Goya II

Lion Feuchtwanger hat 1951 mit „Goya oder dem argen Weg der Erkenntnis“ einen historischen Roman vorgelegt, der das Leben und Wirken des spanischen Malers Francisco de Goya y Lucientes zum Gegenstand hat. Eine Biographie und eine historisch korrekte Wiedergabe der Ereignisse in seiner Lebenszeit sind hierbei jedoch nicht entstanden. Feuchtwanger verändert die Geschichte, schichtet sie um, verändert ihre Reihenfolge an einigen Stellen so wie es ihm gerade für die Handlung zuträglich erscheint. Feuchtwanger ist bei der Bearbeitung seines historischen Materials selbst schaffender Künstler: Er verändert, formt, gestaltet neu und versucht dadurch, der Aussage des Textes zur größtmöglichen Geltung zu verhelfen und seinem zentralen Thema die schärfsten Konturen zu verleihen.
Das Anfangkapitel erläutert in deutlichen Worten die Grundproblematik und die Situation Spaniens am Ende des 18. Jahrhunderts und lässt das Konfliktpotential für den Roman bereits erahnen: „Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der iberischen Halbinsel … dauerte es fort.“. Europas Angesicht ist durch die Beben, welche durch die Aufklärung und die französische Revolution verursacht wurden, grundlegend verändert worden. In Spanien hält sich jedoch das Königsgeschlecht der Bourbonen weiterhin auf dem Thron, regiert scheinbar unbeeindruckt in verschwenderischer Manier und ungeachtet jeglicher existentieller, finanzieller und politischer Nöte des Landes. Über allen schwebt bedrohlich, gleich einem Damoklesschwert, die Inquisition der katholischen Kirche und verbreitet Angst und Schrecken.
Feuchtwanger gestaltet den Roman und seinen Protagonisten auf eine Art und Weise, welche über die Figur „Goya“ hinausweist auf den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Am Leben und Wirken Goyas, an seiner allmählichen Persönlichkeitsentwicklung hin zu einem Künstler mit politischem und gesellschaftskritischem Bewusstsein, vollzieht Feuchtwanger exemplarisch den paradigmatischen Umbruch innerhalb der gesamten spanischen Gesellschaft. „Der arge Weg der Erkenntnis“, den der Maler Goya in den drei Teilen dieses Buches beschreitet, wird als ein Prozess des Erwachens aus einer Zeit der Unvernunft, der blinden Religiosität und bedingungslosen Hörigkeit dargestellt. Im ersten Teil des Buches tritt Goya als unpolitisches, charakterloses Individuum auf, das sich seiner gesellschaftlichen Funktion als Maler, seiner Rechte, Pflichten und Grenzen bewusst ist. In dieser Phase malt er ausschließlich Vorlagen für Wandteppiche und harmlose und verklärende Herrscherportraits. Der zweite Teil zeigt Goya als der Maler des Bildes „Die Familie Karls IV“. Goya wagt an diesem Bild Unerhörtes, indem er die königliche Familie nicht wie sonst üblich schönt, sondern sie in einem unbarmherzigen Realismus darstellt: Stupide Gesichter und plumpe Körper stecken in pompösen Rokokokostümen. Als gläubiger Katholik und Monarchist ist er zwar noch linientreu. Allmählich erscheinen ihm jedoch Hirngespinste, die auf eine gefährliche Unordnung in seinem Inneren schließen lassen: Mittags aus heiterem Himmel kriecht ihm El Yantar, das krötenartige Mittagsgespenst, über den Weg. Aberglaube und übernatürliche Erscheinungen scheinen Goya und seinen Zeitgenossen nichts allzu Ungewöhnliches zu sein. Der Leser erfährt, dass auch anderen Personen, z.B. der Herzögin Alba, Geister begegnen. Von dem Gruselkabinett Familie Karls IV über seine ersten Entwürfe vom Krötengeist bis zu den berühmten Caprichos, der Serie von Radierungen, die Goya im dritten Teil des Buches anfertigt, ist es für den Betrachter eine nachvollziehbare konsequente Entwicklung. Mit der zunehmenden Erkenntnis, die Goya durch einschlägige Gespräche mit Freunden und schicksalhafte Erlebnisse von den Umständen in Spanien gewinnt und die er in seinen Bildern verarbeitet, vermag er auch dem spanischen Volk, die wahre Natur des Klerus und der Monarchen zu entdecken: Die Caprichos stellen Mitglieder der königlichen und adligen Gesellschaft als eingebildete Affen und Esel dar, ein Pfaffe sitzt auf den Schultern eines arbeitenden Bauern, hässliche Mönche verschlingen mit großen Mündern gierig Speisen auf einem Tisch. Diese Zeichnungen sind Ausdruck des Loslösungsprozesses von den alten Herrschaftsgebilden. Feuchtwanger stellt das Leben Goyas und seinen „argen Weg der Erkenntnis“ somit als exemplarisches Heraustreten des Menschen des Mittelalters aus seiner Unmündigkeit hinein in die aufgeklärt kritische Welt der individuellen Verantwortung dar, in der blinder Glaube und Aberglaube keinen Platz mehr hat. Der Schlaf der Vernunft hat die Dämonen herbeibeschworen, deren wahre Gestalt der Erwachende nun deutlich zu erkennen vermag.
