerei, in deren Verlauf sich Murphys Asche über den mit allerlei Unrat bedeckten Boden einer Kneipe verteilt und am darauf folgenden Tag mit samt dem restlichen Dreck im Müll landet.
Wenn mir nun jemand das Buch geschenkt hätte, was hätte diese Person mir damit sagen wollen?
Vielleicht, dass die Welt dort draußen eine verrückte ist, die weder gut noch schlecht, sondern einfach nur grotesk und verrückt ist, so dass man sich in einen radikalen Individualismus flüchten sollte?
Allerdings ist es genau dieser übersteigerte Egoismus, der die Welt zu der macht, als welche sie uns in diesem Roman erscheint! Warnt uns dieser Roman also im Gegenteil vor dem typisch modernen Individualismus, der hier als pathologisches Moment der modernen Gesellschaft in den grellen Signalfarben des Absurden gemalt wird?
Möglicherweise soll es aber auch ein raffiniert versteckter Hinweis zu sein, sein persönliches Verhältnis von Innerlichkeit und Welt zu überdenken.
Ich finde heute keine Lösung, es käme natürlich auch auf den Schenkenden an.
Letztendlich kann auch einfach die herrlich absurde Geschichte, die neben der kräftigen Komik auch eine guten Schuss Melancholie enthält, der Grund sein, diesen kleinen Roman zu verschenken, in dem der spätere Meister des Absurden bereits in allen wesentlichen Zügen zu erkennen ist.

Carlos Ruiz Zafón: Der Schatten des Windes

Normalerweise vertraue ich fast ausschließlich dir Lynkeus, wenn es um die Empfehlung von Literatur geht Ich habe eine Ausnahme gemacht – und wurde nicht enttäuscht.

Barcelona, vierziger Jahre. Daniel ist ein Heranwachsender, seine Mutter starb, sein Vater ist Buchhändler. Als dieser die Zeit für richtig hält, führt er seinen zehnjährigen Sohn zum Friedhof der vergessenen Bücher. Schier endlose, verzweigte, verwinkelte Gänge und Gassen, bis an die steinernen Decken gefüllt mit abertausenden Büchern. Ein Geheimnis. Jeder, der es entdecken darf, übernimmt die Patenschaft für eines von ihnen und muss dafür sorgen, dass es niemals in Vergessenheit gerät. Daniel entscheidet sich für „Der Schatten des Windes“ eines gewissen Julian Caráx und liest es in einer Nacht. Die inhaltliche Geschichte des Buches wird nie wirklich behandelt, vielmehr treten ab jetzt die Hintergründe der Entstehung und vor allem die Geschichte rund um Julian Caráx in den Vordergrund. Mit dem Zeitpunkt, an dem Daniel das Buch zum ersten mal beiseite legt, beginnt die Verschmelzung zwischen ihm, Caráx und dem Schatten des Windes.
Er begibt sich, getrieben von kindlicher Entdeckungslust, auf die Suche nach Hintergründen und Antworten, die er hofft, vom Autor des für ihn so prägenden Werkes zu finden. Immer verwirrender – sowohl für den Leser, als auch für den Protagonisten – werden die Entwicklungen und Zusammenhänge, die ihn auf der Reise begleiten. Jedesmal wenn er denkt, er käme dem Geheimnis rund um die Existenz Caráx´ einen Schritt näher, tun sich vor ihm weitere Verzweigungen, Abgründe und Verwirrungen auf, die ihn jedoch nicht davon abhalten, weiterzuforschen.

