Rheinabwärts III

Heute mal was sentimentales. Dieses kleine Gedicht ist von 2002. Die letzte Strophe aus dem März 2003. Also dann:

Rheinabwärts III

Wär´ ich ein Blatt im Herbst und
stürzt´ von bunten Bäumen in den Rhein
ich müsste zu Dir treiben
und könnte nichts dagegen tun

Knut Hamsun – Mysterien; Nachruf auf einen Unbekannten

Johan Nils Nagel, wenn das überhaupt sein richtiger Name ist, denn eine geheimnisvolle Fremde nannte ihn Simonsen, kam eines Tages in ein verschlafenes Nest an der Küste von Norwegen. Er trug einen grellgelben Anzug, einen Geigenkasten unter dem Arm und ein Fläschchen Gift in der Westentasche. Er stieg im besten, und wohl auch einzigen Hotel des Ortes, dem Zentral, ab, und warf mit Geld um sich. Was hatte er hier zu tun? Man weiß es nicht. Vor kurzem hatte sich in der Gegend ein junger Mann aus Liebeskummer umgebracht (oder war es doch nur ein tragischer Unfall)? Nagel zeigte ein besonderes Interesse für diesen Fall. Er bot dem Dorftrottel viel Geld an, wenn er sich bereit zeigen würde, die Vaterschaft für ein Kind anzunehmen, lies das Thema aber unerklärt nach der Weigerung des armen Mannes fallen.

Nagel hegte offenbar Sympathie für diesen Mann, mit dem der ganze Ort seine grausamen Späße trieb und den man Minute nennt. Nagel griff ein, als ein augeblasener Assessor seinen Spaß mit Minute treiben wollte, er steckte Minute Geld zu, besorgte ihm einen neuen Mantel und kümmerte sich um weitere Kleidungsstücke, die man Minute einst versprochen hatte.
Wußte Nagel mehr als er verraten hat? Seine zahllosen Geschichten, die oft bis ins märchenhaft Groteske reichten, hinterließen nicht immer nur gute Laune und Ratlosigkeit bei den Bewohnern des Städtchens. Manchmal meinte man geheime Andeutungen herauszuhören, die ahnen ließen, dass Nagel mehr wußte als, als er zugeben wollte. War er hier, um den Tod des jungen Mannes zu rächen? War er gekommen, um dem drangsalierten Miunte zu seinem irgendwie gearteten Recht zu verhelfen?
Man weiß es nicht und man hat es nie erfahren. Nagel war ein Mann, der niemals greifbar war. In seinem Geigenkasten befand sich nur dreckige Wäsche. Entsprechend behauptete er, nicht Geige spielen zu können, bis er es, zur großen Überraschung aller dann doch tat. Man glaubte, er sei ein reicher Mann, bis er erzählte, die Briefe, die von seinem Vermögen berichteten, selbst andernorts aufgegeben zu haben. Er liebte Dagny Kielland, gestand ihr seine Liebe, verfolgte sie, stromerte nachts um ihr Haus. Gleichzeitig aber gestand er auch der alternden Martha seine Liebe. Er kümmerte sich um Minute, bedachte ihn mit großzügigem Wohlwollen, bis er ihn des Mordes an dem jungen Mann verdächtigte.
Alles, was Nagel sagte oder tat, hob er selbst wieder auf. Er blieb ungreifbar, ein Gespenst in einem gelben Anzug. Nagel war ein Mensch ohne Mitte. Das war die einzige Konstante. Im Lauf der Zeit verschlechterte sich allerdings seine Befindlichkeit zusehends. Er verfiel in Depressionen, konnte keine Treppe hinaufgehen, ohne sich nach jedem Schritt änsgtlich umzublicken. Ihn plagten namenlose Ängste. Eines abends rannte er aus seinem Zimmer hinunter zum Hafen und sprang ins Meer. Seine Dämonen hatten ihn eingeholt und besiegt.
Seine Geschichte endet mit dem kurzen Rückblick der beiden Damen, die Nagel einst liebte. Sie erinnerten sich an Nagel wie an einen belanglosen Streit zwischen zwei Fischweibern. Nagels Anwesenheit hatte keine Folgen gehabt, die Erinnerung an ihn wird zum Klatsch, bevor man ihn ganz vergessen wird. Andeutungsweise erfuhr man von Dagny und Martha noch, dass Minute doch etwas Schlimmes getan haben musste. Hat sich Nagels Verdacht bestätigt?
Sollte Nagel irgendeinen geheimen Plan gehabt haben, so konnte er ihn nicht ausführen. Das Leben im Dorf ging seinen Gang. Die Wellen, die Nagels Anwesenheit geschlagen hatte, brachen sich an einem kleinbürgerlichen Beharrungsvermögen, liefen aus am kahlen Strand der Spießbürgerlichkeit.
Nagel hatte keinen geheimen Plan. Er suchte sich selbst. Nichts konnte ihm auf Dauer Befriedung verschaffen.
Liebe und Hass, Wohlwollen und Argwohn, naturmystische Erfahrung und Alkoholexzess, nirgends fand er einen Angelhaken, um damit im blauen Himmel zu fischen, wie er selbst es beschrieben hat. In der Abgelegenheit des norwegischen Fischerdorf wollte er sich selbst finden. Das hat er nicht geschafft. Im Kampf gegen die eigenen Dämonen unterlag er. Kurz vor seinem Tod warf er einen eisernen Ring, den er stets am Finger trug, in Meer. Dieser Ring mag als Zeichen stehen für eine Gefangenschaft in sich selbst. Eine Gefangenschaft in einem Kerker hinter dessen Mauern nicht die Freiheit wartet, sondern der Tod.