Die Dämonen des Francisco Goya hat Feuchtwanger in einem genialen Kunstkniff mehrdeutig in den Roman hineingearbeitet: Es bleibt bis zuletzt unklar, wo ihre Ursprünge zu suchen sind. Sind sie Produkt der Verwirrung eines geisteskränkelnden Francisco Goyas wie es sich in den ersten beiden Teilen des Buches vermuten ließe? Oder treibt Goyas Furcht vor dem langen Arm der spanischen Inquisition dunkle Blüten? Handelt es sich bei Goyas Dämonen um paranoide Angstvisionen, die er, ein katholisch erzogener und geprägter Mann, gestalterisch nur in Form von bedrohlichen Dämonen aus der Hölle umzusetzen weiß? Festzustellen ist, dass die Visionen sich bei Goya immer dann verstärken, wenn er dem grausamen Wirken der spanischen Inquisition ausgesetzt ist. Das christlich-ikonographische Inventar der Hölle mit seinen mannigfaltigen Ausgeburten, wie es sich die katholische Kirche und ihre Inquisition durch das ganze Mittelalter hindurch stets zur Einschüchterung der Gläubigen zunutze gemacht hat, kehrt sich in Goyas Caprichos gegen die Kirche und die Mächtigen selbst. In diesem Sinne schlägt Goya die Kirche bewusst oder unbewusst mit ihren ureigenen Waffen. Die Dämonen Goyas sind zwar noch immer gemäß der christlichen Tradition gefallene Engel, die Gefolgschaft des Teufels; Goya – und mit ihm die spanische Gesellschaft – erkennt letztlich aber in den Vertretern des Klerus und des Adels die eigentlichen höllischen Dämonen wieder und begreift sie als Wurzel allen Übels.
Der „Goya“-Roman gleicht insgesamt einem riesigen Goblin-Wandteppich, wie er für den Repräsentationsraum in einem spanischen Herrschaftssitz wie Escorial gefertigt worden sein könnte. Liebevoll gewoben und geknüpft zeigt er wie die Handlungsstränge und das Personal des Romans miteinander verwoben und verknüpft sind. Thomas Mann sprach nach seiner Lektüre von einem „düster glänzenden Riesengemälde“, das Feuchtwanger hier entworfen hätte. Der Roman hat seine Längen, in denen der Leser seinen Atem beweisen muss. Der eigentliche Höhepunkt des Romans, die Anklage Goyas durch das Heiligen Offizium, der sich allerdings als spannendster Teil des Buches liest, ist leider nur Gegenstand der letzten 40 Seiten. Die Beschreibung der Genese einzelner Werke und die Bildbesprechungen ziehen den historisch- und kunstinteressierten Laien jedoch in ihren Bann. Sie ermöglicht ihm durch Feuchtwangers farbenprächtige, adjektivreiche Sprache, sich die Bilder sehr detailliert vorzustellen, so dass der Roman einem streckenweise zu einem Besuch in einer Kunstausstellung gerät. Mit dem historischen und psychologischen Hinterbau zu Goyas Werk, der Verknüpfung von persönlichem Schicksal und Spaniens Geschichte, gelingt es Feuchtwanger, dem Leser ein Eintauchen in eine dreidimensionale Welt zu ermöglichen.
Der Autor zeigt auch in diesem Roman wieder seine Vorliebe für geschichtliche Umbruchs- und Umwälzungssituationen, deren weltanschauliche Konflikte vom individuellen ins historisch-allgemeine aufgeweitet werden können. Als der Roman 1951 in den USA erschien, wurde er von der Leserschaft begeistert aufgenommen. Die Implikationen waren damals vielleicht deutlicher als sie es dem heutigen Leser sein können: Die spanische Gesellschaft in „Goya“ wurde sechs Jahre nach Kriegsende als Allegorie auf die Zustände in Deutschland im Nationalsozialismus verstanden. Für diejenigen, die von der Kommunistenhatz der McCarthy-Ära betroffen waren, – auch Feuchtwanger gehörte dazu -, waren auch die Parallelen zu den Methoden der spanischen Inquisition augenscheinlich.

