Herrmann Kurzke: Georg Büchner. Geschichte eines Genies

Ich habe schon die Thomas Mann Biographie von K. gelesen. Im Vergleich zum vorliegenden Buch scheint mir jene viel sachlicher, wissenschaftlicher zu sein als dieses. Aber die Voraussetzungen sind auch völlig unterschiedlich. Bei Mann ein großes Werk, tausende Seiten Briefe und Tagebücher, unzählige weitere Quellen. Bei Büchner liegen die Dinge ganz anders. Ein ebenso beeindruckendes aber arg schmales Werk, dazu kaum Briefe oder sonstige Selbstzeugnisse. So ist es natürlich sehr schwer, ein Leben zu erzählen, das darin entstandene Werk zu verankern, beides in Zusammenhang zu bringt, Motivationen, Anregungen, Absichten deutlich zu machen. Kurzke schafft das bis zu einem gewissen Grad trotzdem. Am besten noch im Kapitel zum Hessischen Landboten, vielleicht weil sich da das Leben des Autors am meisten mit dem „Werk“ schneidet. Wo die Belege ausgehen, wird Kurzke kreativ. Er nennt es „typologisches Verfahren“ (298). Kurzke setzt Büchner mit den Figuren seiner Werke gleich, lässt ihn ihre Worte sagen. Dieses Verfahren wird vor allem beim Danton häufig verwendet. Mit einer sachlichen Biographie hat das wenig zu tun. Manchmal schreibt K. innere Monologe Büchners (z. B. das Anatomie-Kapitel 346ff), gelegentlich kleine Fantasien (großartig die zu Beginn des Leonce und Lena-Kapitels „im Elysium“ (367). Mich hat das an Golo Manns Wallenstein-Biographie erinnert, in der es ein Kapitel gibt, in dem Mann Wallenstein träumen lässt, ein eher kreativer Ansatz als ein streng wissenschaftlicher: Bei Mann fällt das Kapitel aus dem ansonsten eher streng wissenschaftlichen Rahmen, bei Kurzke ist dieses Verfahren permanent eingesetzt. Immerhin kennzeichnet er entsprechende Passagen optisch im Druckbild und sprachlich im Konjunktiv. Mir persönlich ist dieses Verfahren zu impressionistisch, zu suggestiv. Ehrlich gesagt stört es mich ein wenig. Seine literarhistorische Einordnung Büchners dagegen erscheint mir vernünftig, frei von ideologischen Etiketten vergangener Jahrzehnte. Ich habe Kurzkes Mann Biographie gerade nicht vorliegen, aber sprachlich erscheint mir das Büchnerbuch frischer, moderner als die Mann-Biographie. Vielleicht richtet sich die Büchner-Biographie auch eher an ein interessiertes Laienpublikum und die Mann-Biographie eher an ein Fachpublikum.
Kurzke bezeichnet Büchner als Genie, wie ja auch der Titel bereits verrät. Er versucht im Laufe des Buche bestimmte Aspekte eines Genies zu verfolgen. Am deutlichsten ist hier der Aspekt des Traumas als Triebfeder eines Genies, das er bei Büchner am Ende überall findet. Da aber aus den spärlichen Informationen meist keine traumatischen Erlebnisse unmittelbar ableitbar sind, hilft Kurzke auch hier wieder die „typologische Methode“, deren Erkenntniswert am Ende zweifelhaft, deren Unterhaltungswert aber sicherlich hoch ist.
Was Kurzke über Büchners philosophische Manuskripte sagt, gilt im Grunde für seinen Umgang mit dem wenigen Material, das er für seine Biographie benutzen konnte: „Man muss sie geradezu quetschen, um hie und da eine These ans Licht zubefördern.“ (362)
Eine lohnende Lektüre ist das Buch aber auf jeden Fall, um sich Büchner zu nähern. Lohnend vor allem auch wegen des kurzen Kapitels zur Wirkungsgeschichte Büchners und des Schlussworts, indem Kurzke eingesteht, das Genie Büchners letztlich nicht erklären zu können.

Eleanor Catton: Gestirne

Den Roman bekam ich im Sommer 2016 in Schweden geschenkt, als wir am einsamen Steg in der Sonne lagen, jeder in sein Buch vertieft.

Erst kurz vor Weihnachten hab ich das Buch wieder in die Hand genommen, in der Erwartung, dem Weichnachtstress mit einem 1000-Seiten dicken Buch zeitweise zu entfliehen. Das hat sich erfüllt. Die Story ist angesiedelt im Neuseeland des 19. Jhds. Dort herrscht Goldrausch. Ein Mann kommt in die kleine Küstenstadt Hokitika, betritt ein Hotel und wird dort Zeuge einer Versammlung von 12 sehr verschiedenen Männern aus der Umgebung, die sich zusammengefunden haben, um die seltsamen Ereignisse der letzten Zeit zu besprechen, mit denen sie alle irgendwie verbunden sind. Es geht um einen Toten, eine Prostituierte, die man halbtot auf der Straße fand und einen jungen Goldgräber, der seit einiger Zeit spurlos verschwunden ist. So weit, so gut. Die Geschichte ist souverän aufgebaut, das ist handwerklich großartig umgesetzt. Leider gilt das nicht für den Schluss, der noch einiges aufarbeiten muss, was im Verlauf des Romans nicht aufgeklärt werden konnte. Das zieht sich, ja nervt sogar ein wenig, vor allem weil gemäß der Gesamtanlage des Romans die Kapitel immer nur halb so lang sind wie das jeweils vorherige. Witzig (man kann das aber sicherlich auch eher überflüssig finden) die dabei sich ausdehnenden Inhaltsangaben der Kapitel, die am Ende länger sind als der eigentliche Text der Kapitel. Inhaltlich also ein schöner Schmöker.

Zu Umberto Ecos „Geschichte der legendären Länder und Städte“

Noch ein schönes Buch von Eco im selben Stile wie „Die Geschichte der Schönheit“ und der „Geschichte des Hässlichen“ o.ä.
D.h. mit vielen schönen Abbildungen aus 2500 Jahren Kunst und Buchkultur. Er geht hier chronologisch vor, über die Länder der Bibel, die legendären Länder der Griechen, Mittelalter etc. Dabei scheint er sich aber manchmal in Nebensächlichkeiten zu verstricken oder, positiv formuliert, abzuschweifen, wenn er zum Beispiel über die im Orient beliebten Automaten spricht, wo er doch über die legendären Länder sprechen möchte und gerade den mittelalterlichen Reisenden wie Marco Polo in den Orient folgt, wo er den Spuren des Priesterkönigs Johannes und seinem legendären Reich folgt.
das Buch bringt nichts Neues, höchsten vllt, ungewohnt nebeneinander Gestelltes. Jedes Kapitel schließt mit zum Teil ausführlichen Zitat aus den zuvor erwähnten Abschnitten. Das ist nicht immer notwendig in meinen Augen, hat aber den Vorteil, dass man auch mal den Orginalton hören kann. Für einen Mann vom Schlage eines Eco dürfte es keine Schwierigkeit sein, solch ein Buch zu schreiben, ist er doch ein ausgewiesener Kenner der abendländischen Kultur, vor allem des Mittelalters. Schön ist, dass dieses Buch auch immer wieder Abseitiges und Skuriles bringt, das doch immer in Form von Bücher auf uns gekommen ist. Die Liebe zum Buch als Träger von Wissen und Tradition und der Respekt auch vor wirklich Schrägem, wie den Pyramidologen, ehrt den Autor wie das vorliegende Buch. Wofür er weniger Respekt hat, ist die Verschwörungstheorie rund um den heiligen Gral und den ganzen Templer-DanBrown-RennelaChateux-Quark, der nachweislich völlig frei erfunden. Im Zusammenhang mit dem Thema des Buches mag die Auseinandersetzung damit etwas zu ausladend sein – dennoch bietet sie gerade demjenigen Aufklärung, der bislang geneigt war, zumindest Dan Brown Glauben schenken zu können.
Dieses Buch ist eine populärwissenschaftliche Kompilation von bekannten Traditionslinien, Geschichten, Geschicht und Mythen, über die Eco mühelos verfügt. Man kann es auch als zielgruppenorientiertes Buchprodukt bezeichnen, das mit dem Namen des Autors einen Popularitätsschub bekommt, aber man kann es auch schlicht als schönes, unterhaltsames Buch ansehen, das dem einen oder anderen Leser sicherlich einen tieferen Einblick in vergangene Kulturen geben kann.

