Eine Propädeutik der Subversion

Der gemütliche Bereich des Kleinbürgers ist der Versuch, das Unvorhersehbare, das Unkalkulierbare, kurz das Chaos, zumindest aus dem privaten Leben zu verbannen. Die Wohnungstür, die Werkstadt vielleicht noch Stadtviertel oder Dorf sind die Bannmeilen, aus denen man das Chaos vertrieben wissen will, innerhalb derer es gesittet, ruhig und vor allem geordnet zugehen soll. Das Leben folgt klaren Regeln, es ist klar geregelt und wenn das ungehorsame Schicksal trotz der Menge an Verbannungsmagie zuschlagen sollte, so kann man sich heutzutage wenigstens gegen die Folgen versichern.

Kunst – Gesellschaft – web2.0. Ein Essay in Teilen – 2. Wilde Zeiten

Goethe fühlt sich wohl. Trägt seine „Werther-Uniform“, blauer Rock, gelbe Hose, gelbe Weste, halbhohe Stiefel. So kleidet sich die Jungend in ganz Deutschland. Genie, Kraft, Gefühl, Natur, Shakespeare sind die Schlagworte der Zeit, der Werther ist Leitbild, jeder will sein wie er, fühlen wie er, ja einige schießen sich tatsächlich wie der unglückliche Werther eine Kugel in den Kopf, den Roman in der Tasche. „Werther-Fieber“ nannte man das. „Werther-Effekt“ nennt man das heute. Der Sturm und Drang als Jugendbewegung, Urahn des Flowerpower, Großvater des Grunge. Allerdings, der Autor lebt, hat sich eben nicht die Kugel gegeben, als er an Liebe und Leben litt. Er Lebt jetzt in Weimar. Und wie!
Goethe ist 26, der regierende Fürst 18. Alles scheint möglich in dem kleinen Fürstentum. Die jungen Menschen am Hof finden sich, die Alten schauen kopfschüttelnd zu. Ein waschechter Generationenkonflikt, mit dem Vorteil auf der Seite der Jungen. Auch hier sind die Alten konservativ, reaktionär, spießig. Aber die höchste Autorität ist der junge Herzog. Also tut man, was man will. Keine übergeordnete Instanz schränkt die jungen Leute ein. Keiner kommt mit dem alten „Tu dies nicht, tu das nicht“ und wohlgemeinte Ratschläge der Alten kann man ignorieren, darin sollte man Übung haben in diesem Alter.
Gezielt provoziert die Jugend, verstößt gegen Etikette. Goethe kommt in seinen groben Wertherstiefeln zur fürstlichen Tafel marschiert, flucht ständig, sodass Charlotte von Stein ihm aus dem Weg geht und glaubt, „Goethe und ich werden niemals Freunde“.
Da sollte sie sich täuschen. Die feine Hofdame beschwert sich über das Verhalten des Dichters:
„…und nun sein unanständ’ges Betragen mit Fluchen, mit pöbelhaften niedern Ausdrücken. Auf sein Moralisches, sobald es aufs Handeln ankommt, wird’s vielleicht keinen Einfluss haben, aber er verdirbt andere.“
Andere, das ist vor allem der Herzog, um den sie sich sorgt. Immerhin soll dieser die Geschicke des Landes lenken, ein sich wie wild aufführender junger Dichter kann da doch kaum ein gutes Vorbild abgeben.
Goethes bringt das Schlittschuhfahren nach Weimar. Man ist begeistert. Läuft nachts auf den Seen, am Ufer stehen Diener mit Fackeln und erhellen die Szene.
Carl August und er sind unzertrennlich in dieser Zeit. Sie reiten durchs Land, knallen vorher mit den Reitpeitschen auf dem Markt. Goethe verletzt sich dabei am Auge, wie er nach Frankfurt schreibt. Mit den Jägern durchstreifen sie das Land, verbringen die Nächte am Lagerfeuer, schwimmen nackt in Flüssen und Seen zum Entsetzen der Landbevölkerung. Treten verkleidet oder unter falschem Namen auf, schäkern mit den Mädchen auf den Dörfern. Immer mehr junge, vor allem „genialische“ Naturen tauchen in Weimar auf, und sei nur für ein paar Wochen. Der Herzog hält sie aus, beschenkt sie, verabschiedet sie wieder. So kommen die Brüder Stolberg, Lenz, Klinger. Gemeinsam poltert man ins Zimmer der Herzogin Luise, die das sehr krumm nimmt, schießt mit Pistolen im Haus, reitet nachts mit weißen Bettlaken bekleidet durchs Land und verschreckt die Bauern. Fällt in Gasthöfen ein, säuft bis zum Umfallen, lässt die Fässer des Gasthauses den Berg hinunterrollen, wirft Gläser an die Wand.
Sie lassen die Tür zum Zimmer der Hofdame Amalie von Göchhausen zumauern. Man amüsiert sich, als man erfährt, dass das arme Ding wie blöd im Haus herumgelaufen ist, ihr Zimmer suchend, und schließlich in einem Zustand arger Verwirrtheit bei einer Freundin auf dem Sofa übernachten musste.
Ein knappes halbes Jahr dauert der Spuk. im Sommer 1776 wird Goethe zum „Geheimen Lagationsrat ernannt“, erhält 1200 Taler Gehalt (nur einer verdient mehr im Herzogtum) und wird gegen heftige Widerstände in das Geheime Conseil berufen, wird also Mitglied der Regierung. Man hat sich offenbar ausgetobt und lässt es jetzt ruhiger angehen.
10 Jahre lang wird sich Goethe nun den Regierungsgeschäften widmen, wird in seiner Liebe zu Charlotte von Stein erstarren und so gut wie nichts schreiben. Erst durch seine Flucht nach Italien wird er diesen Zustand überwinden können.
Auf den ersten Blick mag dieses halbe Jahr dem sinnlos oder vertan erscheinen, der glaubt das Leben bestünde aus Arbeit und ein Leben um des Lebens willen sei ein Widerspruch. In dieser Zeit wird aber der Grundstein gelegt für jenen berühmten Musenhof, der wohl einzigartig in der deutschen Geistesgeschichte sein dürfte. Nicht Wien, nicht Augsburg oder Mannheim, Braunschweig oder Hamburg, sondern in dem kleinen, im Vergleich ärmlichen und abgelegenen Fürstentum im Thüringer Wald finden sich eine Reihe von Künstlern zusammen, die sich gegenseitig inspirieren und motivieren, eingerahmt von einer Gruppe empfindungsfähiger Menschen. Im Rahmen eines absolutistischen Fürstentums bildet sich ein Kreis von Menschen, die versuchen, der Kunst den Primat über das Leben einzuräumen. Der Kreis von Weimar als soziales Experiment.