Klabund – Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

Das ist die wohl ungewöhnlichste Literaturgeschichte, der ich je begegnet bin. Der Titel ist nicht übertrieben. Allerdings habe ich es nicht in einer Stunde lesen wollen. Klabund kommt einem vor wie ein Kind, das vor einer Kiste mit Spielzeug sitzt und fasziniert in die Kiste greift, eine Puppe, eine Spielzeugauto oder sonst etwas zu fassen bekommt, es für einen kurzen Moment intensiv mustert, sich ein Urteil bildet und das Spielzeug zu anderen in einen Setzkasten stellt.
Die Geschwindigkeit, mit der Klabund durch fast 2000 Jahre deutscher Literaturgeschichte fegt, lässt einen schwindeln. Es ist kein Buch für einen, der sich einen schnellen Überblick über die deutsche Literaturgeschichte verschaffen möchte, dafür ist es einfach zu kurz (Lessing bekommt 2 Seiten, Goethe immerhin 7, Thomas Mann ganze 4 Zeilen). Man muss sich schon auskennen, um Klabunds Urteilen folgen zu können. Wie Tuschezeichnungen stehen sie vor dem Leser. Mit wenig Strichen aufs Papier geworfen, voll starker Kontraste bleiben sie dennoch nicht farblos. Klabund ist in der Lage seine Sprach auf engstem Raum ins Schwärmerisch-Pathetischezu treiben und wieder zurück zum Sachlich-Abwägendem. Zünftige Literaturwissenschaftler begegnen diesem Werk als Beitrag zur Literaturgeschichte wohl im besten Fall mit einem wohlmeinenden schulterzuckendem Lächeln. Als ein Stück Literatur begriffen werden sie diesem Büchlein wohl ihre Achtung nicht versagen können.
Vielleicht ist dieser schmale Band die ehrlichste aller Literaturgeschichten. Sie ist bis ins Mark subjektiv, erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder wissenschaftliche Akuratesse. Und sie vermittelt, was keine Literaturgeschichte geben konnte, die ich bislang gelesen habe: Freude an und tiefe Liebe zur Literatur.
Und genau deshalb ist sie trotzdem bestens für die geeignet, die Literatur als öde Schullektüre kennengelernt haben oder mit immergleichen Krimis nach der Langeweile schlagen.

Wikipedia

Wütend schreibe ich diese Zeilen. Wütend über die Qualität des Wikipedia-Artikels zum Faust II. Wenn ich bedenke, dass heutzutage jeder Schüler zu allererst bei Wikipedia vorbeischaut, wenn er ein Referat oder eine GFS oder sonst etwas zu erstellen hat, dann kann einem richtiggehend schwarz vor Augen werden.
Wenn bei Wikipedia schon Mist steht, wie sollen dann andere, die den bei Wikipedia bereitstehenden Inhalten blind vertrauen, noch sinnvoll damit arbeiten können.
Wikipedia leistet leider dem Rechercheverhalten der meisten jüngeren und nicht mehr so jungen Menschen Vorschub, indem es sofort glaubwürdige Informationen zu liefern scheint. Wer bei Wikipedia etwas gefunden hat, sucht nicht mehr weiter. Blind werden Inhalte übernommen, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie selbst gedanklich zu durchdringen. Das gilt natürlich nicht allein für Wikipedia, das gilt, und das ist umso bedenklicher, auch für das übrige Netz.
Da ich Wikipedia aber für ein herausragendens Experiment mit kaum zu überschätzender Bedeutung für die gesamte Organisation der Wissensbestände der Menschheit halte, fordere ich hiermt alle, die hierauf stoßen auf, sich im Rahmen ihrer Kenntnisse bei Wikipedia zu beteiligen.
Ich folge meinem eigenen Appell und habe mich entschlossen, an dem Artikel zu Goethes Faust II mitzuarbeiten. Der Abschnitt zur ersten Szene des 5. Aktes stammt von mir.
Ich schließe, ein wenig beruhigt, mit der Bitte, mich mit Kritik bezüglich der Wikipedia-artikels nicht zu schonen.

Punktum! – Gedanken rund ums Lesen II

Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins?

