Am 5. April 1777 schrieb Goethe in sein Tagebuch: „ἁγαθη τυχη [Agathe Tyche] gegründet!“ An diesem Tag stellte er im Garten seines 1776 erworbenen Häuschens im Park an der Ilm einen einfachen Sandsteinquader auf, auf dem sich eine Kugel befindet. Gewidmet ist dieses Denkmal eben der Tyche Agathe. Tyche ist die antike Göttin des guten oder bösen Schicksals, kurz des Zufalls. Viele Städte huldigten ihr. Gerade die abstrakte Form des Denkmals, welches auch als „Altar des guten Glücks“ bezeichnet wird, verweist auch ohne die Widmung auf die launische Göttin. Im Altertum wurde Tyche oft auf einem Rad oder einer Kugel dargestellt. Symbol für die Wechshaftigkeit, Unbeständigkeit ihrer Gunst und damit zugleich ein stiller Hinweis auf die mögliche Vergeblichkeit des dargebrachten Opfers. Im Unbeständigen liegt ihr Wesen.
Für sein Denkmal kombiniert Goethe die Kugel mit einem weiteren geometrischen Objekt, mit einem Quader. Die Kugel ruht auf dem Quader. Er steht für Ruhe, Beständigkeit, Verlässlichkeit, Ausgeglichenheit, während die Kugel das Unbeständige, die rast- und ruhelose Bewegung, allgemein das Wechselhafte in der Welt darstellen soll. Der Stein des guten Glücks zeigt uns die Kugel in Ruhe auf dem Quader verharren, wie es die Natur eines Denkmals als statisches Gebilde naturgemäß fordert. Auf den ersten Blick erkennt der Besucher des schönen Gartens, in dem das Denkmal bis heute steht, dass hier zwei sehr unterschiedliche, wenn nicht gar entgegengesetze Dinge begegnen. Gerade Ebenen und scharfe Kanten des Quaders treffen auf die vollkommene Form der Kugel. Beständigkeit und Ruhe treffen auf das Unstete und Wechselhafte. Festigkeit, Standhaftigkeit auf das rastloses Getriebenwerden wechselnder Begierden und launisches Glück.
Aber nicht die Auflösung beider Pole im Moment ihres Zusammenfalls soll das Denkmal anzeigen und somit auf einen der Welt enthobenen Zusatnd der Existenz des Menschen verweisen. Im Moment der Begegnung des Gegensätzlichen entsteht etwas Neues, das über der Dialektik der Polarität steht. In der Synthese verbinden sich die Gegensätze zu einem Höheren. In diesem Denkmal, das in seiner Form so einfach gehalten ist, kann man einen Grundzug nicht nur von Goethes Weltanschauung, sondern vor allem eine fundamentale Grundlage seines Schreibens erkennen, die gerne in den Worten „Polarität und Steigerung“ zusammengefaßt wird.
Das launische Schicksal wird von der ruhigen Beständigkeit begrenzt, diese von jenem belebt und erweitert, so dass aus der Verbindung beider Prinzipien etwas Neues entsteht, was viel mehr ist als die Summe beider Pole: Ein dem äußeren Zufall wie den inneren Dämonen enthobenes Glück, das auf der Basis von Ruhe, Güte und Beständigkeit ein dauerndes Gleichgewicht finden kann. Das Stillstehen der Kugel auf dem Quader macht genau das deutlich.
Goethe ließ dieses Denkmal aus weniger abstrakten Gründen aufstellen. Er sah sein unstetes Dasein, seine leidenschaftliche Emotionalität, sein Getriebensein in der Liebe zu Charlotte von Stein geläutert.
Freilich steckt hier bereits der Kern für ein weiteres Gurndmotiv Goethescher Dichtung verborgen, das ihn der Umgang und die letztlich unglückliche, weil unerfüllte Liebe zu Charlotte von Stein gelehrt hatte: Entsagung.
Kategorien: Gedanken

1 Kommentar

Ron · 24.05.2018 um 14:48

„Warum gabst du uns die tiefen Blicke,
Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun,
Unsrer Liebe, unsrem Erdenglücke
Wähnend selig nimmer hinzutraun?
Warum gabst uns, Schicksal, die Gefühle,
Uns einander in das Herz zu sehn,
Um durch all die seltenen Gewühle
Unser wahr Verhältnis auszuspähn?…“

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