Amiina – Kurr

Auf Island kommt es vor, dass Straßen verlegt werden, weil es bei Bauarbeiten zu teilweise schweren Problemen kommt. Maschinen fallen aus, den Menschen wird unwohl und schwindlig. An so einer Stelle, glauben einige Isländer, wohnen Elfen. Diese halten sich vornehmlich in und an großen Steinen und Felsen auf, an denen es auf Island bekanntlich nicht mangelt. In solch einem Fall ist es nicht selten, dass man beschließt, die Straße ein wenig zu verlegen, damit die Elfen in Ruhe weiterleben können. Die verstimmten Elfen kann man besänftigen, indem man Kerzen aufstellt und Musik spielt oder singt.
Zwar sind die vier Damen von Kurr ganz sicher keine Elfen und ihre Musik ist auch durchweg irdisch. Aber solch eine Musik dürfte auch Elfen gefallen. Die ruhigen Schwestern von Sigur Rós könnte man die vier Damen nennen. Streng genommen sind sie nur ein Streichquartett und die Musik des Albums beruht auch in jedem Moment auf sanft wiegenden Streichinstrumenten, die einen endlosen, in ruhigen gedeckten Tönen sich ausbreitenden Teppich bilden, wie er auf dem Cover zu sehen ist. In schöner Bildhafitgkeit durchzieht das musikalische Prinzip die ganze graphische Gestaltung der CD. Vier Frauen sitzen in mittlerer Entfernung an einem Tisch und stricken in sich versunken gemeinsam jenes Vlies, dessen vier Farben ständig alternieren. Die Innenseite der Cd setzt die Metaphorik des Fadens fort. Viele parallel verlaufende Linien verdichten sich zu Worten und Text ohne einmal abzusetzen. Nicht mit dem Lineal , sondern von dem leichten Zittern einer Hand gezogen, laufen diese Linien nie parallel von der einen Seite des Booklets als verschnörkelter Text in jenen Linien aus, die in so korrekter und gerader Anordnung nur das Zittern einer Hand malen kann. Nur zwei Mal verdichten sich die Linien auf der Cd noch einmal: zum Namen der Band und dem Titel der CD.
Entsprechend arm ist die Cd an Text. Der Gesang bleibt immer schwebend nonverbal oder verstummt ganz. Es scheint, als wachse aus dem ruhig Klangteppich die menschliche Stimme nur zeitweise empor, um sich freiwillig in die Harmonie des Klangs zu fügen.
Wie reich diese Cd dagegen an Klang ist. Neben den Klängen der Streichinstrumente, die hin und wieder ein wenig elektronisch untermalt werden, klingt, klingelt, blinkt, funkt und knistert es in einem fort. Ist die Musik von Sigur Rós zu vergleichen mit einem einsamen Spaziergang in den eisigen Hügeln des mitternächtlichen Islands, so ist diese Cd hier das Gegenstück dazu. Ein Blick aus einer kleinen, warmen, halbdunklen Hütte, der auch der schlimmste Sturm nichts anhaben kann, hinaus in das lange Schwarz der isländischen Nacht. Ein Blick, der in den paar hellen Metern vor dem Fenster nach jenem einsamen Wanderer sucht und weiß, dass er endlich kommen wird, ja muss.
Mit solch einer Musik, die man vielleicht isländische Romantik nennen kann, könnte man sicherlich die erzürnten Elfen besänftigen. Und wenn ich manchmal mit den Liedern dieser wunderschönen Cd im Ohr abends am nahen Waldrand vorbeikomme, dann ist mir hin und wieder so, als würde ich beobachtet.

