Der Roman ist ein Gesellschaftsroman in bester Dostojewski`scher Manier. Ausgedehnte, geschliffene Dialoge, präzis gezeichnete Figuren, wie man das von Mann ja schließlich auch gewohnt ist. Der Höhepunkt mag den Leser vielleicht enttäuschen, Goethe und Lotte verkehren nur im Rahmen eines gut besuchten Mittagsessens miteinander, von Goethe genau zu dem Zweck eingerichtet, um nicht mit der alten Freundin die alten Zeiten heraufbeschwören zu müssen.
Man mag sich dafür im letzten Kapitel entschädigt sehen, als Lotte in Goethes Kutsche auf dem Heimweg vom Theater diesen halb wach halb träumend neben sich sitzen fühlt. Im Reich des Imaginären findet dann das von Lotte (und auch vom Leser?) erwartete Gespräch in beinahe intimer Vertrautheit statt. Allerdings erscheint der alte Freund in diesem Gespräch nur durch seine eigenen Werke vermittelt, ein Zeichen für die unüberbrückbare Distanz zwischen beiden. Goethes Person ist hinter seinem Werk verschwunden, er ist, wie er es auch selbst einmal gesagt hat, sich selbst historisch geworden.
Dasselbe gilt für Lotte allerdings in eher tragischem Sinne. Von ihrer Umwelt auf die Lotte Werthers reduziert bleibt ihr nichts anderes übrig als gerade in der literarischen Person sich selbst zu manifestieren. Gelegentliche Verweise auf ihr mehr oder weniger erfülltes Leben, ihre reale Existenz, sind als verzweifelte Auflehnung gegen die Tendenz der literarischen Legendenbildung zu werten.

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