Das Grimmsche Märchen „Die Drei Männlein im Walde“ beginnt mit dem Satz, Es war ein Mann, dem starb seine Frau; und eine Frau, der starb ihr Mann; Die brutale Lakonik des Satzes macht betroffen, ja erschüttert. Der Leser mag sich schwer tun weiter zu lesen, der klare, parallele Aufbau und die einfache, keiner Schminke fähige, brutale Feststellung macht betroffen. Dem klaren Aufbau steht aber ein inhaltliches Paradox entgegen, wenn man stillschweigend annimmt, dass Mann und Frau in einer Verbindung zueinander stehen. Starben beide gleichzeitig. Gibt dieser Satz etwa einen Hinweis auf eine schreckliche Tragödie?

Allerdings ist es gerade der einfachen Struktur des Satzes und seiner ebenso einfachen wie schlimmen Aussage zuzurechnen, dass in einem ein Gefühl des schonungslosen Realismus wach werden lässt. Wie kann man aufgrund eines solchen absoluten Realismus überhaupt noch in die transreale Bilderwelt des Märchens zurückkehren, wird sich der beklemmte Leser fragen, dessen Beklemmung sicher noch dadurch gesteigert wird, dass er statt einem märchenhaft gemilderten Bezugrahmen mit einem schonungslosen, blanken, unvermittelt-direkten und deshalb absoluten Realismus konfrontiert wird, der nicht nur die Erwartung des Lesers an den Text barsch zurückweist, sondern jede weitere Erwartungshaltung unterdrückt.

Der Eingangssatz wiegt so schwer, dass er sogar den Realismus nach dem Absoluten hin öffnet. Er reißt eine Tür auf, die einen Blick auf nicht mehr hintergehbare Wahrheiten zu gewähren scheint. Nichts bleibt angesichts solcher Absolutheit mehr zu sagen übrig. Das Märchen bringt sich selbst an ein Ende, an den Rand dessen, was überhaupt noch gesagt werden kann. Es entzieht sich selbst die sprachliche Grundlage und somit die Basis seiner poetischen Existenz.

Aber es endet nicht, bricht nicht ab und hinterlässt als unzureichenden Zeugen seiner selbst nur ein hartes Stück Text, einen absoluten Satz, es geht weiter, überwindet die existenzielle Gefahr des Verstummens, schafft den Sprung zurück in die Sprache. Wie kann dies angesichts der Absolutheit des ersten Satzes gelingen? Der Grund liegt am Ende des Satzes. Das trennende Semikolon verbindet den Satz mit dem Zweiten, der den ersten hinsichtlich des Aufbaus spiegelt: und der Mann hatte eine Tochter und die Frau hatte auch eine Tochter.

Aha, wird sagen, wer den ersten Satz hinter sich zu lassen die Kraft hatte, wie steht es denn nun mit dem Mann und der Frau? Sind beide verheiratet oder kennen sie sich vielleicht am Ende gar nicht, und der Satz bringt zum Zwecke des Effekts zusammen, was gar nicht, oder noch nicht, zusammen gehört? Oder trennt er mit grammatikalen Mitteln, was nicht getrennt gehört? Das Märchen gibt selbst die Antwort: Mann und Frau haben tatsächlich nichts miteinander gemein als die Tatsache, dass beide eine Tochter haben und ihnen die Ehepartner gestorben sind. So bleibt denn doch noch ein Weg in die Sprache zurück. Freilich mag der Dichter die brutale Wirkung seines Eingangssatzes nicht beabsichtig haben, denn die Gefahr des Verstummens ist in der Tat groß, zu groß fast, um einen Text einzuleiten. Der Eingangsatz selbst ist bereits ein fertiger Text, ein abgeschlossenes Ganzes, eine Kurzgeschichte meinetwegen, wenn man ihn unbedingt in eine Gattung zwängen möchte. Mehr als eine Grenze berührt dieser Satz. Nicht nur, dass er das Weitererzählen um ein Haar unmöglich macht, sondern er drängt aus dem Textgefüge hinaus, dessen Einleitung er ist. Er sollte alleine stehen, das spürt der Leser so deutlich, dass das folgende Märchen enttäuscht. Stellt man den Satz alleine auf ein Blatt, so kann er erst dort seine ganze ungemütlich, beklemmende Wirkung entfalten. Was bleibt ist ein Satz, der das Genre Kurzgeschichte nach unten hin zu unterschreiten Gefahr läuft. Die Grenze zwischen Satz und Text ist erreicht und es ist eine nicht zu verschiebende. Was dieser Satz in sich zu fassen imstande ist, bedürfte eines Textes, eines langen Textes. Denn, was dieser Satz sagt, ist sehr viel. Was dies ist, bleibt im Dunkeln. Es bleibt unausgesprochen und unaussprechbar eine Mischung aus Erwartung, die keine Erfüllung findet, und bitterem Suchen einer Phantasie, die etwas zu fassen sucht, was nicht gefasst werden kann.


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