Die Melancholie der Portugiesen

Der Portugiese neigt zur Melancholie. Das klingt wie ein Klischee. Fado scheint das zu belegen. Und wer Pessoas „Buch der Unruhe“ gelesen hat, der wird das bestätigen. Vielleicht ist dieses Buch (eine Besprechung ist auf diesem Blog verfügbar) die Apologie der Melancholie und damit ihre höchst mögliche Ausformung vor dem Sturz in die Depression. Der von seinem Zimmer aus auf die schmalen Straßen der Lissaboner Altstadt blickende Hilfsbuchhalter Bernado Soares, der Protagonist dieses Buches, ist einer der größten Melancholiker in der Literatur. Aber die wenigsten Portugiesen werden dieses Buch gelesen haben. Also hat Pessoa seine Landsleute nicht mit diesem Gemütszustand angesteckt. Daher kann die Melancholie der Portugiesen also nicht rühren.

Pessoa – Buch der Unruhe, Fragment 387

Um einen Eindruck zu vermitteln, gebe ich hier das Fragment 387 wieder:

„Vermutlich bin ich, was man einen Dekadenten nennt, einer, dessen Geist äußerlich durch dieses traurige Leuchten einer künstlichen Fremdheit bestimmt ist, die einer rastlosen, seiltänzerischen Seele in unerwarteten Worten Gestalt gibt. Ich späre, daß ich so bin und daß ich absurd bin. Daher suche ich in Nachahmung einer Hypothese der Klassiker, zumindest den schmucken Empfindungen meiner Ersatzseele durch eine ausdrucksstarke Mathematik Form zu verleihen. Es kommt immer wieder vor, daß ich in einem bestimmten Stadium meines schriftlichen Nachdenkens nicht mehr weiß, wo das Zentrum meiner Aufmerksamkeit liegt – ob in den verstreuten Empfindungen, die ich zu beschreiben versuche wi e unbekannte Tapisserien, ob in den Worten , in die ich mich, im Wunsch, den Akt des Beschreibens zu beschreiben, verstricke, verirre und auf diese Weise andere Dinge sehe. Neben klaren und verschwommenen Gedanken-, Bild- und Wortassoziationen sage ich, was ich empfinde, wie auch was ich zu empfinden glaube, und unterscheide nicht mehr zwischen dem, was die Seele sagt und was die Bilder, die auf dem Boden blühen, auff den die Seele sie hat fallen lassen, ja, ich erkenne nicht einmal mehr, ob der Klang eines barbarischen Wortes oder der Rhythmus eines eingeschobenen Satzes mich nicht schon vom an sich unbestimmten Thema abbringt, von der schon angefahrenen Empfindung, und mich entbindet von allem Denken uns Sagen, wie jene großen Reisen, die man zur Zerstreuung unternimmt. Und all dies müßte, während des Wiedergebens hier, ein Gefühl von Nichtigkeit, Scheitern und Schmerz wachrufen und vermag mir doch nur goldene Schwingen zu verleihen. Sobald ich von Bildern spreche, entstehen – vielleicht, weil ich ein Zuviel an Bildern ablehne – neue Bilder in mir; sobald ich mich aufrichte, um zu verwerfen, was ich nicht empfinde, empfinde ich es bereits, und das Verwerfen wird zu einem mit Spitzen verzierten Gefühl. Sobald ich mich Irrwegen anheimgeben will, da der Glaube an mein Bemühen engültig geschwunden ist, lassen mich ein klassischer Begriff, ein räumliches, schmuckloses Adjektiv, plötzlich, wie im Licht eines Sonnenstrahls, klar die schläfrig geschriebene Seite vor mir erkennen, und die Buchstaben aus der Tinte meines Ferderhalters werden zu einer absurden Landkarte magischer Zeichen. Und ich lege mich beiseite wie meinen Federhalter und hülle mich ein in meinen Umhang, lehne mich zurück, allein, fern, zwischen zwei Welten, besiegt, am Ende, wie ein Schiffbrüchiger, der, märchenhafte Inseln vor Augen, untergeht inmitten eines veilchenblau vergoldeten Meeres, von dem er auf fernen Lagern wirklich träumte.“

Fernando Pessoa – Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernado Soares

