Johan Nils Nagel, wenn das überhaupt sein richtiger Name ist, denn eine geheimnisvolle Fremde nannte ihn Simonsen, kam eines Tages in ein verschlafenes Nest an der Küste von Norwegen. Er trug einen grellgelben Anzug, einen Geigenkasten unter dem Arm und ein Fläschchen Gift in der Westentasche. Er stieg im besten, und wohl auch einzigen Hotel des Ortes, dem Zentral, ab, und warf mit Geld um sich. Was hatte er hier zu tun? Man weiß es nicht. Vor kurzem hatte sich in der Gegend ein junger Mann aus Liebeskummer umgebracht (oder war es doch nur ein tragischer Unfall)? Nagel zeigte ein besonderes Interesse für diesen Fall. Er bot dem Dorftrottel viel Geld an, wenn er sich bereit zeigen würde, die Vaterschaft für ein Kind anzunehmen, lies das Thema aber unerklärt nach der Weigerung des armen Mannes fallen.

Nagel hegte offenbar Sympathie für diesen Mann, mit dem der ganze Ort seine grausamen Späße trieb und den man Minute nennt. Nagel griff ein, als ein augeblasener Assessor seinen Spaß mit Minute treiben wollte, er steckte Minute Geld zu, besorgte ihm einen neuen Mantel und kümmerte sich um weitere Kleidungsstücke, die man Minute einst versprochen hatte.
Wußte Nagel mehr als er verraten hat? Seine zahllosen Geschichten, die oft bis ins märchenhaft Groteske reichten, hinterließen nicht immer nur gute Laune und Ratlosigkeit bei den Bewohnern des Städtchens. Manchmal meinte man geheime Andeutungen herauszuhören, die ahnen ließen, dass Nagel mehr wußte als, als er zugeben wollte. War er hier, um den Tod des jungen Mannes zu rächen? War er gekommen, um dem drangsalierten Miunte zu seinem irgendwie gearteten Recht zu verhelfen?
Man weiß es nicht und man hat es nie erfahren. Nagel war ein Mann, der niemals greifbar war. In seinem Geigenkasten befand sich nur dreckige Wäsche. Entsprechend behauptete er, nicht Geige spielen zu können, bis er es, zur großen Überraschung aller dann doch tat. Man glaubte, er sei ein reicher Mann, bis er erzählte, die Briefe, die von seinem Vermögen berichteten, selbst andernorts aufgegeben zu haben. Er liebte Dagny Kielland, gestand ihr seine Liebe, verfolgte sie, stromerte nachts um ihr Haus. Gleichzeitig aber gestand er auch der alternden Martha seine Liebe. Er kümmerte sich um Minute, bedachte ihn mit großzügigem Wohlwollen, bis er ihn des Mordes an dem jungen Mann verdächtigte.
Alles, was Nagel sagte oder tat, hob er selbst wieder auf. Er blieb ungreifbar, ein Gespenst in einem gelben Anzug. Nagel war ein Mensch ohne Mitte. Das war die einzige Konstante. Im Lauf der Zeit verschlechterte sich allerdings seine Befindlichkeit zusehends. Er verfiel in Depressionen, konnte keine Treppe hinaufgehen, ohne sich nach jedem Schritt änsgtlich umzublicken. Ihn plagten namenlose Ängste. Eines abends rannte er aus seinem Zimmer hinunter zum Hafen und sprang ins Meer. Seine Dämonen hatten ihn eingeholt und besiegt.
Seine Geschichte endet mit dem kurzen Rückblick der beiden Damen, die Nagel einst liebte. Sie erinnerten sich an Nagel wie an einen belanglosen Streit zwischen zwei Fischweibern. Nagels Anwesenheit hatte keine Folgen gehabt, die Erinnerung an ihn wird zum Klatsch, bevor man ihn ganz vergessen wird. Andeutungsweise erfuhr man von Dagny und Martha noch, dass Minute doch etwas Schlimmes getan haben musste. Hat sich Nagels Verdacht bestätigt?
Sollte Nagel irgendeinen geheimen Plan gehabt haben, so konnte er ihn nicht ausführen. Das Leben im Dorf ging seinen Gang. Die Wellen, die Nagels Anwesenheit geschlagen hatte, brachen sich an einem kleinbürgerlichen Beharrungsvermögen, liefen aus am kahlen Strand der Spießbürgerlichkeit.
Nagel hatte keinen geheimen Plan. Er suchte sich selbst. Nichts konnte ihm auf Dauer Befriedung verschaffen.
Liebe und Hass, Wohlwollen und Argwohn, naturmystische Erfahrung und Alkoholexzess, nirgends fand er einen Angelhaken, um damit im blauen Himmel zu fischen, wie er selbst es beschrieben hat. In der Abgelegenheit des norwegischen Fischerdorf wollte er sich selbst finden. Das hat er nicht geschafft. Im Kampf gegen die eigenen Dämonen unterlag er. Kurz vor seinem Tod warf er einen eisernen Ring, den er stets am Finger trug, in Meer. Dieser Ring mag als Zeichen stehen für eine Gefangenschaft in sich selbst. Eine Gefangenschaft in einem Kerker hinter dessen Mauern nicht die Freiheit wartet, sondern der Tod.


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