Einen Moment sollte man noch bei diesen Urspüngen verweilen.
In einer Welt, in der der Mensch zu sich selbst kommt, ist er noch weit entfernt von dem naturbeherrschenden Wesen, das er heute zu sein glaubt. Er ist in der frühen Zeit noch so mit der Natur verbunden, dass er noch nicht einmal dem Nahrungskreislauf von Fressen und Gefressenwerden vollständig und auf Dauer entrinnen konnte. Bißspuren auf den Schädeln unserer Vorgänger zeigen den frühen Menschen als Beute, als Gejagten.
In einer gefährlichen, bedrohlichen, feindlichen Umwelt, der er weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, muss der Mensch, um überleben zu können, Fähigkeiten entwickeln, den alltäglichen Gefahren erfolgreich zu begegnen, ihnen auszuweichen, sie schließlich zu überwinden.
Die Evolution schenkt auch den Schwachen Möglichkeiten sich zu wehren. Uns aber sind keine Flügel gewachsen und wir können uns nicht farblich unserer Umwelt anverwandeln. Unsere Flügel sind die Phantasie und die Kreativität, der Verstand unsere Tarnung.
Mithilfe dieser Fähigkeiten ist es dem Menschen möglich, seiner Welt Struktur zu geben. Das namenlose Schrecken, die unbenennbare Gefahr, werden erkannt. Der Mensch gibt dem Unbennbaren Namen, er nimmt ihm dem Schrecken und macht sich selbst Mut. In Benennung und Verknüpfung der namenlosen Phänome der Umwelt liegt der Keim aller Erzählung.
Aber dieser Prozess des geistigen Durchdringens der schrecklichen Welt kann nicht in ihr selbst geleistet werden, denn die Gefahren bestehen weiter. Erst in einer Umgebung, die den notwendigen Schutz gewährleistet, kann der Mensch diesen Prozess in Angriff nehmen. Nur dort, in der Abgeschiedenheit der Höhle, am sicheren Lagerfeuer in der Nacht, können Begriffe, Namen, Beobachtungen des Tages in eine sinnvolle Form gebracht werden. Erst der gefahrlose Schlaf ermöglicht ein freies Spiel der Phantasie im Traum. Hier gibt der Mensch seiner Umwelt Sinn.
Erst wenn die schreckliche Welt sich vom sicheren Lagerfeuer in die Nacht zurückzieht, kann der Mensch das Außen in Form von Geschichten reflektieren.
Die Genese von Geschichten ist zu allererst ein metaphorischer Akt zur Sicherung des Überlebens.
Und möglicherweise fällt der Beginn des Menschseins mit dem Beginn der reflektierenden Weltaneignung in Form von Geschichten zusammen.

Punktum! – Gedanken rund ums Lesen I

Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins? Zu welchem Ende zieht sich der Mensch zurück in die Einöde einer Bibliothek und sitzt dort abwesend, über büchern gebückt, in andere welt vertieft, fern des farbenfrohen lebens und treibens der strassen und der kneipen? Eine mögliche Antwort ist vielleicht in dem Umstand zu suchen, dass jede geschichte ein ende hat; ein schluss, der unmissverständlich der welt, die sich dem leser für die dauer des lesens eröffnet, ein ende setzt und kein Weiter zulässt. Im gegensatz zum leben des menschen, das man zwar in zäsuren, lebensabschnitten, perioden und epochen denken kann aber keinesfalls muss, sind geschichten für den menschen eine abgeschlossene Entität, ein vollständige Einheit, eine vollständige welt, in der es nur eine bestimmte Anzahl von Worten, ein bestimmtes Personeninventuar und eine festgelegte, unveränderbare Handlung gibt. Das Leben des Menschen hingegen plätschert dahin und geht weiter, irgendwie, hat oftmals einen mangelnden Spannungsbogen, vielzuviel Personal, zuweilen schlechtes, desweilen zuviele verwirrende Handlunsgstränge, die ins nichts führen oder einfach sinnlos sind. Das Leben muss sich dem Lebenden aus diesem Grund einer abschließenden sinnvollen darstellung und folglich einer vollständigen rationalen durchdringung entziehen. Will der lebende Mensch sein Leben und seine Lebenswelt verstehen, so braucht er wohlgeformte geschichten, seien sie fiktive oder reale Auszüge des Lebens, die Licht auf das geschehen werfen, in denen er eine perspektive auf sein leben und somit zu einer Interpretion, zu einem Verständnis der Welt gelangen kann. Nur dadurch, dass nach dem letzten Satz einer Geschichte ein Punkt steht, vermag der Mensch die Geschichten als ein Instrument zum Weltverständnis und, denken wir weiter, als Planspiel, zur Hanlungsorientierung gebrauchen. Punktum!
meint Iwan Jakowlewitsch