Matt Elliott – Drinking songs

Manchmal weiß man nicht, was einem fehlt, bis es plötzlich vor einem steht. Man fragt sich dann, wie man ohne auskommen konnte. Genau so geht es mir mit der Musik von Matt Elliott. Als Teil der Third Eye Foundation ist er verantwortlich für einige recht passable, aber im Ganzen wenig auffällige Drum ’n‘ Bass Platten. Alleine geht er aber andere Wege. Wege, die weit ab von denen liegen, die er voher ging. Die Musik, die Elliott am seinem ersten Album präsentiert, ist irgendwo als „Post Folk“ bezeichnet worden. Es ist das ungewöhnlichste Album, das mir in den letzten Jahren in die Hände gekommen ist. Man könnte es als semi-akustisch bezeichnen, als eine Mischung aus Folk, Lenard Cohen, Fin de siecle und Ambient. Tiefe Trauer, dunkler Schmerz, stille Verzweiflung mischen sich mit bitterbösem Humor und beißendem Sarkasmus. Heraus kommt ein Album, das im herbstlichen Garten der Melancholie beginnt am Packeis der Depression zerschellt, mit der Kursk in schwarze Tiefen sinkt, um dort in einem hemmungslosen beinah 20 Minuten langem Stück feinster Drum ’n‘ bass Musik wieder ins Leben zurückkehrt. Der Titel dieses letzten Stücks „The Maid we messed“ weist durch die böse Homophonie auf das nächste Album „The Mess we made“.
Das zentrale Stück aber ist „The Kursk“. In leise, ruhige Klänge, in den verzweifelten Männerchor mischen Geräusche des untergehenden U-Boots: unter steigendem Druck stöhnenden Metall, vielleicht ein Wal, der das Sinken mit kaltem Auge und hohem Ton begleitet. Aber nirgends ein Knall, kein Krachen, kein Schrei. Das U-Boot versinkt in namenlosen, dunklen Tiefen. Als letztes Echo winkt der tote Chor dem Hörer zu, wie einst der tote Ahab auf dem Wal.
All die Qual, all der Schmerz, der die erste Hälfte des Albums prägt findet in diesem Titel seine Apotheose. Das Album ist an einer Grenze angekommen, hinter der kein Klang mehr möglich scheint. Die Musik kommt zum Stillstand. Sie schlägt ins Negative um. Elliott benutzt rückwärts abgespielte Beats. Die Musik löst sich auf.
Das Vergangene zerstört die Gegenwart. Aber aus diesen negativen Beats entwickelt sich langsam, Motive aus den vorigen Songs zögerlich aufnehmend ein kleines Rinnsal Musik, dessen seine Quelle der Stillstand war. Nach und nach wird aus dem zarten Neubeginn ein starker, mächtiger Fluss, das dunkle Geröll des Schmerzes und das alte Schilf der Melancholie fortreißt. Ungehemmt bricht sich alles Bahn, was vorher gestaut, verdrängt war, fließt in 20 min hinaus, hinaus in eine Ebene, die der mitgeführte Schlamm einst in eine fruchtbare, neue Landschaft verwandeln wird.

Paul Mercier – Nachtzug nach Lissabon

In einem Gespräch erwähntest du vor einen paar Wochen diesen Roman, den wir beide nicht kannten. Ich wollte ihn dir eigentlich zu deinem Geburtstag schenken. Da ich allerdings niemals Bücher verschenke, die ich selbst nicht gelesen habe, wer weiß, was man sonst für einen Mist verschenkt, habe ich den Roman also erst ein Mal selbst gelesen.
Raimund Gregorius, alternder Lehrer für Alte Sprachen an einem Berner Gymnasium, begegnet eines morgens auf einer Brücke einer portugiesischen Frau, die ihm mit einem Filzstift eine Telefonummer auf die Hand schreibt. Sie begleitet ihn durch den Regen ins Gymnasium, ja sie folgt ihm sogar in den Unterricht. Kurz darauf lässt G. alles stehen und liegen und verlässt mitten in der Stunde die Schule, um nicht mehr zurückzukommen. In einem Antiquariat entdeckt er ein Buch, verfasst in portugiesischer Sprache. Er entschließt sich, beeindruckt von dem Klang der Sprache und dem Bild des Autors, nach Lissbon zu fahren.
Dort stellt er bald fest, dass der Autor des Buches bereits seit 30 Jahren tot ist. G. beginnt nun Nachforschungen anzustellen. Er trifft alte Bekannte, Weggefährten, Freunde, Verwandte und Geliebte des merkwürdigen Autors. In zahlreichen Gesprächen werden die mitgeteilten Auszüge aus Amadeu Prados Buch gespiegelt, präzisiert. Interessanterweise besitzen fast alle alten Freunde von Prado irgendwelche Aufzeichnungen von ihm, die sie dem faszinierten, ja beinahe besessenen G. nicht vorenthalten. G. bricht in das Leben dieser Menschen ein und rollt die Geschichte des intelligenten, beliebten, aber auch extravaganten Arztes Amadeu Prado im Portugal der Diktatur wieder auf, was nicht allen angenehm ist. Er zwingt die Menschen alte, feste Mauern des Schweigens und Verdrängens einzureißen und sich der eigenen Lebensgeschichte in Bezug auf den grandiosen Prado erneut oder überhaupt zum ersten Mal bewußt zu werden. Ob dies allerdings eine Veränderung in den Personen um Prado bewirkt, darf man bezweifeln. Immerhin scheint es G. zu gelingen, die vollständig von dem Andenken an den geliebten Bruder eingenommene Schwester zeitweise aus ihrer pathologischen Verehrung des Bruders zurück in die Gegenwart, in das eigene Leben zu reißen (an der Beziehung der Geschwister dürfte ein Freudianer eine leise Freude haben). Und, wen wundert’s, auch der tatterige Altphilologe macht eine Veränderung durch, wenn auch eine, die ganz im Rahmen seiner bildungsbürgerlichen Existenz bleibt. Er lässt sich eine neue Brille machen, kauft sich einen neuen Anzug. Alles Äußerlichkeiten.
Dieses Buch ist kein „Bewußtseinskrimi“, wie der Klappentext verheißt. Es ist die Geschichte eines Mannes, der für eine kurze Zeit aus seinem eingefahrenen Leben ausbricht. Alles, was G. in Lissabon tut ist nichts anderes als die Fortsetzunh der Altphilologie mit anderen Mitteln. Die Orte, an denen sich Prado aufhielt werden G. zu sentimentalen Besichtigungspunkten, die Menschen mit denen er spricht degenerieren zu Querverweisen und entstehungsgeschichtlichen Belegen für den Haupttext Amadeu Prado.
Ich gebe zu, manch einen Satz aus Prados Aufzeichnungen sind dem Autor gelungen. Allerdings habe ich das mehr als dumpfe Gefühl, dass sich hier ein „schriftstellernder“ Universitätsprofessor seine eigene Autobiographie zurecht schustert, die neben den nachdenklich pessimistischen Bonmots, realisiert in Amadeu Prado und seinem Buch, auch eine sozusagen Autobiographie der verpassten Gelegenheiten bringt. Interessant bleibt nur die Auspaltung jener Autobiographie auf die G. und Prado.
Insgesamt wirkt der plötzliche Aufbruch des allzu biederen G.’s wenig bis gar nicht glaubwürdig, so sehr der Autor auch bemüht ist, diesen zu motivieren. Faszinierend, aber leider auch enttäuschend bleibt das Motiv der geheimnisvollen Fremden auf der Brücke, die G. eine Telefonummer auf den Arm schreibt. Sie dient nur dazu, G.s Aufbruch auszulösen. Ansonsten bleibt dieses hochgradig produktive Moment nicht nur fruchtlos, sondern im Grunde tot. G. wählt in Portugal nur einmal diese Nummer, legt aber gleich wieder auf. Wenn es so etwas wie tot oder blinde Motive in der Literatur gibt, dann ist Mercier hier ein besonders schönes Exemplar gelungen.
Ich bin froh, dir den Roman nicht geschenkt zu haben…