Zu Christopher Clark: Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog.

Im Jahr des Bildungsbürgers gibt es genauso Highlights wie für andere Bevölkerungsschichten Events inszeniert werden, um sie bei der Stange und bei Laune zu halten. Ich weiß nicht, ob die systemstabilisierende Funktion unserer Eventkultur schon mal jemand genauer untersucht hat. Aber darum soll es jetzt nicht gehen. Das Event des intellektuellen Bildungsbürgers im Jahr 2014 ist die 100. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkriegs. In der Bahnhofsbuchhandlung in der Nähe findet man ein Themenheft dazu aus so ziemlicher jeder Reihe, die den Markt für historisch Interessierte bedient. Wem das zu seicht ist, der greift zu schweren Wälzern, die mir letzter Zeit viel häufiger im  Bücherregal zu stehen scheinen als früher. Lesen die Menschen heute mehr? Schreckt ein dickes Buch den doch eigentlich Leid- und Langeweile geprüften Leser von Martin Walser nicht mehr ab, verlangt er vielleicht gerade ein schön dickes Buch, weil es mehr Prestige verspricht oder sonst einen äußerlichen Vorteil erhoffen lässt? Gibt es heute mehr zu sagen also vor 15 oder 20 Jahren? Oder wird einfach mehr Geschwätz gedruckt, das man sich auch schenken könnte? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass auch ich Schwierigkeiten habe, mich dem Event Erster Weltkrieg zu entziehen. Allein schon deshalb, weil mich dieses historische Ereignis und vor allem seine Vorgeschichte schon viele Jahre beschäfigen. So kompliziert die unmittelbare Vorgeschichte dieses Krieges ist, ich dachte, ich wüsste einigermaßen Bescheid. Nachdem ich Clarks Buch gelesen habe, muss ich feststellen, dass ich kaum einen Anflug von Ahnung von dem hatte, was man die Julikrise nennt.

Lothar Machtan: Prinz Max von Baden. Der letzte Kanzler des Kaisers

2014 ist viel von 1914 und dem verheerenden  1. Weltkrieg die Rede. An dessen Ende lagen die Kronen der Fürsten auf den Straßen, aber niemand wollte sie aufheben, schrieb Lenin einmal. Machtans Biographie ist einem Mann gewidmet, der in den letzten Tagen und Wochen des  Ersten Weltkriegs im Deutschen Reich eine besondere Rolle gespielt hat. Prinz Max von Baden befindet sich im Zentrum des untergehenden Kaiserreichs und hatte die undankbare Aufgabe, das verrottete Reich abzuwickeln, ohne dass Deutschland in einem Bürgerkrieg versank. Da ist es doch ziemlich erstaunlich, dass es wenige Biographien zu diesem Mann gibt, vielleicht weil man in ihm keinen die Umstände bestimmenden Faktor auf das Geschehen sah, ja ihn im Grunde für einen armen unglücklich agierenden Tropf hielt, den der Mangel an Alternativen auf den Posten des Reichskanzlers gespült hat, wo er gegen die wahren Machthaber im Jahre 1918, die Leiter der OHL, allen voran Hindenburg und Ludendorf, keine Chance hatte, Akzente zu setzen. Viele hielten ihn auch einfach für einen Schwächling. Diese Biographie ist nun keine Rehabilitierung eines Verkannten, sondern bestätigt im Grunde die vorherrschenden Klischees und Vorurteile, stellt diese aber auf eine solide historische Basis. Diese Basis hätte noch fester sein, können, wenn das Haus Baden Herrn Machtan Einblick in bislang unter Verschluss gehaltene Dokumente gewährt hätte. Die Erklärung, sich selbst erst ein Bild machen zu wollen, lässst Machtan erst einmal im Raum stehen, um am Ende des Buches den aus seiner Sicht plausiblen Grund anzudeuten.  Machtan deutet an, dass das Haus Baden sich in der Zeit nach dem Untergang des Kaiserreichs mit ziemlich unlauteren Mitteln einen Großteil seiner Güter und Vermögenswerte gesichert habe, was man mit der Weigerung gewisse Dokumente freizugeben, zu vertuschen suche.

David Abulafia – Das Mittelmeer. Eine Biographie

Ein seltsam anmutender Titel. Wie kann man eine Biographie eines Meeres schreiben, wird man sich fragen. Und in der Tat, es ist keine Biographie eines Meeres, sondern eher eine Biographie seiner Anwohner. Abulafia beschreibt einen großen historischen Bogen: von den Spuren der ersten Siedlungen am Mittelmeer bis hinzu den von Touristen überquellenden Stränden Spaniens und anderer touristischer Gebiete. Den Fokus legt Abulafia auf Zeit des Mittelalters. Diese Abschnitte sind in meinen Augen auch die besten des Buches, was nicht weiter verwundert, ist Abulafia doch Spezialist für die Geschichte des Mittelmeers im Mittelalter. Hinten raus bleibt von der Dichte der Erzählung in den Passagen über das Mittelalter nur noch wenig übrig. Schmerzhaft kurz sind die Passagen über das 20. bzw. 21. Jahrhundert. Allerdings muss ein solches Werk raffend, auswählend sein, sonst verliert sich solch ein umgreifendes Werk im Uferlosen. Zwar kommt einem in diesem Buch vieles bekannt vor, denn bestimmte Abschnitte aus der griechisch-römischen Antike gehören zu den ausgetretenen Pfaden der Geschichte. Dennoch gelingt es Abulafia, eine wundervolle Geschichte des Mittelmeers zu erzählen, für die man sich gerne Zeit nimmt. Die deutsche Übersetzung trägt ihren Teil dazu bei, den Leser für diese großartige Geschichte einzunehmen. Aus unserer an Geschichten armen Zeit ragt dieses schöne Werk positiv heraus. Schön ist ebenfalls die Grundthese des Buches, dass es nämlich die Diversität verschiedener Völker, Kulturen und Religionen ist, die das Mittelmeer positiv geprägt haben und eben nicht die vielen oft gescheiterten Versuche, Einheitlichkeit sei in ethnischer oder religiöser Hinsicht zu schaffen. Gerade in den großen Handelsstädten, die im Laufe der Jahrtausende rund um das Mittelmeer geblüht haben, ist es die Diversität, die dieses Aufblühen erst ermöglichte. Welch ein schöner Gedanke auch für unsere globalisierte Welt. Unsere Unterschiedlichkeit ist unsere Stärke, wenn wir in der Lage und willens sind, sie bei unserem Gegenüber zu aktzeptieren.

Johann Gottfried Herder und der deutsche Buchmarkt

Herder ist einer der bedeutendsten Köpfe der deutschen Aufklärung, ja der deutschen Geistesgeschichte überhaupt, Ein Mann, dessen Werk eine unglaubliche Wirkung entfaltet hat, und das nicht nur auf den jungen Goethe.