Kunst – Gesellschaft – web2.0 . Ein Essay in Teilen – 1. Goethe kommt nach Weimar

1775 kommt Goethe nach Weimar. Der Bürgersohn aus der Freien Reichsstadt Frankfurt, die ihren muffigen Stolz eines autonomen Bürgertums vor sich her trägt, soll nun den Fürstenknecht spielen. Goethes Vater ist dagegen, möchte vielmehr, dass der Sohn wie vor Jahren er selbst nach Italien fährt. Für den Moment scheint es, als habe der Vater gesiegt. Goethe besteigt die Kutsche und reist gen Süden. Nach ein paar fröhlichen Tagen holt ihn ein Brief des Kammerherrn von Kalb in Heidelberg ein.
„Ich packte für den Norden, und ziehe nach Süden, ich sagte zu, und komme nicht, ich sagte ab und komme“, heißt es in Goethes Reisetagebuch vom 30.10.1775.
Der Weg nach Italien führt über Thüringen. Unsicherheit spricht aus den Antithesen dieses Satzes. Die Warnung des Vater, in einen Bibelvers verpackt, eröffnet den kurzen Text. Zwischen den Wünschen des Vaters und der Einladung des Herzogs muss er sich entscheiden. Bürgertum oder Höfische Gesellschaft! Er will aber nicht in Frankfurt bleiben, auch wenn er einige liebe Menschen würde zurücklassen muss. Aber auch Weimar soll nicht für immer sein. Wohin die Reise gehen wird, ist ihm wohl selbst nicht klar in diesen Tagen.
Vom jungen Carl August, dem seit kurzem regierenden Fürsten, eingeladen, trifft Goethe am 7.11.1775 in dem kleinem thüringischen Fürstentum ein. Ein paar Tage später lernt er eine Frau kennen, die sein Leben mehr als zehn Jahren hindurch prägen wird, Charlotte von Stein.
Aber nicht allein den Günstling des jungen Fürsten zu geben, soll seine Aufgabe sein, nein, er soll in den Staatsdienst eintreten und neben seiner Schriftstellerei Politik und Verwaltung des kleinen Herzogtums mitgestalten. Eine große Aufgabe für einen 26-jährigen mittelmäßigen Juristen, auch wenn er im Moment der Stern am wolkenverhangenen Himmel der europäischen Literatur ist. Nicht Hofdichter, nicht Gründer und Mittelpunkt eines Musenhofes, Beamter soll er sein. Seine Art, seine Orginalität, sein Genie, wie es die Zeit nennt, soll dem 18-jährigen Herzog beiseite stehen, das ganze Staatswesen beleben. Und wenn der Herzog profitiert, so geht es auch den Untertanen besser. So jedenfalls in der Theorie des aufgeklärten Absolutismus.
Was soll`s. Die erste Zeit ist ohnehin eine des Kennenlernens. Mal schauen, wie sich die Dinge entwickeln. Gehen kann man immer. Zur Not flüchten – aber das wird noch elf Jahre dauern.
Mit Wieland hat er sich schon angefreundet. Der ist ganz begeistert von ihm, alle früheren Vorbehalte gegen den Fremden mit einem Lächeln beiseite wischend: „Goethe, den wir seit neun Tagen hier besitzen, ist das größte Genie, und der beste, liebenswerteste Mensch, den ich kenne…“
Auch wenn er nicht für immer bleiben will (er wird es bekanntlich dennoch tun…), auch wenn der junge Mann nicht so recht weiß, was aus ihm selbst werden soll, in Weimar gefällt es ihm bald so gut, dass er im Dezember seinen Freund Herder in Thüringische zu lotsen versucht:„Lieber Bruder der Herzog bedarf eines General Superintendenten, hättest du die Zeit deinen Plan auf Göttingen geändert, wäre hier wohl was zu thun. Schreib mir ein Wort. Allenfalls ist auf die Veränderlichkeit der Zukunft ein Blick hierher. Leb wohl. […] Mir ists wohl hier, in aller Art. Wieland ist eine brave Seele und die Fürstenkinder edel lieb und hold.“
Zuversicht also. Die alten Zweifel verstummen im wirbelnden Neuen. Und in Weimar geht’s rund in den kommenden Monaten.
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