Fred Paronuzzi: Als wären wir schön

Dieses kleine Büchlein habe ich geschenkt bekommen, von jemandem, den ich kaum kenne bzw. der mich nicht im Entferntesten kennt. In diesem Umstand liegt vielleicht bereits das größte Problem. Die begleitenden Worte hierzu waren: „Du wirst es lieben!“ und „… eine schöne kleine, spritzige Liebesgeschichte mit Happy End.“. Das nächste Problem ist, ich lese solche kleinen spritzigen Liebesgeschichten grundsätzlich nicht! – und lese sie dann doch. Aus Höflichkeit. es bleibt einem aber dann auch nichts übrig, als dem geschenkten Buch auch ins Maul hinein zu schauen, sei´s auch noch so übel riechend, und dann zu begründen, warum es nicht gut riecht.
Von dem Autor hat man hierzulande noch nichts gehört und nichts gelesen. Dies ist sein erstes Buch, das aus der italienischen in die deutsche Sprache gefunden hat. Fred Paronuzzi ist ein 67er Jahrgang, Englischlehrer seines Zeichens, lebt in einem Bergweiler in den Savoyen und, ach ja genau, er schreibt Romane.
Einige Sätze zum Inhalt: Es gibt zwei Handlungsstränge. Im ersten Strang begegnet der Leser dem Protagonisten Jeremie, einem mittezwanzigjährigen Franzosen, der traumatisiert durch die Abtreibung seines ungeborenen Kindes, sich zu therapieren sucht. Hierzu nimmt er regelmäßig an der Schwangerschaftsgymnastik im Schwimmbad teil und unterzieht sich einer Kochtherapie bei einem gewissen Dr. Boo. Jeremie bekommt von dem Direktor einer Schule den Auftrag, eine Gruppe von Praktikanten in die USA zu begleiten, wo er diese herum chauffieren soll. An dieser Stelle treffen die beiden Handlungen und deren Protagonisten aufeinander. Rose ist die Protagonistin des zweiten Handlungsstranges. Der Erzähler beschreibt Rosa als eine frustrierte, chipsessende, fernsehende Mittevierzigerin aus Inglewood, Illinois. Sie ist geschieden von ihrem prügelnden, rassistischen Ehemann und hat die Hoffnung auf die wahre Liebe im Leben aufgegeben. Jeremie begegnet Rose, als er bei ihr als Untermieter einzieht. Trotz des Altersunterschiedes verlieben die beiden sich auf den ersten Blick, flüchten sich nach Atlantic City, wo sie heiraten und ihren Honeymoon gemeinsam verbringen.
Paronuzzi zeichnet die beiden Protagonisten seines Buches durch Einblicke in deren Alltag und deren merkwürdigen Angewohnheiten und Umfelder als isolierte, vereinsamte und traurige Zeitgenossen. Beide sind durch schwere Schläge des Schicksals geprägt und desillusioniert und wagen nicht, auf eine Trendwende zum Guten im Leben zu hoffen. Die tiefe Traurigkeit im Inneren der Figuren des Romans kontrastiert stark mit den vielen skurril-humorvollen Kleinigkeiten und Begebenheiten vor allem im Leben des Jeremie, die dem Leser gelegentlich ein nachdenkliches Schmunzeln abringen. Nicht ohne Witz und gut beobachtet ist die Episode mit Jeremie im Schwimmbad. Die Vergleiche und Bilder, die der Erzähler Jeremie bei der Beobachtung der Schwangerengymnastik anstellt, führen den Leser in die verträumte Welt des jungen Manns. Auch die Nebenfiguren unterstützen den Eindruck von geträumten Welten fernab der schwierigen Realität. Ein älterer, seniler Onkel Jeremies streut aus dem Kontext gerissene Erinnerungsbruchstücke an sein Leben in Afrika in die Gespräche und Situationen des Romans. Der träumerische Eskapismus beider Figuren, Jeremie und Rose, deren Begegnung und deren Liebe auf den ersten Blick inmitten skurriler Begebenheiten erinnert an den lieblichen und phantasievollen Jeunet/Caro Film „Amelie“. Nur die Umsetzung ist längst nicht so gelungen. Die Kommentare des Onkels geraten später im Buch zu einem schlechten, eher verstörenden „running gag“. Auch die Eindrücke, Gedanken und Situationen der Figuren hängen wie ein Flickenteppich aneinander. Die Übergänge von einem Handlungsstrang in den anderen sind mal fließend, mal sind sie klar abgehoben. Einerseits unterstreicht diese Machart die innere Verstörtheit der Protagonisten durch ein Trauma; andererseits scheint es dem Leser auch, als hätte der Autor seinen Text nicht wirklich im Griff. Einen inkohärenten, zerrissen Text zu verfassen mag zwar einen modernen Touch haben und auch in der Intention des Autors liegen, es kann allerdings auch als schriftstellerische Unfähigkeit ausgelegt werden. Der Verdacht, dass es sich bei diesem Buch um letzteres handelt, liegt hier leider näher.
Das Happy End gestaltet der Autor, indem er die verschrobenen, einsamen Persönlichkeiten zueinander finden lässt und diese sich, geradezu märchenhaft von der ersten Begegnung an lieben „als wären sie schön“. Der Titel besagt, dass nur diejenigen, die wirklich schön sind, sich auch wirklich lieben können. Die große hässliche Masse müsse es sich im Gefühlsrausch einbilden, schön zu sein, um in den Genuss der Liebe zu kommen. Auch bei der Titelwahl liegt die Vermutung nahe, dass der Autor nicht wirklich wusste, was er tut. Jedenfalls fehlt im Buch eine ausreichende Beschäftigung mit der Bedeutung des Titels.
Das Buch ist sehr kurz geraten. Man merkt am Layout, dass hier Luchterhand Mühe gehabt hat, den wenigen Text so zu strecken, dass es sich in Buchform pressen lässt. Auch, wenn einige Elemente originell sind, so fehlt es an einigen Ecken und Enden und man erwartet schlicht und ergreifend mehr und ein ausführlicheres Erzählen. Darüber hinaus wird man das Gefühl nicht los, dass Paronuzzi mit seiner USA-Schilderung anti-amerikanische Klischees bedienen will. Der Nachgeschmack insgesamt ist fahl und leicht bitter. Dass Paronuzzi mal einen guten Roman präsentiert ist nicht ausgeschlossen, dafür muss er jedoch noch etwas wachsen, lernen und vor allem noch üben, üben, üben…

meint Iwan Jakowlewitsch

In die Sprache zurück – Fragment zur Theorie des Unsagbaren

Das Grimmsche Märchen „Die Drei Männlein im Walde“ beginnt mit dem Satz, Es war ein Mann, dem starb seine Frau; und eine Frau, der starb ihr Mann; Die brutale Lakonik des Satzes macht betroffen, ja erschüttert. Der Leser mag sich schwer tun weiter zu lesen, der klare, parallele Aufbau und die einfache, keiner Schminke fähige, brutale Feststellung macht betroffen. Dem klaren Aufbau steht aber ein inhaltliches Paradox entgegen, wenn man stillschweigend annimmt, dass Mann und Frau in einer Verbindung zueinander stehen. Starben beide gleichzeitig. Gibt dieser Satz etwa einen Hinweis auf eine schreckliche Tragödie?

Gruß aus Weimar

Ich danke Dir für den Glückwunsch und grüße Dich aus Goethens Heimstatt Weimar. Habe mich anlässlich meines Wiegenfestes auf eine kleine Reise begeben und erfülle mir somit einen lang gehegten Traum. Heute stand das Goethe Haus im Frauenplan, das Gartenhaus und – kontrastierend dazu – der Besuch in Buchenwald auf meinem Tagesplan. Nun werde ich noch mit einigen Bauhausstudenten einen Humpen Köstritzer heben gehen. Ich hoffe, dass wir uns vielleicht am Wochenende begegnen. Dein Iwan Jakowlewitsch

Iwan zu Ehren

Für den heutigen Tag sei dir als Gruß das 18. Venetianische Epigramm von Goethe zugeeignet:

Eines Menschen Leben, was ist’s? Doch Tausende können
Reden über den Mann, was er und wie er’s getan.
Weniger ist ein Gedicht; doch können es Tausend genießen,
Tausende tadeln. Mein Freund, lebe nur, dichte nur fort!

Goya II

Lion Feuchtwanger hat 1951 mit „Goya oder dem argen Weg der Erkenntnis“ einen historischen Roman vorgelegt, der das Leben und Wirken des spanischen Malers Francisco de Goya y Lucientes zum Gegenstand hat. Eine Biographie und eine historisch korrekte Wiedergabe der Ereignisse in seiner Lebenszeit sind hierbei jedoch nicht entstanden. Feuchtwanger verändert die Geschichte, schichtet sie um, verändert ihre Reihenfolge an einigen Stellen so wie es ihm gerade für die Handlung zuträglich erscheint. Feuchtwanger ist bei der Bearbeitung seines historischen Materials selbst schaffender Künstler: Er verändert, formt, gestaltet neu und versucht dadurch, der Aussage des Textes zur größtmöglichen Geltung zu verhelfen und seinem zentralen Thema die schärfsten Konturen zu verleihen.
Das Anfangkapitel erläutert in deutlichen Worten die Grundproblematik und die Situation Spaniens am Ende des 18. Jahrhunderts und lässt das Konfliktpotential für den Roman bereits erahnen: „Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der iberischen Halbinsel … dauerte es fort.“. Europas Angesicht ist durch die Beben, welche durch die Aufklärung und die französische Revolution verursacht wurden, grundlegend verändert worden. In Spanien hält sich jedoch das Königsgeschlecht der Bourbonen weiterhin auf dem Thron, regiert scheinbar unbeeindruckt in verschwenderischer Manier und ungeachtet jeglicher existentieller, finanzieller und politischer Nöte des Landes. Über allen schwebt bedrohlich, gleich einem Damoklesschwert, die Inquisition der katholischen Kirche und verbreitet Angst und Schrecken.
Feuchtwanger gestaltet den Roman und seinen Protagonisten auf eine Art und Weise, welche über die Figur „Goya“ hinausweist auf den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Am Leben und Wirken Goyas, an seiner allmählichen Persönlichkeitsentwicklung hin zu einem Künstler mit politischem und gesellschaftskritischem Bewusstsein, vollzieht Feuchtwanger exemplarisch den paradigmatischen Umbruch innerhalb der gesamten spanischen Gesellschaft. „Der arge Weg der Erkenntnis“, den der Maler Goya in den drei Teilen dieses Buches beschreitet, wird als ein Prozess des Erwachens aus einer Zeit der Unvernunft, der blinden Religiosität und bedingungslosen Hörigkeit dargestellt. Im ersten Teil des Buches tritt Goya als unpolitisches, charakterloses Individuum auf, das sich seiner gesellschaftlichen Funktion als Maler, seiner Rechte, Pflichten und Grenzen bewusst ist. In dieser Phase malt er ausschließlich Vorlagen für Wandteppiche und harmlose und verklärende Herrscherportraits. Der zweite Teil zeigt Goya als der Maler des Bildes „Die Familie Karls IV“. Goya wagt an diesem Bild Unerhörtes, indem er die königliche Familie nicht wie sonst üblich schönt, sondern sie in einem unbarmherzigen Realismus darstellt: Stupide Gesichter und plumpe Körper stecken in pompösen Rokokokostümen. Als gläubiger Katholik und Monarchist ist er zwar noch linientreu. Allmählich erscheinen ihm jedoch Hirngespinste, die auf eine gefährliche Unordnung in seinem Inneren schließen lassen: Mittags aus heiterem Himmel kriecht ihm El Yantar, das krötenartige Mittagsgespenst, über den Weg. Aberglaube und übernatürliche Erscheinungen scheinen Goya und seinen Zeitgenossen nichts allzu Ungewöhnliches zu sein. Der Leser erfährt, dass auch anderen Personen, z.B. der Herzögin Alba, Geister begegnen. Von dem Gruselkabinett Familie Karls IV über seine ersten Entwürfe vom Krötengeist bis zu den berühmten Caprichos, der Serie von Radierungen, die Goya im dritten Teil des Buches anfertigt, ist es für den Betrachter eine nachvollziehbare konsequente Entwicklung. Mit der zunehmenden Erkenntnis, die Goya durch einschlägige Gespräche mit Freunden und schicksalhafte Erlebnisse von den Umständen in Spanien gewinnt und die er in seinen Bildern verarbeitet, vermag er auch dem spanischen Volk, die wahre Natur des Klerus und der Monarchen zu entdecken: Die Caprichos stellen Mitglieder der königlichen und adligen Gesellschaft als eingebildete Affen und Esel dar, ein Pfaffe sitzt auf den Schultern eines arbeitenden Bauern, hässliche Mönche verschlingen mit großen Mündern gierig Speisen auf einem Tisch. Diese Zeichnungen sind Ausdruck des Loslösungsprozesses von den alten Herrschaftsgebilden. Feuchtwanger stellt das Leben Goyas und seinen „argen Weg der Erkenntnis“ somit als exemplarisches Heraustreten des Menschen des Mittelalters aus seiner Unmündigkeit hinein in die aufgeklärt kritische Welt der individuellen Verantwortung dar, in der blinder Glaube und Aberglaube keinen Platz mehr hat. Der Schlaf der Vernunft hat die Dämonen herbeibeschworen, deren wahre Gestalt der Erwachende nun deutlich zu erkennen vermag.
Die Dämonen des Francisco Goya hat Feuchtwanger in einem genialen Kunstkniff mehrdeutig in den Roman hineingearbeitet: Es bleibt bis zuletzt unklar, wo ihre Ursprünge zu suchen sind. Sind sie Produkt der Verwirrung eines geisteskränkelnden Francisco Goyas wie es sich in den ersten beiden Teilen des Buches vermuten ließe? Oder treibt Goyas Furcht vor dem langen Arm der spanischen Inquisition dunkle Blüten? Handelt es sich bei Goyas Dämonen um paranoide Angstvisionen, die er, ein katholisch erzogener und geprägter Mann, gestalterisch nur in Form von bedrohlichen Dämonen aus der Hölle umzusetzen weiß? Festzustellen ist, dass die Visionen sich bei Goya immer dann verstärken, wenn er dem grausamen Wirken der spanischen Inquisition ausgesetzt ist. Das christlich-ikonographische Inventar der Hölle mit seinen mannigfaltigen Ausgeburten, wie es sich die katholische Kirche und ihre Inquisition durch das ganze Mittelalter hindurch stets zur Einschüchterung der Gläubigen zunutze gemacht hat, kehrt sich in Goyas Caprichos gegen die Kirche und die Mächtigen selbst. In diesem Sinne schlägt Goya die Kirche bewusst oder unbewusst mit ihren ureigenen Waffen. Die Dämonen Goyas sind zwar noch immer gemäß der christlichen Tradition gefallene Engel, die Gefolgschaft des Teufels; Goya – und mit ihm die spanische Gesellschaft – erkennt letztlich aber in den Vertretern des Klerus und des Adels die eigentlichen höllischen Dämonen wieder und begreift sie als Wurzel allen Übels.
Der „Goya“-Roman gleicht insgesamt einem riesigen Goblin-Wandteppich, wie er für den Repräsentationsraum in einem spanischen Herrschaftssitz wie Escorial gefertigt worden sein könnte. Liebevoll gewoben und geknüpft zeigt er wie die Handlungsstränge und das Personal des Romans miteinander verwoben und verknüpft sind. Thomas Mann sprach nach seiner Lektüre von einem „düster glänzenden Riesengemälde“, das Feuchtwanger hier entworfen hätte. Der Roman hat seine Längen, in denen der Leser seinen Atem beweisen muss. Der eigentliche Höhepunkt des Romans, die Anklage Goyas durch das Heiligen Offizium, der sich allerdings als spannendster Teil des Buches liest, ist leider nur Gegenstand der letzten 40 Seiten. Die Beschreibung der Genese einzelner Werke und die Bildbesprechungen ziehen den historisch- und kunstinteressierten Laien jedoch in ihren Bann. Sie ermöglicht ihm durch Feuchtwangers farbenprächtige, adjektivreiche Sprache, sich die Bilder sehr detailliert vorzustellen, so dass der Roman einem streckenweise zu einem Besuch in einer Kunstausstellung gerät. Mit dem historischen und psychologischen Hinterbau zu Goyas Werk, der Verknüpfung von persönlichem Schicksal und Spaniens Geschichte, gelingt es Feuchtwanger, dem Leser ein Eintauchen in eine dreidimensionale Welt zu ermöglichen.
Der Autor zeigt auch in diesem Roman wieder seine Vorliebe für geschichtliche Umbruchs- und Umwälzungssituationen, deren weltanschauliche Konflikte vom individuellen ins historisch-allgemeine aufgeweitet werden können. Als der Roman 1951 in den USA erschien, wurde er von der Leserschaft begeistert aufgenommen. Die Implikationen waren damals vielleicht deutlicher als sie es dem heutigen Leser sein können: Die spanische Gesellschaft in „Goya“ wurde sechs Jahre nach Kriegsende als Allegorie auf die Zustände in Deutschland im Nationalsozialismus verstanden. Für diejenigen, die von der Kommunistenhatz der McCarthy-Ära betroffen waren, – auch Feuchtwanger gehörte dazu -, waren auch die Parallelen zu den Methoden der spanischen Inquisition augenscheinlich.