Über die Bedeutung von Johann Gottfried Herder braucht man nicht zu streiten, er gehört zu den ganz Großen. Dennoch exisitiert auf dem deutschen Buchmarkt, der jedes Jahr 100.000 Bücher neu auf den Markt wirft, soweit ich sehe, keine moderne, kompakte, wissenschaftlichen Standards genügende Ausgabe seiner Werke, die für einen akzeptablen Preis erhältlich wäre. Die Ausgabe des Hanser Verlages nimmt 80 bis 100 Euro pro Band, die beste moderne Ausgabe des Deutschen Klassikerverlages (ich glaube 10 bändig) 100 bis 120 Euro pro Band. Einzelausgaben bestimmter Werke sind selbstverständlich erhältlich, so z.B. bei Reclam.

Neil MacGregor – Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten

Ein beeindruckendes Stück Buch liegt davor einem. Wuchtig und schwer, 800 Seiten dickes Papier. Es soll sicherlich auch ein Gegenstand zum Repräsentieren sein, einer, mit dem man Bildung vorweist, sich als historisch-kulturell Interessierter positioniert. Darüberhinaus ist es aber auch einfach ein schönes Buch, das man gern in der Hand hält,  auch wenn es aufgrund seines Formats etwas unhandlich ist. Der Autor ist (zumindest war er das beim Erscheinen des Buches) Direktor des Britischen Museums in London. Er stellt in diesem Buch 100 Objekte aus dem riesigen Fundus des Museums vor, anhand derer er die menschliche Geschichte ausschnittsweise darstellt. In 100 Kapiteln beschreibt er nicht nur die einzelnen Objekte, stellt sie in ihren historischen Zusammenhang und verknüpft sie mit anderen Gegenständen aus anderen Teilen der Welt oder aus verschiedenen Zeiten, vielmehr schafft er es dadurch, die vielen Gemeinsamkeiten der so zahlreichen menschlichen Kulturen und Zivilisationen gerade in der ungeheuren Vielfältigkeit und Diversität kultureller Erzeugnisse deutlich zu machen. So entsteht ein liebenswertes Buch, das vielleicht nicht die zünftigen Historiker verschiedenster Spezialgebiete zufrieden stellt (dafür sind die Beschreibunungen und Interpretationen der Gegenstände zu einfach, was aber dafür dem ursprünglichen Anlass, einer Radiosendung der BBC, sehr gut entspricht), dafür aber alle historisch Interessierten faszinieren kann. Dass dem ein oder anderen das eine oder andere Objekt zu fehlen scheint, liegt in der Natur einer solchen Zusammenstellung. Das muss man aushalten oder das Buch aus der Hand legen.
Das Buch ist aber auch ein Zeugnis der Vergeblichkeit menschlicher Anstrengung. Wieviel Kunstfertigkeit, wieviel materieller, produktiver oder kognitiver Aufwand steckt nicht in diesen Objekten, die alle einmal zu einem bestimmten Zweck hergestellt und verwendet wurden. Hergestellt von Menschen , die in Kulturen gelebt haben, von denen oftmals nicht viel mehr geblieben ist als ein paar dieser Artefakte wie zum Beispiel der Ritualsitz der Taino, einer untergegangenen Kultur in Mittelamerika. Hergestellt um Göttern oder Königen zu huldigen, deren Namen heute niemand mehr kennt, deren Religionen, Tempel, Reiche und Paläste vergessen und zerstört sind. Da kann man ruhig mal melancholisch werden. Aber daneben ist es auch ein eindrucksvoller Beleg für die Unerschöpflichkeit der menschlichen Kreativität in allen Bereichen menschlicher Kultur und somit ein Buch, das letztenendes den Menschen in erster Linie als kulturschaffendes Wesen begreift, was einen eher hoffnungsvoll statt melancholisch stimmen sollte.