In einem andern Land / Farewell to Arms

Hemingway ist der Meister eines bedeutungsschwangeren, kargen Minimalismus. Das zeigt er auch in diesem Roman aus dem Jahr 1929 wieder sehr eindrücklich. Genau wie ein Meister der Feder- oder der Kohlezeichnung es vermag, mit einigen wenigen Strichen, ein Setting oder eine Charaktere auf das Papier zu bringen und mit dieser Momentaufnahme eine ganze Geschichte erzählt, so schafft es Hemingway in wortkargen Schilderungen und Dialogen meisterhaft, die psychologische Tiefgründigkeit seiner Helden und Geschichten auszuloten. Bekannt ist auch Hemingways eigener Vergleich seines Schreibstils mit einem Eisberg, von dem nur ein kleiner Teil sichtbar ist. Die eigentliche Kraft, die Wucht der Erzählung verbirgt sich unter dem Nicht-Gesagten, unterhalb des Meeresspiegels im Roman – Der Protagonist des Romans, Frederic Henry, ist ein amerikanischer Soldat, der im ersten Weltkrieg an der italienischen-österreichischen Front als Krankenwagenfahrer arbeitet. Henry ist ein Held, wie man ihn von Hemingway erwartet. Noch im Schützengraben, während schon rechts und links neben ihnen die Granaten detonieren, entkorken Henry und Kompagnons die Rotweinflaschen, packen den Parmesan aus und reiben ihn über die kalte Pasta. Wenige Sekunden später sind sie durch eine Bombenexplosion tot oder lebensgefährlich verletzt. Henry, der Fleischwunden an beiden Beine und ein zertrümmertes Knie davonträgt, sucht seine Kollegen und kommentiert das Erlebte wie eine Figur aus dem Bruce-Willis-Repertoire mit lakonischen und höhnischen Sprüchen. – Hemingway zeichnet mit Henry das Bild eines Mannes, der durch die Erlebnisse des Krieges emotional abgestumpft ist und dessen Reaktionen auf den Tod von Kameraden gemäß dem militärischen Verhaltenscodex in Kriegszeiten nur mit einem kurzen Salutieren und einem Wermutschnaps gedacht werden kann. Ein Ende des Krieges ist nicht absehbar, die Bewegung an der Front stagniert, abgesehen von einzelnen Übergriffen; Soldaten bestellen bereits Felder mit Kartoffeln oder geben sich hemmungslosen Alkoholexzessen hin. Die einzigen Gestalten des Roman, die noch kriegsbegeistert und voller Elan an die Front ziehen und kämpfen, werden beschrieben als junge und unvernünftige Greenhorns. Mit der Explosion und der Verletzung tritt die schottische Krankenschwester Catherine in das Leben des verwundeten Helden, die ihn hingebungsvoll pflegt. Die Geschichte seiner Rekonvaleszenz ist zugleich die Geschichte der Liebe zwischen den beiden und Henrys allmählichem Rückzug aus dem Krieg. Die Abkehr von der Front und dem militärischen Heroismus geschieht jedoch nicht aufgrund einer aufflammenden pazifistischen Gesinnung, sondern ist eher einer Kriegsmüdigkeit zu verdanken, die den Helden dazu verleitet einen Privatfrieden zu schließen. Die Liebe zwischen Henry und Catherine ist durchaus echt und erscheint nahezu als übertrieben und idealisiert. Vor dem Hintergrund von Henrys ständiger Sauferei und den ständigen Nachrichten von der Front, die der Liebesgeschichte den schalen Beigeschmack liefert, wird deutlich, wie innerlich kaputt die Generation dieser Kriegshelden eigentlich ist; Es ist die verlorene, psychisch gebrochene Generation, die „generation perdue“, wie sie Gertrude Stein einmal gegenüber Hemingway bezeichnete und die gezeichnet ist von der Sinnlosigkeit des Krieges. Nicht einmal die Liebe vermag Henrys innere Kriegswunden zu heilen. Catherine, seine Alternative zum Schlachtfeld, stirbt im Kindsbett. Dass Henry schließlich auch auf dem Feld der Liebe besiegt wird und sich in die nächste Kneipe zum nächsten Wehrmut oder wieder in den nächsten Krieg trollt, transportiert diejenige Lehre, die Hemingway seinen Helden immer wieder mit unbarmherziger Härte zu vermitteln sucht: Das Leben hat keinen tieferen Sinn und kann den Lebenden jederzeit und auf allen Spielbrettern gleichzeitig matt setzen.