Klabund – Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

Das ist die wohl ungewöhnlichste Literaturgeschichte, der ich je begegnet bin. Der Titel ist nicht übertrieben. Allerdings habe ich es nicht in einer Stunde lesen wollen. Klabund kommt einem vor wie ein Kind, das vor einer Kiste mit Spielzeug sitzt und fasziniert in die Kiste greift, eine Puppe, eine Spielzeugauto oder sonst etwas zu fassen bekommt, es für einen kurzen Moment intensiv mustert, sich ein Urteil bildet und das Spielzeug zu anderen in einen Setzkasten stellt.
Die Geschwindigkeit, mit der Klabund durch fast 2000 Jahre deutscher Literaturgeschichte fegt, lässt einen schwindeln. Es ist kein Buch für einen, der sich einen schnellen Überblick über die deutsche Literaturgeschichte verschaffen möchte, dafür ist es einfach zu kurz (Lessing bekommt 2 Seiten, Goethe immerhin 7, Thomas Mann ganze 4 Zeilen). Man muss sich schon auskennen, um Klabunds Urteilen folgen zu können. Wie Tuschezeichnungen stehen sie vor dem Leser. Mit wenig Strichen aufs Papier geworfen, voll starker Kontraste bleiben sie dennoch nicht farblos. Klabund ist in der Lage seine Sprach auf engstem Raum ins Schwärmerisch-Pathetischezu treiben und wieder zurück zum Sachlich-Abwägendem. Zünftige Literaturwissenschaftler begegnen diesem Werk als Beitrag zur Literaturgeschichte wohl im besten Fall mit einem wohlmeinenden schulterzuckendem Lächeln. Als ein Stück Literatur begriffen werden sie diesem Büchlein wohl ihre Achtung nicht versagen können.
Vielleicht ist dieser schmale Band die ehrlichste aller Literaturgeschichten. Sie ist bis ins Mark subjektiv, erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder wissenschaftliche Akuratesse. Und sie vermittelt, was keine Literaturgeschichte geben konnte, die ich bislang gelesen habe: Freude an und tiefe Liebe zur Literatur.
Und genau deshalb ist sie trotzdem bestens für die geeignet, die Literatur als öde Schullektüre kennengelernt haben oder mit immergleichen Krimis nach der Langeweile schlagen.

Wikipedia

Wütend schreibe ich diese Zeilen. Wütend über die Qualität des Wikipedia-Artikels zum Faust II. Wenn ich bedenke, dass heutzutage jeder Schüler zu allererst bei Wikipedia vorbeischaut, wenn er ein Referat oder eine GFS oder sonst etwas zu erstellen hat, dann kann einem richtiggehend schwarz vor Augen werden.
Wenn bei Wikipedia schon Mist steht, wie sollen dann andere, die den bei Wikipedia bereitstehenden Inhalten blind vertrauen, noch sinnvoll damit arbeiten können.
Wikipedia leistet leider dem Rechercheverhalten der meisten jüngeren und nicht mehr so jungen Menschen Vorschub, indem es sofort glaubwürdige Informationen zu liefern scheint. Wer bei Wikipedia etwas gefunden hat, sucht nicht mehr weiter. Blind werden Inhalte übernommen, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie selbst gedanklich zu durchdringen. Das gilt natürlich nicht allein für Wikipedia, das gilt, und das ist umso bedenklicher, auch für das übrige Netz.
Da ich Wikipedia aber für ein herausragendens Experiment mit kaum zu überschätzender Bedeutung für die gesamte Organisation der Wissensbestände der Menschheit halte, fordere ich hiermt alle, die hierauf stoßen auf, sich im Rahmen ihrer Kenntnisse bei Wikipedia zu beteiligen.
Ich folge meinem eigenen Appell und habe mich entschlossen, an dem Artikel zu Goethes Faust II mitzuarbeiten. Der Abschnitt zur ersten Szene des 5. Aktes stammt von mir.
Ich schließe, ein wenig beruhigt, mit der Bitte, mich mit Kritik bezüglich der Wikipedia-artikels nicht zu schonen.

Punktum! – Gedanken rund ums Lesen II

Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins?

Einen Moment sollte man noch bei diesen Urspüngen verweilen.
In einer Welt, in der der Mensch zu sich selbst kommt, ist er noch weit entfernt von dem naturbeherrschenden Wesen, das er heute zu sein glaubt. Er ist in der frühen Zeit noch so mit der Natur verbunden, dass er noch nicht einmal dem Nahrungskreislauf von Fressen und Gefressenwerden vollständig und auf Dauer entrinnen konnte. Bißspuren auf den Schädeln unserer Vorgänger zeigen den frühen Menschen als Beute, als Gejagten.
In einer gefährlichen, bedrohlichen, feindlichen Umwelt, der er weitgehend schutzlos ausgeliefert ist, muss der Mensch, um überleben zu können, Fähigkeiten entwickeln, den alltäglichen Gefahren erfolgreich zu begegnen, ihnen auszuweichen, sie schließlich zu überwinden.
Die Evolution schenkt auch den Schwachen Möglichkeiten sich zu wehren. Uns aber sind keine Flügel gewachsen und wir können uns nicht farblich unserer Umwelt anverwandeln. Unsere Flügel sind die Phantasie und die Kreativität, der Verstand unsere Tarnung.
Mithilfe dieser Fähigkeiten ist es dem Menschen möglich, seiner Welt Struktur zu geben. Das namenlose Schrecken, die unbenennbare Gefahr, werden erkannt. Der Mensch gibt dem Unbennbaren Namen, er nimmt ihm dem Schrecken und macht sich selbst Mut. In Benennung und Verknüpfung der namenlosen Phänome der Umwelt liegt der Keim aller Erzählung.
Aber dieser Prozess des geistigen Durchdringens der schrecklichen Welt kann nicht in ihr selbst geleistet werden, denn die Gefahren bestehen weiter. Erst in einer Umgebung, die den notwendigen Schutz gewährleistet, kann der Mensch diesen Prozess in Angriff nehmen. Nur dort, in der Abgeschiedenheit der Höhle, am sicheren Lagerfeuer in der Nacht, können Begriffe, Namen, Beobachtungen des Tages in eine sinnvolle Form gebracht werden. Erst der gefahrlose Schlaf ermöglicht ein freies Spiel der Phantasie im Traum. Hier gibt der Mensch seiner Umwelt Sinn.
Erst wenn die schreckliche Welt sich vom sicheren Lagerfeuer in die Nacht zurückzieht, kann der Mensch das Außen in Form von Geschichten reflektieren.
Die Genese von Geschichten ist zu allererst ein metaphorischer Akt zur Sicherung des Überlebens.
Und möglicherweise fällt der Beginn des Menschseins mit dem Beginn der reflektierenden Weltaneignung in Form von Geschichten zusammen.

