Der Portugiese neigt zur Melancholie. Das klingt wie ein Klischee. Fado scheint das zu belegen. Und wer Pessoas „Buch der Unruhe“ gelesen hat, der wird das bestätigen. Vielleicht ist dieses Buch (eine Besprechung ist auf diesem Blog verfügbar) die Apologie der Melancholie und damit ihre höchst mögliche Ausformung vor dem Sturz in die Depression. Der von seinem Zimmer aus auf die schmalen Straßen der Lissaboner Altstadt blickende Hilfsbuchhalter Bernado Soares, der Protagonist dieses Buches, ist einer der größten Melancholiker in der Literatur. Aber die wenigsten Portugiesen werden dieses Buch gelesen haben. Also hat Pessoa seine Landsleute nicht mit diesem Gemütszustand angesteckt. Daher kann die Melancholie der Portugiesen also nicht rühren.

Dennoch ist sie deutlich in die Gesichter der Menschen eingeschrieben, die man in den von den Touristen weitgehend ignorierten Städten oder Stadtteilen auf den Stufen ihrer kleinen Häuser sitzen sieht. Vornehmlich bei den alten, natürlich, wie sollten denn auch Kinder oder junge Menschen auch auf Dauer melancholisch sein können.

Ein Grund könnten vielleicht die Städte selbst sein. Jede Stadt, die wir besuchten, zeigte ein ähnliches Bild. In jeder Altstadt findet man enge, verwinkelte Gassen, um die herum sich kleine Häuser drängen, alles dicht bei einander. Viele dieser Gebäude zeugen mit ihren kleinen Balkonen und Balustraden von dem liebevollen Aufwand, den die Bewohner beim Bau betrieben haben. Die schönen Azuleios an vielen Fassaden verstärken diesen Eindruck. Aber in jeder Straße findet man auch arg vernachlässigte und bis zur Baufälligkeit heruntergekommene Gebäude. Vernagelte Türen und Fenster, hinter denen eingestürzte Mauern unter dem blauen Himmel liegen und wilde Katzen streunen. Von den Bewohnern dieser Viertel sagt man, dass sie eine enge Gemeinschaft pflegten und mitunter eine eigene Identität entwickelten, die sich von den Bewohnern anderer Straßen oder Viertel differenziert. Sind diese Bindungen eng, so fallen Verluste schwer, wer wüsste das nicht. Und  wenn durch wirtschaftliche Not die Familien ihre Häuser verlassen oder Schicksalsschläge die Alteingesessenen dezimieren, so bleiben die Häuser leer.

Wer aber die Bewohner dieser Häuser kannte, wer mit ihnen jahrzehntelang Tür an Tür gewohnt und alle Feste und Tragödien der Nachbarn miterlebt hat, weil er ein Teil dieser engen Gemeinschaft war, der sieht in seiner Straße jedes verfallene Haus mit anderen Augen an. Und je mehr dieser Häuser unbewohnt bleiben und verfallen desto stärker muss das Gefühl von Verlust und Niedergang sein, das die Übrig-Gebliebenen beschleicht, wenn sie abends auf dem Treppenabsatz ihres kleinen Häuschens sitzen und die Straße hinunter schauen. Vielleicht speist sich die Melancholie der Portugiesen ein wenig aus dem Gefühl, Teil einer sich auflösenden Welt zu sein.

Das Bild zeigt die Altstadt von Porto:

Die Altstadt von Porto





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