Das Bildnis des Dorian Gray

Klar, die Story ist klasse, Dandytum, Kunstkritik, der zweifelhafte moralische Zustand der feinen englischen Gesellschaft, das Narzissmotiv etc., etc.
Die eigentliche Hauptfigur ist aber wohl Dorians Freund Lord Henry. Dieser hat ihn mit dem tödlichen Gift, gemischt aus Zynismus, Kunstgenuß, Entwertung der Moral, inifiziert, ein geheimnisvolles Buch liefert nur erste Muster, die der arme Dorian begierig nachahmt. Lord Henry fasziniert, vor allem durch seine grandiosen Aphorismen, deren Grundmuster das Paradoxon ist. Jeder einzelne steht für sich, glänzend und prachtvoll, gefährlich, scharf wie ein Damaszenerdolch. Ein Zynismus, soweit ins Extreme formuliert, dass er die Grenze zur Menschenverachtung mehr als einmal überschreitet.
Ein Mann, der solche Grundsätze nicht nur um des Effektes wegen formuliert, sondern, wenn auch nur zum Teil, danach lebt, ist gefährlich. Vor allem für andere. Dieser amoralische Zynismus ist Schuld am Schicksal von Dorian Gray. Verführt durch eine kranke Ideologie, die im Grunde genau das Gegenteil einer Ideologie ist, und eine dekandente, verantwortungslose Belanglosigkeit des gesellschaftlichen Lebens lädt Gray große Schuld auf sich, reißt andere ins Verderben, nach außen geschützt durch makellose Schönheit.
Aber nach Innen gibt es keinen Schutz, zumindest keinen dauerhaften. Kein Versteck, kein Vorhang, kein altes Zimmer unterm Dach und kein Portrait trägt deine Sünden. Sie zeigen sie dir nur, erinnern dich an sie. Sie gehören zu dir, ob du willst oder nicht. Diese Einsicht kommt für Dorian Gray zu spät.
Der Versuch, die Symbole seiner Verfehlungen und seiner Sünden zu vernichten, muss in Selbstzerstörung enden. Die Leiche des toten Maler konnte er restlos verschwinden lassen, seine Verantwortung dafür nicht.
Dorian Gray wähnt sich durch ein Buch vergiftet, das ihm Lord Henry gab. Ich glaube, das ist ein Irrtum.
Literatur kann heilen, sie vergiftet nicht.

Klabund – Borgia. Roman einer Familie

Durch den Tip eines Freundes bin ich auf diesen Roman von Klabund gestoßen, den man wohl mit Recht als vergessen bezeichnen kann, denn in keinem der großen Taschenbuch Verlage wird er momentan verlegt. Ich kannte bislang lediglich ein paar Gedichte von Klabund, von seinem Prosawerk war mir aus eigener Erfahrung nichts bekannt. Es war nicht einfach, eine Ausgabe des Borgia-Romans aufzutreiben, aber schließlich konnte ich eine beschaffen, die glücklicherweise auch noch mit Kupferstichen ausgestatten ist.
Es ist ein kurzer Roman, aber einer voller Kraft. All der Flitter, den man in historischen Romanen, vor allem populärhistorischer Art, findet, ist nicht vorhanden, kein historisches Kolorit, das irgendeine vergangene Epoche doch so lebhaft und angeblich authentisch vor unseren Augen erscheinen lässt, stört.
Im Prolog präsentiert sich der Erzähler als Supplikenreferent, der eben nur referieren, also nur das Wichtige mitteilen will. Und so ist der Roman reduziert auf die wichtigsten Begebenheiten, Legenden, Anekdoten aus denen sich die Geschichte jenes, in ihrem politischen Handeln abstoßenden, Geschlechts, das aber durch den dekandenten, jede Moral hinwegfegenden Lebenswandel auf gruselige Art fasziniert.
Atmosphäre, Gefühl, Dramatik, entsteht in diesem Roman allein aus der Kraft der Sprache. Einfach, ohne banal zu sein, in dieser scheinbaren Einfachheit unglaublich wandelbar wechselt der Ton von den schwärmerisch drohenden Worten eines Savonarola zu dem kalten, zynisch- ironischen Tonfall eines Alexanders VI. oder eines Cesare Borgia. Die Geschichte der Borgia mag bekannt sein, ihre Grausamkeit, ihre Intrigen und politischen Winkelzüge, ihre Ruhmsucht ebenso. Die beinahe pathologische Leidenschaft, die dieses Geschlecht groß gemacht und gestürzt hat, steht im Zentrum des Romans.
Die tragische Vergeblichkeit aller Mühen, die Sinnlosigkeit aller Intrigen, Meuchelmorde, Gesetze, Orgien, Bestechungen im angesichts einer blinden, wenn überhaupt existierenden Vorsehung steht an seinem Ende. Der letzte Borgia findet keine Aufnahme im Himmel und keinen Zutritt zur Hölle.
„Zwischen Himmel und Hölle, nirgends beheimatet, irrt ruhelos umher der letzte Borgia.“