Punktum! – Gedanken rund ums Lesen I

Warum erzählt sich der Mensch geschichten schon seit angedenk seines menschseins? Zu welchem Ende zieht sich der Mensch zurück in die Einöde einer Bibliothek und sitzt dort abwesend, über büchern gebückt, in andere welt vertieft, fern des farbenfrohen lebens und treibens der strassen und der kneipen? Eine mögliche Antwort ist vielleicht in dem Umstand zu suchen, dass jede geschichte ein ende hat; ein schluss, der unmissverständlich der welt, die sich dem leser für die dauer des lesens eröffnet, ein ende setzt und kein Weiter zulässt. Im gegensatz zum leben des menschen, das man zwar in zäsuren, lebensabschnitten, perioden und epochen denken kann aber keinesfalls muss, sind geschichten für den menschen eine abgeschlossene Entität, ein vollständige Einheit, eine vollständige welt, in der es nur eine bestimmte Anzahl von Worten, ein bestimmtes Personeninventuar und eine festgelegte, unveränderbare Handlung gibt. Das Leben des Menschen hingegen plätschert dahin und geht weiter, irgendwie, hat oftmals einen mangelnden Spannungsbogen, vielzuviel Personal, zuweilen schlechtes, desweilen zuviele verwirrende Handlunsgstränge, die ins nichts führen oder einfach sinnlos sind. Das Leben muss sich dem Lebenden aus diesem Grund einer abschließenden sinnvollen darstellung und folglich einer vollständigen rationalen durchdringung entziehen. Will der lebende Mensch sein Leben und seine Lebenswelt verstehen, so braucht er wohlgeformte geschichten, seien sie fiktive oder reale Auszüge des Lebens, die Licht auf das geschehen werfen, in denen er eine perspektive auf sein leben und somit zu einer Interpretion, zu einem Verständnis der Welt gelangen kann. Nur dadurch, dass nach dem letzten Satz einer Geschichte ein Punkt steht, vermag der Mensch die Geschichten als ein Instrument zum Weltverständnis und, denken wir weiter, als Planspiel, zur Hanlungsorientierung gebrauchen. Punktum!
meint Iwan Jakowlewitsch

Rheinabwärts IV

Rheinabwärts IV

Aus hellem Treibholz alter Ströme
Sägte meine Hand dies Haus
Das in langen Jahren nachgedunkelt ist
Bevor es langsam steinern wurde.

In roten Platten starrt davor das Zittern mancher Jahre
Auf dem ein Baum den ganzen Tag mit Schatten dunkel malt
Bevor er langsam steinern wird

Amon Tobin: Foley room

Nachdem Jackson Pollock eines seiner großformatigen Drip-paintings beendet hatte, fragte er seine Frau, Lee Krasner:“ Ist das ein Gemälde?“
Dieselbe Frage würden wohl einige Leute stellen, die das neue Album von Amon Tobin anhören: „Ist das Musik?“
Und genauso wie Lee Krasner die Frage ihres Mannes positiv beantwortet hat, kann man auch im Falle von Foley room sagen: „Ja das ist Musik, und zwar großartige.“ Das Problem ist nur, Amon Tobins Musik zu beschreiben. Klar, irgendwo könnte man diese Art von Musik Drum `n` Bass nennen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Drum `n` Bass ist nur die Basis dieser Musik. Ihr Wesen ist eine verspielte Kreativität, die sich, im Vergleich mit seinen anderen Alben, in diesem Album am radikalsten Bahn bricht. Unvorsichtige Hörer würden diese Musik als dadaistisch bezeichnen. Allerdings ginge eine solche Bezeichnung in die Irre. Dadaismus ist, wenn er ernst gemeint ist, Anti-Kunst. Anti-Musik aber hört sich anders an. Amon Tobin geht regelmäßig an die Grenzen der Musik, löst Rhythmus, Melodie und Harmonie manchmal auf. Aber tut das der Jazz nicht auch? Und lebt der Jazz nicht auch von der Freude am Experiment, von der Lust Neues auszuprobieren und mit Altem zu verbinden?
Egal wie kluge Leute diese Musik bezeichnen, ich nenne sie Jazz. Sicher, Amon Tobin spielt kein Intrument, er bedient nur seinen Computer, seine Turntables, seinen Synthesizer. Aber nicht das sind seine Instrumente. Das sind nur Werkzeuge, um Klänge zu verändern. Er schöpft seine Klänge nicht aus dem begrenzten Klangspektrum eines herkömmlichen Instruments, vielmehr bedient er sich der Totalität sämtlicher Klangereignisse auf der Welt, sofern diese für das menschliche Ohr hörbar sind.
Hin und wieder unterschreitet er sogar diese Grenze. Auf manch einem Stück der neuen Platte kann man den Bass nicht mehr hören, man kann ihn nur noch fühlen, und selbst das nur, wenn man eine Anlage hat, die diese tiefen Frequenzen wiedergeben kann.
Und aus diesem reichhaltigen, unerschöpflichen Meer von Klängen erschafft er eigensinnige, atmosphärisch dichte Musikstücke, genauso wie Pollock auf bekanntem Material Bilder erschuf, die chaotisch wirken, und dennoch komponiert sind.
Pollock wurde von einem Kritiker vorgeworfen, er male zu wenig nach der Natur. Darauf antwortete er erbost: „Ich bin Natur!“
Das gilt auch für dieses Album.
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