Wo Geschichten spielen

Letzte Woche habe ich Beilage in ZEIT zur Frankfurter Buchmesse durch geblättert und ein paar Rezensionen überflogen. Mir fielen die Bände von Zoe Jenny und Ann Cotton auf. Beide Bände versammeln Erzählungen.  Auffallend war, an wie vielen unterschiedlichen Orten die einzelnen Geschichten offensichtlich spielen. Marokko, Kreuzberg, eine Straße in New York und was weiß ich wo noch. Offenbar ist ein deutlich zu identifizierender Schauplatz der Handlung stets vorhanden. Es wirkte auf mich so, als seien diese Schauplätze notwendig für die jeweilige Geschichte. Ich kenne keine einzige dieses Geschichten, die natürlich Erzählung genannt werden, aber ich bin mir sicher, dass der Ort der Handlung für keine gute Geschichte notwendig ist. Man erinnere sich an die Kurzgeschichten Wolfgang Borcherts ( ich erspare mir eine Liste mit weiteren Beispielen). Diese brauchten auch keine  präzise Ortsangabe,  um ihre eigene Faszination zu entwickeln. Eine  Bank in einem Park, ein zerbombtes Haus irgendwo in Deutschland, ein Bahnhof mitten in der Nacht. Das reicht als Ortsangabe völlig.  Neuere und  neueste „Erzählungen“ aber brauchen wohl eine präzise Ortsangabe. Vermutlich um Aufmerksamkeit zu erregen und um persönliches wie soziales Interesse und Prestige auf Seiten der Leserschaft zu erregen. Eine Geschichte, die nicht an Orten spielt, die interessant, cool, hipp oder exotisch sind, scheinen nicht von Interesse. Was am Times Square spielt, muss wichtig sein, was in Kreuzberg spielt hipp. So wird die Ortsangabe zum Tand, zum Accessoire, das der auf Äußerlichkeiten bedachte „Leser“ zur Schau stellt, um seine ganz persönliche Individualität auszudrücken. Umgekehrt kann ein solcher Leser an den Schauplätzen ermessen , ob der Inhalt literarische Qualität verspricht, denn was weit weg ist, oder an bekannten Orten spielt muss wohl auch bedeutend sein. Die exzessive Verortung von Geschichten für mich eher ein Zeichen von Einfallslosigkeit als ein Qualitätsmerkmal.

Haruki Murakami – Hard-boiled Wonderland oder das Ende der Welt

Oft ist mir der Autor empfohlen worden, bisher habe ich das aber ignoriert. Japanisch ist mir so fremd, dass ich nicht mal glauben kann, wie man einen japanischen Text überhaupt ins Deutsche übertragen kann. Aber offensichtlich funktioniert dies ja auch (mehr schlecht als recht zwar) bei Anleitungen für Handys, Drucker, Spülmaschinen und Fernseher. Ich kann meine Vorbehalte gegenüber dem Autor nicht begründen, ehrlich gesagt. Dennoch hätte ich mir kein Buch von ihm gekauft. Dieser Roman war ein Weihnachtsgeschenk, das ich letzte Woche wieder zur Hand nahm. Ich war dankbar für das Geschenk, weil es mir die Gelegenheit bot, mich mit einem Autor auseinanderzusetzen, den ich sonst weiterhin ignoriert hätte.

Wörterbücher

Selten, ganz selten poste ich mal einen Link hier. Aus Abneigung vor allem vor Blogs, die aus kaum etwas anderem bestehen als Links und so die sinnlose, zeit- und resourcenfressende Redundanz des Internets noch weiter steigern. Also hier ist er: http://woerterbuchnetz.de/