Protesilaos

Was bleibt von Protesilaos übrig, wenn man die Achaier in seinem Rücken, die Trojaner vor seinen Augen wegnimmt?
Nichts als ein Mann, der auf einen fremden Strand tritt und nicht weiß, was ihn erwartet.

Goya

Es gibt sehr viele Künstlerromane, ja vielleicht ist der Künstlerroman sogar eine eigentliche deutsche Form des Romans, der seine kräftigsten Wurzeln in Goethes Tasso hat, einem Drama, dessen Held gerade an der Unvereinbarkeit der höfischen Umwelt mit der eigenen autonomen Künstlerexistenz zerbricht. Diese Grundthematik, das Leiden des Künstlers an der Welt ist, wenn auch sehr verschieden gestaltet, ebenfalls Thema von Goyas Künstlerroman „Goya oder der arge Weg der Erkenntnis“. Doch sind es hier die eigenen „Dämonen“, die den Künstler Goya aus der Welt reißen, ihm die Augen über das wahre Gesicht der Welt öffnen und ihm so wieder einen Weg zurück in die Welt zeigen.
Von der Inquisition und der höfischen Etikette bedrängt, blüht, ja wuchert eine bisweilen hemmungslose Emotionalität, die sich im Künstler Goya vor allem in seiner heftigen Leidenschaftlichkeit für die Herzogin von Alba zeigt, die neben der erotisch-liebvollen Seite auch eine dunkle, grausame, Seite hat, sich speisend aus einer tiefverwurzelten mittelalterlich-abergläubischen Religiosität. Insofern malt Feuchtwanger sowohl Goya als auch die Alba als archtypische Ausprägung des spanischen Menschen an der Zeitenwende der franzöischen Revolution. Um diese beiden kreist ein, für Feutchwanger vor allem im Vergleich mit seinem Roman „Erfolg“, relativ kleiner Zirkel von Personen, die alle untereinander in einer Verbindung stehen, dessen Zentrum der königliche Hof um den gutmütig-dummen Karl IV. und dessen gerissene Gattin Maria Luisa bildet.
Viel enger als in seinen anderen Romanen sind die Beziehungen dieser Personen untereinandern, von daher bleibt der Roman hinter anderen wie Erfolg oder Exil zurück. Was dort aber reizvoll war, würde hier nur stören. Im Vordergrund stehen hier die Kunstwerke Goyas und die Umstände ihrer Entstehung, wobei man hier keine historische Authentizität erwarten darf, wie man es aber im Hinblick auf Feuchtwangers Theorie des historischen Romans ohnehin nicht tun sollte.
Die Genese der verschiedenen Bilder sind die Höhepunkte in diesem Roman. Entsprechend der Einteilung des Romans in drei Bücher stehen drei Werke im Vordergrund. Als erstes die „Familie Karls IV.“, dann die „nackte Maja“ und zum Schluss der Zyklus der „Caprichos“. Diese drei Werke bezeichnen gleichzeitig die drei Problemkreise des Romans: Goyas Aufstieg in der Welt des Hofes, die an Selbstzerstörung grenzende Leidenschaft für die Herzogin von Alba, und schließlich der Triumph der Kunst über das reaktionäre System von Hof und Inquisition. Alle drei Werke sind Posaunen des Untergangs einer Welt, deren fundamentale Umwälzungen am Ende des 18. Jahrhunderts im ersten Kapitel des drittes Teils des Romans auf ein paar Seiten auf grandiose Weise dargestellt werden.
Besonders bemerkenswert bliebe noch eine Auffälliglkeit des Romans. Am Ende eines jeden Kapitels wandelt sich die Prosa in freudig zugreifende Trochäen, den Inhalt einerseits verdichtend, andererseits verdichtend parodierend und kommentierend. Eine grandiose Idee, die dem farbigen Kolorit des Romans wunderbar entspricht.

Lotte in Weimar 2. Teil

Der Roman ist ein Gesellschaftsroman in bester Dostojewski`scher Manier. Ausgedehnte, geschliffene Dialoge, präzis gezeichnete Figuren, wie man das von Mann ja schließlich auch gewohnt ist. Der Höhepunkt mag den Leser vielleicht enttäuschen, Goethe und Lotte verkehren nur im Rahmen eines gut besuchten Mittagsessens miteinander, von Goethe genau zu dem Zweck eingerichtet, um nicht mit der alten Freundin die alten Zeiten heraufbeschwören zu müssen.
Man mag sich dafür im letzten Kapitel entschädigt sehen, als Lotte in Goethes Kutsche auf dem Heimweg vom Theater diesen halb wach halb träumend neben sich sitzen fühlt. Im Reich des Imaginären findet dann das von Lotte (und auch vom Leser?) erwartete Gespräch in beinahe intimer Vertrautheit statt. Allerdings erscheint der alte Freund in diesem Gespräch nur durch seine eigenen Werke vermittelt, ein Zeichen für die unüberbrückbare Distanz zwischen beiden. Goethes Person ist hinter seinem Werk verschwunden, er ist, wie er es auch selbst einmal gesagt hat, sich selbst historisch geworden.
Dasselbe gilt für Lotte allerdings in eher tragischem Sinne. Von ihrer Umwelt auf die Lotte Werthers reduziert bleibt ihr nichts anderes übrig als gerade in der literarischen Person sich selbst zu manifestieren. Gelegentliche Verweise auf ihr mehr oder weniger erfülltes Leben, ihre reale Existenz, sind als verzweifelte Auflehnung gegen die Tendenz der literarischen Legendenbildung zu werten.

Lotte in Weimar

Nicht allein aus beruflichen Gründen habe ich in den letzten Wochen zur Entspannung Thomas Manns Roman „Lotte in Weimar“ gelesen, sondern vor allem deshalb, weil ich den Ton Manns vermisst habe.
Dieser Roman gehört sicherlich nicht zu seinen größten, aber er ist, vor allem für einen, der sich mit Goethe beschäftigt, doch ein spannendes Kleinod. Thomas Manns Talent und seine Freude an der leisen Ironie wird man sofort gewahr, sobald man auf den ersten Seiten dem unterwürfig servilen Hotelangestelten Mager in Berührung begegnet, der in seiner, dem Ort angepassten literarischen Schwärmerei, Lotte ein ums andere Mal auf die Nerven geht.
Höhepunkt des Buches ist in meinen Augen nicht das Essen, bei dem dann die beiden alten Freunde nach 40 Jahren wieder aufeinandertreffen, sondern vielmehr der ausgedehnte innere Monolog des Olympiers im 7. Kapitel. Nur einem Goethe ist der Ton dieses Monologes zuzutrauen, von daher hat ihn Thomas Mann auch korrekt gestaltet. Wer sich schon ein wenig mit Goethe beschäftigt hat, wird einiges wiedererkennen, was er in Briefen, Dichtung und Wahrheit, Eckermanns Gesprächen (auch wenn diese erst Jahre später einsetzen) und nicht zuletzt in zahlreichen großen und kleinen Werken gelesen haben mag.
Innerhalb dieses Kapitels beeindruckt vor allem der angesichts eines bevorstehenden Maskenumzugs in eine Art kreativen Rausch verfallende greise Dichter, der einen Plan des „barocken“ Maskenfests im ersten Akt seines Faust 2 imaginiert, während Sohn August unverständig auf die Undurchführbarkeit des vom Vater vorgestellten hinweist. Das Beispiel erinnert an eine Stelle aus den Gesprächen mit Eckermann, in der der treue Freund überliefert, wie Goethe aus dem Stegreif den Plan der Oper „Moses in Ägypten“ von Rossini nicht nur kritisiert, sondern entwirft auf der Stelle einen neuen: Goethe fuhr fort mit großer Heiterkeit die ganze Oper Schritt für Schritt durch alle Szenen und Akte auzubauen, immer geistreich und voller Leben, […], und zum freudigen Erstaunen der ganzen Gesellschaft, die den unaufhaltsamen Fluß seiner Gedanken und den heiteren Reichtum seiner Erfindungen zu bewundern hatte.“ (Gespräch vom 7.10.1828).

ist fortzusetzen…

Motto

Es sei diesem weblog als Motto das Lied des Türmers Lynceus aus dem fünften Akt des 2. Teils von Goethes Faust (V. 11288ff.) vorangestellt:

Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen
Gefällt mir die Welt.
Ich blick in die Ferne,
Ich seh in der Näh,
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh ich in allen
Die ewige Zier
Und wie mir’s gefallen
Gefall ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehen,
Es sei wie es wolle,
Es war doch so schön!

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