Paul Mercier – Nachtzug nach Lissabon

In einem Gespräch erwähntest du vor einen paar Wochen diesen Roman, den wir beide nicht kannten. Ich wollte ihn dir eigentlich zu deinem Geburtstag schenken. Da ich allerdings niemals Bücher verschenke, die ich selbst nicht gelesen habe, wer weiß, was man sonst für einen Mist verschenkt, habe ich den Roman also erst ein Mal selbst gelesen.
Raimund Gregorius, alternder Lehrer für Alte Sprachen an einem Berner Gymnasium, begegnet eines morgens auf einer Brücke einer portugiesischen Frau, die ihm mit einem Filzstift eine Telefonummer auf die Hand schreibt. Sie begleitet ihn durch den Regen ins Gymnasium, ja sie folgt ihm sogar in den Unterricht. Kurz darauf lässt G. alles stehen und liegen und verlässt mitten in der Stunde die Schule, um nicht mehr zurückzukommen. In einem Antiquariat entdeckt er ein Buch, verfasst in portugiesischer Sprache. Er entschließt sich, beeindruckt von dem Klang der Sprache und dem Bild des Autors, nach Lissbon zu fahren.
Dort stellt er bald fest, dass der Autor des Buches bereits seit 30 Jahren tot ist. G. beginnt nun Nachforschungen anzustellen. Er trifft alte Bekannte, Weggefährten, Freunde, Verwandte und Geliebte des merkwürdigen Autors. In zahlreichen Gesprächen werden die mitgeteilten Auszüge aus Amadeu Prados Buch gespiegelt, präzisiert. Interessanterweise besitzen fast alle alten Freunde von Prado irgendwelche Aufzeichnungen von ihm, die sie dem faszinierten, ja beinahe besessenen G. nicht vorenthalten. G. bricht in das Leben dieser Menschen ein und rollt die Geschichte des intelligenten, beliebten, aber auch extravaganten Arztes Amadeu Prado im Portugal der Diktatur wieder auf, was nicht allen angenehm ist. Er zwingt die Menschen alte, feste Mauern des Schweigens und Verdrängens einzureißen und sich der eigenen Lebensgeschichte in Bezug auf den grandiosen Prado erneut oder überhaupt zum ersten Mal bewußt zu werden. Ob dies allerdings eine Veränderung in den Personen um Prado bewirkt, darf man bezweifeln. Immerhin scheint es G. zu gelingen, die vollständig von dem Andenken an den geliebten Bruder eingenommene Schwester zeitweise aus ihrer pathologischen Verehrung des Bruders zurück in die Gegenwart, in das eigene Leben zu reißen (an der Beziehung der Geschwister dürfte ein Freudianer eine leise Freude haben). Und, wen wundert’s, auch der tatterige Altphilologe macht eine Veränderung durch, wenn auch eine, die ganz im Rahmen seiner bildungsbürgerlichen Existenz bleibt. Er lässt sich eine neue Brille machen, kauft sich einen neuen Anzug. Alles Äußerlichkeiten.
Dieses Buch ist kein „Bewußtseinskrimi“, wie der Klappentext verheißt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der für eine kurze Zeit aus seinem eingefahrenen Leben ausbricht. Alles, was G. in Lissabon tut ist nichts anderes als die Fortsetzunh der Altphilologie mit anderen Mitteln. Die Orte, an denen sich Prado aufhielt werden G. zu sentimentalen Besichtigungspunkten, die Menschen mit denen er spricht degenerieren zu Querverweisen und entstehungsgeschichtlichen Belegen für den Haupttext Amadeu Prado.
Ich gebe zu, manch einen Satz aus Prados Aufzeichnungen sind dem Autor gelungen. Allerdings habe ich das mehr als dumpfe Gefühl, dass sich hier ein „schriftstellernder“ Universitätsprofessor seine eigene Autobiographie zurecht schustert, die neben den nachdenklich pessimistischen Bonmots, realisiert in Amadeu Prado und seinem Buch, auch eine sozusagen Autobiographie der verpassten Gelegenheiten bringt. Interessant bleibt nur die Auspaltung jener Autobiographie auf die G. und Prado.
Insgesamt wirkt der plötzliche Aufbruch des allzu biederen G.’s wenig bis gar nicht glaubwürdig, so sehr der Autor auch bemüht ist, diesen zu motivieren. Faszinierend, aber leider auch enttäuschend bleibt das Motiv der geheimnisvollen Fremden auf der Brücke, die G. eine Telefonummer auf den Arm schreibt. Sie dient nur dazu, G.s Aufbruch auszulösen. Ansonsten bleibt dieses hochgradig produktive Moment nicht nur fruchtlos, sondern im Grunde tot. G. wählt in Portugal nur einmal diese Nummer, legt aber gleich wieder auf. Wenn es so etwas wie tot oder blinde Motive in der Literatur gibt, dann ist Mercier hier ein besonders schönes Exemplar gelungen.
Ich bin froh, dir den Roman nicht geschenkt zu haben…
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