Eric Hobsbawm – Gefährliche Zeiten

Am 1.10.2012 starb der Historiker Eric Hobsbawm. Kurz darauf fiel mir seine 2003 auf Deutsch erschienene Autobriografie in die Hände. Autobiographien von Historikern sind im Allgemeinen keine besondes reizvolle Lektüre, wenn man sich nicht für die jüngere Geschichte des Fachs interessiert. Im vorliegenden Fall ist das anders. Kaum einer war präsdestinierter, um den Beruf des Historikers zu ergreifen als E. Hobsbawm. Geboren in Ägypten zu Beginn des letztens Jahrhunderts als Sohn eines Engländers und einer jüdischen Wienerin, wuchs er in Mitteleuropa auf in einer Zeit, in der alles in Bewegung schien, Altes endgültig untergangen war und Neues seine dunklen Schatten sehen ließ. Irgendwann 1933 siedelte Hobsbawm von Berlin nach London, um dort die kommenden Jahre bis 1945 zu verbringen. Es sind die ersten Kapitel des Buches, die von dieser Zeit handeln und es sind auch die spannendesten. Früh zum Kommunismus bekehrt bewahrte er sich diesen Standpunkt bis an sein Lebensende, wenn auch natürlich nicht unreflektiert. Gerade die Reflexion über den eigenen weltanschaulichen Ort, von dem aus man die Welt betrachtet und als Historiker auch zu erklären hat, die sich durch das gesamte Buch zieht, macht es so lesenswert, wird man doch Zeuge vom Untergang eines politischen Experiments und der damit zusammenhängenden Demontage der dahinter stehenden Weltanschauung, die sich von dem Schlag, den ihr der real existierende Sozialismus versetzt hat, nie mehr erholt hat. Bemerkenswert ist es zu sehen, wie die Geschichte dieser Ideologie Hobsbawm zeitlebens in einem Prozess der kreativen Reflexion gezwungen hat, der einerseits eine Neubewertung der eigenen Standpunkte notwendig machte, ohne die tiefen Überzeugungen zu verlieren, wegen denen man sich einst vom Kommunismus angezogen fühlte. Am Ende steht die Einsicht, dass die Ideologien des Leninismus und Stalinismus, Trotzkismus  alle gescheitert sind, weil sie Ideale in bestimmter politischer Absicht instrumentalisierten, die, wenn man genau hinsieht, im Grunde gar nicht mal spezifisch kommunistische sind: Solidarität mit den Schwachen, Bemühen um eine gerechte Gesellschaft, Kampf gegen Unterdrückung, Freiheit, Brüderlichkeit. Hobsbawm hat an diesen Idealen festgehalten und für diese gestritten; und nebenbei noch eine ganze Reihe beeindruckender Werke verfasst, die aus seinen Überzeugungen keinen Hehl machen und die gerade deshalb so lesenswert sind, weil sie ein Urteil  nicht scheuen, vor dem so viele andere Historiker zurückschrecken, vielleicht weil sie noch immer dem Glauben anhängen, es gäbe eine historische Wahrheit außerhalb des Kopfes des Historikers. Ob man der Überzeugung von Hobsbawm Sympathie entgegenbringt oder ihr kritisch gegenüber steht, ist unwichtig. Es kommt darauf an, sich an Urteilen zu reiben und sich selbst einem vielleicht schmerzhaften Prozess der Verortung (politisch wie historisch) auszusetzen, der einen am Ende verändert haben wird.

Eric Ambler – Der Levantiner

Als Remittende in einem Regensburger Antiquariat neben einem Stapel anderer Bücher erstanden, stand das Buch eine ganze Weile bei mir im Regal in der Reihe der noch ungelesenen Bücher. Der Roman spielt zu Beginn der 70er Jahre im Nahen Osten. Er handelt von einem Engländer mit orientalischen Wurzeln, der rund ums östliche Mittelmeer eine großes Familienunternehmen leitet. Dieser Geschäftsmann,  Michael Howell, gerät in den Strudel der undurchsichtigen politischen  Umwälzungen,  die sich in dieser Region seit der Gründung des Staates Israel ereignet haben. In dem Versuch das Überleben des Geschäfts zu garantieren, biedert er sich den neuen sozialistischen Herren in Syrien an, die er in seinem Sinne zu instrumentalisieren sucht. Er gerät dabei aber in bedrohliche Nähe zu einer der zahlreichen  palästinensischen Terrorgruppen und wird unfreiwillig zu ihrem Helfershelfer. Es spielt sich eine rasante Story vor einem  historische  Hintergrund ab, der gerade angesichts der heutigen Geschehnisse in dieser Region die Verwickeltheit und das politische Chaos zeigt, das diese Region sind seit Jahrzehnten prägt.  Alle Fronten gehen durcheinander, sodass der Begriff Front selbst zum Irrwitz wird. Ideologien, wirtschaftliche Interessen, Religionen, Ethnien im Strudel gegenseitiger Konfrontation und gleichzeitiger zweckgebundener Kooperation. Und mittendrin der Westen, der an dem Chaos einiges an ursprünglicher Verantwortung trägt und verzweifelt, glück- und erfolglos agiert, die Unordnung am Ende noch steigert in seiner Arroganz und seinem Irrglauben, die verschiedene Parteien in seinem eigenen Sinne beeinflussen zu können.  Amblers Buch ist in unseren Tagen nicht nur ein Propädeutikum des Nahostkonflikts, sondern vor allem eine deprimierende Parabel einer weltpolitischen Farce.

