„Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“

Den ganzen trüben Sommer über fiel dieser Satz in so ziemlich jedem Gespräch, das ich führte. So häufig, dass er sogar auffiel. Erstaunlich wie flexibel dieses Sprichwort zu handhaben ist. In fast jedem Zusammenhang ist es anwendbar, aber das ist ja ein Charakteristikum fester Wortverbindungen.Was soll das heißen: bescheide dich mit dem, was du hast und strebe nicht nach dem weit Entfernten, Unerreichbaren, wenigstens aber schwer Erreichbaren. Gefährlich ist es, auf Dächern herumzulaufen und Vögel zu fangen. Da bleibt man doch lieber auf dem Boden und freut sich an dem kleinen Spatz in seiner Hand. Immerhin erscheint es für den Städter aus heutiger Sicht ohnehin irrwitzig zu sein, wegen einer Taube solch ein Risiko einzugehen. Sind doch Tauben für ihn bestenfalls lästig. Werden sie doch gerne als Flugratten bezeichnet, so gewinnt das Sprichwort nur noch mehr an Plausibilität. Tauben jagt man heute aus Gründen der Stadthygiene und man kommt ihnen doch nicht bei. Sie sind zäh und wenn auch nicht so schlau wie Ratten, so doch immerhin mindestens genauso widerstandsfähig gegen die hinterhältigen Nachstellungen, denen sie ausgesetzt sind.
Der Taubenzüchter dagegen dürfte den Kopf schütteln, wenn am Stammtisch mal wieder dieses Sprichwort fällt. Vielleicht ist ein Spatz noch nicht mal ein richtiger Vogel für den Vereinsmeier, der seiner Freizeitbeschäftigung nur in streng organisierter Form nachzugehen gewillt ist und mit einem an längst vergangene Zeiten erinnernden Rigorismus alles Störende oder Andersartige verdammt bis hin zum Wunsch nach Vernichtung. Wer schon mal einen Angler über Kormorane hat schimpfen hören, sie nähmen den Anglern den ganzen Fisch weg, weiß, wovon die Rede ist. Als ob der liebe Gott die Fische für den Angler erschaffen hätte.
Jede Gefahr würde der Taubenliebhaber auf sich nehmen, um seinen Vogel zu retten, ihn vom steilen Dach in die wohlbehütete Sicherheit des Käfigs zurückzubringen. Was sollte so einer mit einem Spatz. Mit sowas kann man bei der nächsten Geflügelschau keinen Blumentopf gewinnen.
Wenn aber der Taubenzüchter nicht aufbegehrt, sobald er das Sprichwort hört, so liegt das an der weitgehenden rhetorischen Entleerung des Satzes, der so abgedroschen ist, dass er jeden semantischen Wert eingebüßt hat und nur noch als rhetorisches Füllmaterial dient, vielleicht gerade noch als Eingeständnis der eigenen Sprachlosigkeit zu deuten ist.
Oft will man mit dem Sprichwort trösten. Freu dich an dem, was du hast, das ist doch auch schön. Aber ist das ein Trost? Mit diesem Sprichwort wird einem vielmehr eine Bescheidenheit aufgezwängt, die davon abhalten soll, seinen Zustand grundlegend zu überdenken. Denn das muss man, will man ihn ändern. Und genau diesen Mut zur Veränderung wird einem mit diesem Sprichwort in den Hals zurückgestopft, angereichert mit einer guten Prise Vorwurf der Unbescheidenheit. Wer mehr will, wird diesen Satz als Beleidigung auffassen, denn er glaubt sich ungerechtfertigt über seine Möglichkeiten und Verhältnisse erhoben zu haben, muss er sich dies Sprichwort von seinem Gegenüber anhören.
So ist dieser Spruch ein psycholinguistischer Trick mit dem Ziel den gesellschaftlichen Status quo zu erhalten. Jeder soll an seinem Platz bleiben, mit dem zufrieden sein, was er hat. Andere haben vielleicht mehr, sind reicher, mächtiger aber die haben doch auch ihre Probleme, hört man dann.
Ein Sprichwort als Mittel gesellschaftspolitischer Unterdrückung: dir gehört der Spatz, die Taube ist für einen anderen. Für jemanden, der sich auf dem gefährlichen Dach sicher zu bewegen weiß, so als ob der von der Natur aus mit einem feineren Gleichgewichtssinn ausgestattet wurde. Oder die Taube, dass sie weiß ist, werden wohl die meisten annehmen, kommt freiwillig von ihrem hohen Sitz herab, zu einem, der sie verdient. Wozu also den Spatz aufgeben für etwas, das in der weiten Ferne der Unwahrscheinlichkeit hockt. Man will nicht, dass sich die Menschen in die Unsicherheit einer ungewissen Zukunft begeben, denn das schadet dem Bestand des Staates. Somit ist dieser Spruch die Parole der staatliche Selbsterhaltung, der Aufrechterhaltung einer Ordnung, deren einziger Vorteil ist, dass es eben eine Ordnung ist und damit besser als jede Unordnung sein muss. Bei uns funktioniert dieses Sprichwort aber nur, weil hier jeder etwas zu verlieren hat. Oder das zumindest glaubt.
Der Spruch ist mehr als die Parole der Subalternen: er ist ein metaphorisches Traumverbot. Schlag dir das aus dem Kopf. Träume nicht von alten Zeiten oder neuen, träume nicht von dem Mädchen, das weit weg ist, träume nicht von Kunst, sondern geh‘ arbeiten und freu dich über den Kunstdruck an der Wand. Begrabe dein handgeschriebenes Gedicht in der Schublade und so fort und so fort. Und so macht es mich wütend, wenn ich den Satz hören muss, erst recht, wenn er mir gilt. Bleibt doch mit euren Spatzen in der Hand auf dem sicheren Gehweg, ich klettere hinauf auf’s Dach. Kann schon sein, dass ich falle.
Besser wär’s, man drehte den Satz um: Lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand.

Fragment

Roderich, König der Westgoten, betrat eine Kapelle in seiner Residenz Toledo. Dort befand sich ein Kistchen, das verschlossen bleiben sollte. Angeblich enthielt es eine Schriftrolle mit einer bedeutungsvollen Verheißung. Oft stand in diesen schweren Zeiten vor dieser schmucklosen Kiste im prächtigen Mantel der König Roderich , doch in dieser Nacht konnte er seiner Neugier nicht mehr länger standhalten. Mit starker Hand brach er das Siegel, entnahm das Pergament und las: „Dein Reich wird untergehen, deine Familie in alle Welt zerstreut, dein Gold geraubt, deine Kirche geschändet.“
Ruhig ging er in dieser Nacht zu Bett, gelassen ritt er am nächsten Morgen in die Schlacht. Er focht mutig und fiel.
Roderich war der letzte König der Westgoten.

In die Sprache zurück – Fragment zur Theorie des Unsagbaren

Das Grimmsche Märchen „Die Drei Männlein im Walde“ beginnt mit dem Satz, Es war ein Mann, dem starb seine Frau; und eine Frau, der starb ihr Mann; Die brutale Lakonik des Satzes macht betroffen, ja erschüttert. Der Leser mag sich schwer tun weiter zu lesen, der klare, parallele Aufbau und die einfache, keiner Schminke fähige, brutale Feststellung macht betroffen. Dem klaren Aufbau steht aber ein inhaltliches Paradox entgegen, wenn man stillschweigend annimmt, dass Mann und Frau in einer Verbindung zueinander stehen. Starben beide gleichzeitig. Gibt dieser Satz etwa einen Hinweis auf eine schreckliche Tragödie?

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