Es fällt mir schwer etwas zu diesem Buch zu schreiben. Es ist ein Werk, dass man mit Goethe „inkommensurabel“ nennen möchte. Ich bin des Potugiesischen nicht mächtig, aber wenn die Übersetzung auch nur einen kleinen Teil des Klangs des Orginals einfangen konnte, dann muss das Orginal ein überwältigendes sprachliches Kunstwerk sein. Ein Grund, portugiesisch zu lernen.
Das Buch erzählt die fiktive Autobiographie des Hilfsbuchhalters Bernado Soares. Wer eine , von erzählte Lebensgeschichte erwartet, wird sich verwundert die Augen reiben.
Fragment Nr. 12: „Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.“
Auch wenn in diesen Sätzen mit dem Begriff „Bekenntnisse“ auf die lange Tradition der Gattung Autobiographie verwiesen wird, die von Augustinus „Confessiones“ über Rousseau bis zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und darüber hinaus reicht, hat der Leser bereits bemerkt, dass die Dinge hier anders liegen. Wieso sollte man sein Leben, oder überhaupt irgendetwas, schreiben, wenn man es im Grunde für nicht mitteilungswürdig hält. Es ist dies aber nicht die Absicht dieser Sätze auf genau diesen Umstand hinzuweisen, vielmehr hat dieser kurze Abschnitt programmatischen Charakter.
Sicher, auch diese Fragmente sind Bekenntnisse, aber solche, die nicht ein Leben mit und durch die Dichtung beschreiben (Goethe) oder einen Lebensweg christlicher Läuterung darstellen und rechtfertigen (Augustinus), sondern lediglich persönliche Zeugnisse der eigenen Existenz geben, die in ihrer hoch individuellen verdichteten Form und Widersprüchlichkeit jeden Rest von Allgemeingültigkeit verloren haben und somit anderen in der Tat nichts zu sagen haben.
Ist eine Autobiographie immer auch ein Versuch, sein Leben im Setzkasten der Zeit zu positionieren, ihm einen Sinn zu geben, die eigene Existenz zu rechtfertigen, so ist diese fiktive Autobiographie ein letztes beeindruckendes Bekenntnis der Sinnlosigkeit einer menschlichen Existenz.
Autobiographien leben eben der Wechselwirkung des Ichs mit der Welt. Hier aber ist diese Beziehung eine recht einseitige. So etwas wie äußere Handlung fehlt fast völlig. Manchmal sehen wir Soares am Fenster seines im vierten Stock gelegenen Büros in den Regen hinausschauen, ein anderes Mal streift der durch das Lissabon der kleinen Leute. Jedes äußere Ereignis, vom Regen über das Klingeln der Straßenbahn bis hin zu Soares Chef Vasquez, wird verinnerlicht, ins rein Seelische transponiert. Die Umwelt als Metapher der Seele. Entsprechend besteht das Buch aus einer Unzahl von Fragmenten. Pessoa an Cortez-Rodrigues (19.11.1914):“Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.“
Der fragmentarische Charakter des ist die einzig annehmbare Form der Darstellung in diesem Fall und sie ist ein Zeichen für die Unfähigkeit des Hilfsbuchhalters Soares sein Denken, Fühlen und Handeln, kurz sein Leben zu einem Ganzen zu formen.
Bezeichnenderweise kreisen seine Reflexionen sehr häufig um das Träumen. Nichts ist weiter von der physischen Welt entfernt wie der Traum oder die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz im Tod. Reflexion über die Träume ist eine schwierige Arbeit. Sie zwingt zu besonderen Formend es sprachlichen Ausdrucks. Die Paradoxie ist eine davon, die von Pessoa in diesem Buch oftmals bis in Unverständlichkeit getrieben wird. Vom Manieristischen über das Symbolistische bis tief hinein in das Labyrinth des Paradoxen bewegt sich die Sprache auf ihrem Versuch eine über die Grenzen zum Pathologischen hinaustreibende Reflexion des eigenen Ich sprachlich fassbar zu machen. Gerade darin liegt der außerordentliche Reiz dieses Buches, das einem die volle Aufmerksamkeit abverlangt, die man aufzubringen imstande ist. Groß ist die Versuchung, sich von den hypnotischen Relfexionen hinweg treiben zu lassen. Dann aber wird das Buch tatsächlich zu einem, das nichts mehr zu sagen hat. Über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes, das erst nach Pessoas Tod in unvollendeter Form 1935 erschien, auf Deutsch sogar erst in den 1980er Jahren, kann ich nichts sagen, aber ich bin der festen Überzeugung, das dieses Buch zu den wichtigsten Werken der Klassischen Moderne gehört.

%d Bloggern gefällt das: