Alfred Kubin – Die andere Seite

An einem trüben Novembertag bekommt der Protagonist, der namenlos bleibt, Besuch von einem Fremden, der sich als Agent eines alten Jugendfreundes, Claus Patera, ausgibt. Die Überraschung des Protagonisten, der wie der Autor Zeichner ist, steigert sich im Verlauf des folgenden Gespräches zunehmend. Durch wundersame Zufälle sei sein Jugendfreund Claus Patera zu märchenhaftem Reichtum gelangt, mit dem er sich in den Steppen Asiens ein eigenes Reich, das Traumreich, erschaffen habe. Der Agent übergibt eine Einladung ins Traumreich über zu siedeln sowie 100.000 Mark, die als Reisegeld vorgesehen sind. Nach einigem Zweifel reisen der Zeichner und seine Frau mit allen verfügbaren Verkehrsmitteln quer durch die Welt , bis ihre Reise nach Wochen in den Weiten der asiatischen Steppe auf dem Rücken von Kamelen vor der gigantischen Mauer, die den Zugang ins Traumreich kontrolliert, ein Ziel findet.
Der Zugang zum Traumreich ist nur denjenigen gestattet, die vom Herrn selbst eingeladen wurden. Wie sich später zeigt, soll die Mauer, wie so viele, nicht nur die Bewohner und das Reich vor unerlaubten Eindringlingen beschützen, sondern auch den Bewohnern das Verlassen des Landes unmöglich machen.
Im Traumreich scheint keine Sonne, sind keine Sterne, ist kein Mond zu sehen. Alles ist in ein dämmriges Zwielicht getaucht. Das Ehepaar findet in der Hauptstadt „Perle“ Unterkunft und der Zeichner bald sogar eine Anstellung bei einer Zeitschrift. Die gesamte Architektur der Stadt besteht aus Gebäuden, die komplett aus Europa stammen, für viel Geld erworben, demontiert, und hier wieder aufgebaut wurden. Außerdem sind es alles alte Häuser, die schon mitunter deutliche Verfallspuren zeigen. Allerdings erweist sich dieses Ambiente als inspirierend und die Besucher leben sich rasch ein. Sie gewöhnen sich an die altmodische Art der Bewohner sich zu kleiden. Etwas schwerer dagegen fällt den beiden allerdings die Geldwirtschaft. Dinge, die in Europa teuer sind, bekommt man im Traumreich sehr billig. Dafür sind andere Artikel, zum Beispiel Streichhölzer, extrem kostspielig, sodass den beiden sehr bald das Geld ausgeht.
Hinzu kommen weitere eigenartige Sitten. So kann es vorkommen, dass plötzlich Menschen vor der Tür stehen und die Begleichung einer Rechnung fordern, die nie gestellt wurde. Das Amt funktioniert nach bester Kafkascher Art, (dieser Roman hatte einigen Einfluss auf Kafka, sodass man eigentlich sagen müsste, dass die Mechanismen der Bürokratie, die er beschreibt, der Art Kubins folgen), Eingaben werden verschlampt, Anliegen verschleppt, Akten mit Federn ohne Tinte beschrieben.
All das stört die Bewohner nicht, sie folgen ihren Spleens und lassen es sich so gut gehen. Beispielsweise besucht der Protagonist regelmäßig einen Friseurladen, dessen Inhaber ständig philosophische Vorträge hält und stattdessen einen Affen namens Giovanni Battista das Geschäft führen lässt, was dieser mit Leidenschaft und Perfektion zu tun versteht.
Realität und Traum verschwimmen im Traumreich, allderdings wirkt das alles in der ersten Hälfte des Romans zwar skuril aber dennoch liebenswürdig ja anregend.
Erst mit dem Tod seiner Frau beginnen sich die Dinge für den Zeichner in einem anderen Licht zu zeigen. Je weiter die Krankheit seiner Frau fortschreitet, desto unheimlicher wird ihm auch sein Umfeld. Er sucht nach Antworten, nach Gründen für die vielen seltsamen Begebenheiten und stößt doch nur auf noch mehr Fragen. Seiner zunehmdenen Renitenz begegnen die anderen Einwohner mit Skepsis und Zurückhaltung. Sie haben akzeptiert, dass Auflehnung keinen Sinn und erst Recht keine Chance hat. Der Herrscher des Reiches ist kaum zu Gesicht zu bekommen aber doch immer gegenwärtig, selbst in den Augen der Einwohner. Nach unbekanntem Gesetz herrscht er über sein Reich, Absichten und Ziele dieser Herrschaft bleiben so unsichtbar wie er selbst. Die Bewohner sind ihm ausgeliefert, haben nur die Chance der Anpassung, des Arrangements mit den bestehenden Verhältnissen.
