Es fällt mir schwer etwas zu diesem Buch zu schreiben. Es ist ein Werk, dass man mit Goethe „inkommensurabel“ nennen möchte. Ich bin des Potugiesischen nicht mächtig, aber wenn die Übersetzung auch nur einen kleinen Teil des Klangs des Orginals einfangen konnte, dann muss das Orginal ein überwältigendes sprachliches Kunstwerk sein. Ein Grund, portugiesisch zu lernen.
Das Buch erzählt die fiktive Autobiographie des Hilfsbuchhalters Bernado Soares. Wer eine , von erzählte Lebensgeschichte erwartet, wird sich verwundert die Augen reiben.
Fragment Nr. 12: „Ich beneide – bin mir aber dessen nicht wirklich sicher – all jene, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine Autobiographie ohne Fakten, meine Geschichte ohne Leben. Es sind Bekenntnisse, und wenn ich in ihnen nichts aussage, so weil ich nichts zu sagen habe.“
Auch wenn in diesen Sätzen mit dem Begriff „Bekenntnisse“ auf die lange Tradition der Gattung Autobiographie verwiesen wird, die von Augustinus „Confessiones“ über Rousseau bis zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ und darüber hinaus reicht, hat der Leser bereits bemerkt, dass die Dinge hier anders liegen. Wieso sollte man sein Leben, oder überhaupt irgendetwas, schreiben, wenn man es im Grunde für nicht mitteilungswürdig hält. Es ist dies aber nicht die Absicht dieser Sätze auf genau diesen Umstand hinzuweisen, vielmehr hat dieser kurze Abschnitt programmatischen Charakter.
Sicher, auch diese Fragmente sind Bekenntnisse, aber solche, die nicht ein Leben mit und durch die Dichtung beschreiben (Goethe) oder einen Lebensweg christlicher Läuterung darstellen und rechtfertigen (Augustinus), sondern lediglich persönliche Zeugnisse der eigenen Existenz geben, die in ihrer hoch individuellen verdichteten Form und Widersprüchlichkeit jeden Rest von Allgemeingültigkeit verloren haben und somit anderen in der Tat nichts zu sagen haben.
Ist eine Autobiographie immer auch ein Versuch, sein Leben im Setzkasten der Zeit zu positionieren, ihm einen Sinn zu geben, die eigene Existenz zu rechtfertigen, so ist diese fiktive Autobiographie ein letztes beeindruckendes Bekenntnis der Sinnlosigkeit einer menschlichen Existenz.
Autobiographien leben eben der Wechselwirkung des Ichs mit der Welt. Hier aber ist diese Beziehung eine recht einseitige. So etwas wie äußere Handlung fehlt fast völlig. Manchmal sehen wir Soares am Fenster seines im vierten Stock gelegenen Büros in den Regen hinausschauen, ein anderes Mal streift der durch das Lissabon der kleinen Leute. Jedes äußere Ereignis, vom Regen über das Klingeln der Straßenbahn bis hin zu Soares Chef Vasquez, wird verinnerlicht, ins rein Seelische transponiert. Die Umwelt als Metapher der Seele. Entsprechend besteht das Buch aus einer Unzahl von Fragmenten. Pessoa an Cortez-Rodrigues (19.11.1914):“Meine Geistesverfassung zwingt mich derzeit, ohne daß ich etwas dagegen tun könnte, häufig am Buch der Unruhe zu arbeiten. Aber alles nur Fragmente, Fragmente, Fragmente.“
Der fragmentarische Charakter des ist die einzig annehmbare Form der Darstellung in diesem Fall und sie ist ein Zeichen für die Unfähigkeit des Hilfsbuchhalters Soares sein Denken, Fühlen und Handeln, kurz sein Leben zu einem Ganzen zu formen.
Bezeichnenderweise kreisen seine Reflexionen sehr häufig um das Träumen. Nichts ist weiter von der physischen Welt entfernt wie der Traum oder die Vorstellung von der eigenen Nichtexistenz im Tod. Reflexion über die Träume ist eine schwierige Arbeit. Sie zwingt zu besonderen Formend es sprachlichen Ausdrucks. Die Paradoxie ist eine davon, die von Pessoa in diesem Buch oftmals bis in Unverständlichkeit getrieben wird. Vom Manieristischen über das Symbolistische bis tief hinein in das Labyrinth des Paradoxen bewegt sich die Sprache auf ihrem Versuch eine über die Grenzen zum Pathologischen hinaustreibende Reflexion des eigenen Ich sprachlich fassbar zu machen. Gerade darin liegt der außerordentliche Reiz dieses Buches, das einem die volle Aufmerksamkeit abverlangt, die man aufzubringen imstande ist. Groß ist die Versuchung, sich von den hypnotischen Relfexionen hinweg treiben zu lassen. Dann aber wird das Buch tatsächlich zu einem, das nichts mehr zu sagen hat. Über die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes, das erst nach Pessoas Tod in unvollendeter Form 1935 erschien, auf Deutsch sogar erst in den 1980er Jahren, kann ich nichts sagen, aber ich bin der festen Überzeugung, das dieses Buch zu den wichtigsten Werken der Klassischen Moderne gehört.


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