Biosphere – Cirque

Das Schicksal des Aussteigers Christopher McCandless scheint die Menschen nachhaltig zu beschäftigen. So hat sich auf Geir Jenssen alias Biosphere von dem Schicksal Christopher McCandless inspirieren lassen. Das Ergebnis ist dieses Album, das zwar nicht zu den besten Biospherescheiben zählt, aber dennoch tief zu beeindrucken weiß.
Ungewöhnlich für Biosphere ist der Beat, der sonst im Allgemeinen fehlt, hier aber an einigen Stellen seine strukturierende Funktion zurückgewinnt. Ebenfalls auffallend ist die Verwendung von Sprachfetzen in verschiedenenen Sprachen. Hat man erwartet auf diesem Album Naturgeräusche zu hören, so wird man enttäuscht. Dass gerade die Natursamples auf einem Album fehlen, das sich mit dem Schicksal des Aussteigers McCandless in Alaska auseinandersetzt, ist auf den ersten Blick um so erstaunlicher, da Aufnahmen aus der Natur oft auf den Platten von Biosphere verwendet werden. Ja es gibt sogar ein Album, das nur aus arrangierten Geräuschen besteht, aufgenommen im Zusammenhang mit Geir Jenssens Trip in den Himalya.
An einigen Stellen, Zum Beispiel gleich zu Beginn, meint man Nauturaufnahmen zu hören. Allerdings handelt es sich hierbei um künstliche erzeugte Klangbilder, die die Natur lediglich nachahmen sollen. Vielleicht noch nicht einmal das, sondern in ihrer Künstlichkeit lediglich auf die Natur verweisen. Überhaupt ist das Verhältnis von Natur und Kunst auf dieser Platte das zentrale Motiv. Vor diesem Hintergrund sind die diversen Spachsamples zu sehen, die eine recht große Variation aufweisen. Von Fetzen aus Telefongesprächen über Regieanweisungen bis hin zu monologischen Wiederholungen komponierter Satzstrukturen, die in beinahe Verscharakter bekommen.
Die Stellung des Menschen zwischen Natur und Kultur ist das Hauptthema der Platte, Nur so kann sich das Grundmotiv zu einem quasi-tragischen Moment weiterentwickeln. Das Verhältnis von Kultur und Natur ist nur dann überhaupt von Interesse, wenn versucht wird, den Menschen innerhalb dieses Spannungsverhältnis zu verorten und genau dieser Versuch ist hier unternommen.
Die Platte zeichnet den letzten Lebensabschnitt McCandless nach, allerdings nur in einem punktuellen Herausgreifen einzelner Stationen. Dass diese Wegmarken vielmehr innerer Natur sind, darf man aus der Tatsache schließen, dass die Musik mit zunehmender Dauer immer dunkler und bedrohlicher wird. Die Titel der einzelnen Stücke stützen das. „Too fragile to walk on“ heißt das letzte Lied.
Je weiter der Aussteiger sich von der Zivilisation entfernt, desto dunkler wird sein Schicksal, was nicht heißt, dass die ersten Partien der Platte fröhlich klingen. Im Vergleich mit den letzten Stücken der Platte erzeugen sie aber immerhin den Eindruck einer zum Überdruss gewordenen Gewöhnung an die materielle Kultur. Gerade die ständig wiederholten Sprachsamples untermalen diesen Eindruck. Die dialektische Struktur der Liedtitel (z. B. Black lamb & grey falcon; Moistened & dried; Algae & fungi) transformieren das Grundmotiv zu einer Beschreibung der Möglichkeiten der Existenz des Menschen in Angesicht Natur, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht und außerhalb der Kultur absolute Anpassung an ihre Gesetzmäßigkeiten fordert. Dazu rücken die dialektischen Liedtitel die innere Reise von McCandless zunehmend in ein mythisches Licht. Der Weg des Aussteigers führt aus der hochtechnisierten, der Natur weitgehend entrückten Zivilisation zurück in das mythische Reich einer mystischen Vereinigung des Menschen mit der Natur. Seinen dramatische Höhepunkt findet die Platte im neunten und zehnte Lied, die den oben erwähnten Beat auf eine für Biosphere ungewöhnliche Art und Weise in den Mittelpunkt rücken.
Man darf in diesem beiden Stücken McCandless Ankunft in der Wildnis erkennen, die Etablierung seines Stützpunkts in jenem alten Bus. Die vergleichsweise Heftigkeit des Beats spiegelt weniger die Euphorie des Aussteigers an einem Ziel angekommen zu sein als vielmehr das hektische Getriebenwerden, radikal Ruhe- und Rastlose des Aussteigers, der im Umkreis um seinen Bus die für Touristen (?) angelegten Notplätze verwüstet, um sich auch von den letzten Resten der Zivilisation abzuschneiden.
McCandless stirbt (ob an Hunger oder an einer Vergiftung ist letztlich nicht von Bedeutung) schließlich, nachdem er einige Monate allein, ohne Kenntnisse der Wildnis, ohne nennenswerte Ausrüstung im eisigen Alaska überlebt hat.
Diese Platte ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass die Geschichte von Christopher McCandless das Zeug hat, zu einem postmodernen (ich entschuldige mich für die Verwendung dieses Begriffs) Mythos zu werden. In tragischer Weise zeigt uns sein Schicksal, das keinerlei romantische Verbrämung erlaubt, dass der Prozess der Zivilisation den Menschen (abgesehen von einigen Naturvölkern) vollständig vereinnahmt und ihn von seinem einstigen Umfeld, das er immerhin die weitaus meiste Zeit seiner genotypischen Entwicklung bewohnt hat, vollständig abgeschnitten hat. Wir können nicht mehr zurück zur Natur, nur mit hohem Aufwand ist dies für begrenzte Zeit möglich. Wir sind Sklaven unserer eigenen Kultur, die uns so beherrscht wie es einst die Natur mit uns tat. Kultur als die Möglichkeit den Menschen aus seiner naturräumlichen Umklammerung zu befreien ist umgeschlagen in eine erneute vollständige Abhängigkeit des Menschen von der selbst erschaffenen Kultur. Eine Flucht aus der Zivilisation zurück in die Natur ist, wie uns das Beispiel von Christopher McCandless zeigt und die vorliegende Platte eindrucksvoll unterstreicht, nicht mehr möglich. Dort erwartet den Aussteiger nur noch der Tod.

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