Doch irgendetwas ist ab nun anders. Die Dinge scheinen aus dem Ruder zu laufen. Erst vergammelt und verwest alles Material, dann bricht eine schreckliche Plage über die Bewohner von Perle. Während die Einwohner einer zunehmenden Agonie ausgeliefert sind, vermehren sich alle übrigen Lebewesen scheinbar explosionsartig, zu Beginn die Insekten, später auch alle übrigen Tiere. Wölfe, Bären und Tiger ziehen durch die Straßen und reißen die verängstigten Bewohner. Irgendwann ergreift die Einwohner eine Art von kollektiver Psychose, die sich in unglaublichen Szenen abspielt. Wüste Orgien wandeln sich zu Gewaltexzessen.
Das Traumreich geht zugrunde. Immer schrecklicher werden die Visionen des Untergangs, die der Protagonist schildert, immer grausamer und abartiger die Taten der verstörten Bewohner. Einem amerikanischen Fabrikant für Büchsenfleisch, Herkules Bell, ist es unterdessen gelungen , sich den Zutritt zum Traumreich zu erschwindeln. Nun beginnt er mit Agitationen gegen Patera mit dem Ziel, eine Revolution hervorzurufen, an deren Ende er sich selbst zum Herrscher über das Traumreich aufzuschwingen gedenkt.
In einer letzten Vision schildert der Zeichner den Kampf zwischen Patera und Bell als grandioses Zerrbild in den mythischen Bildern einer apokalyptischen Kosmologie.
Am Ende steht der Satz: „Der Demiurg ist ein Zwitter.“
Das Traumreich beginnt zu sterben als die kalte, rationale Vernunft die Grenze des Reichs übertreten kann. Bell steht für diese, Patera als Herrscher des Traumreichs für jene. Das Universum zerfällt in Gegensätze, die sich gegenseitig bekämpfen. Leben und Tod, Traum und Realität, Amerika und Asien etc. In Pateras Reich zerfließen diese Grenzen, für einen Neuling eine faszinierende Erfahrung, aus der heraus eine ungeheure schöpferische Kraft fließt. Das Unbewusste als Quelle der menschlichen Kreativität. Ein starker Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts, man denke an Freuds „Traumdeutung“, das 1900 erschien. Kubins Roman erschien 1909 zum ersten Mal und ist vor diesem Hintergrund als Versuch zu lesen, Gesetzmäßikeiten des Unbewussten mit den Mitteln der Kunst nachzuspüren, zu simulieren, ja erst zu bestimmen. Was für den Neuling faszinierend war, wird für denjenigen, der zu lange im Reich des Traumes zu Gast war, zu einer alles überwältigenden Horrorvision, die den Träumer selbst zu vernichten droht. So ist das Reich des Traums nicht nur eine Spielwiese unserer eigenen kreativen Anlagen, sondern gleichzeitig auch ein uns selbst bedrohendes Monster, das wir nicht besiegen können, dem wir uns aber immer wieder zu stellen haben, vom dem wir uns aber nie überwältigen lassen dürfen.
Endet Kubins Roman mit der Erkenntnis der Gegensätzlichkeit aller Dinge und dem nie endenden Kampf derselben gegeneinander, so heißt das aber auch, dass im Menschen dieser Kampf ebenso tobt und es unsere Aufgabe ist, Herrscher unseres Traumreichs zu bleiben, es gegen die Realität draußen wie gegen die Monster drinnen zu behaupten. Damit ist das totalitäre Regime Pateras nur unter einem sozio-kulturellen Blickwinkel als negativ und bedrohlich zu betrachten und ich denke, dass ein solcher Blickwinkel dem Werk nur sehr wenig gerecht wird. Kubin war Künstler und ihn bewegten die Ausdrucksweisen und Möglichkeiten, die ihm die Bilder aus dem Unbewußten des Menschen für seine Kunst boten mehr als die Frage nach den bestehenden politischen Verhältnissen und der Kritik an denselben.

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