Eugen Ruge -In Zeiten abnehmenden Lichts

Ein Familienroman. Als Buddenbrooks der DDR wurde dieser Roman von einer Kritikerin der Zeit bezeichnet. Der Klappentext führt das Zitat stolz auf. Wohl als Qualitätsmerkmal. So weit sollte man vielleicht nicht gehen, denn außer dass Ruges Buch ein Familienroman ist, hat er nichts mit den Buddenbrooks gemeinsam. Inhaltlich natürlich überhaupt nichts, aber auch von der Anlage her sind beide Bücher weit von einander entfernt. Was auf keinen Fall gegen Ruges Roman spricht, im Gegenteil. Der Roman ist modern flott erzählt,  manchmal ein wenig zu elliptisch, ein bissl zu sehr auf Pop getrimmt. Die Aufarbeitung der DDR im Medium des Familienromans ist in meinen Augen eine gute Idee, weil sie der Thematik die Schwere nimmt, das Politisch-Gesellschaftliche vom Privaten aus ein gutes Stück subjektiviert. Erzählt wird die Geschichte einer Familie, in der sich nicht nur die gesamte Geschichte der DDR spiegelt,  sondern die vor allem eine Typologie der Erwartungen, Hoffnungen, Illusionen spiegelt, die sich an der mittlerweile Gott sei dank ins Historische versunkenen DDR angelagert haben. Die Richtung ist deutlich: Hoffnung und Zuversicht, aber auch Opportunismus und Spießertum bei der ersten Generation von Charlotte und Wilhelm, Anpassung und zunehmende Resignation in der zweiten um Kurt und Irina, Unreflektiertes aus der Kindheit und und zunehmende Desillusioniertheit, aber auch Ablehnung beim zweit jüngsten Spross der Familie, Alexander. Gut getroffen ist die Gedankenwelt von Alexanders Sohn, irgendwo zwischen brutaler Unkenntnis der eigenen Vergangenheit und Naivität. Der Roman läuft bisweilen Gefahr, sich aufgrund der wechselnden Episoden und Perspektiven im Beliebigen zu verlieren. Aufgefangen wird das eine Weile lang durch die gute Idee, die Geburtstagsfeier zu Wilhelms 90. aus der Perspektive der meisten Familienangehörigen zu schildern. Das gibt dem Roman ein Zentrum. Diese Geburtstagfeier zeigt die Typen, ihre persönlichen Einstellungen zur DDR und verdichtet somit den auseinander driftenden Roman. Im Grunde spiegelt diese Szene bildhaft gedrängt das Schicksal eines ganzen Staates, inklusive der zweckentfremdeten Verwendung von Charlottes Tropfen. Auch deshalb wird man nicht umhin können, diesem Ereignis zentrale Bedeutung beizumessen.
Gut gelungen und in einem schönen Kontrast zu dem öden, grauen überorganisierten durchkontrollierten Leben in der DDR stehen die Abschnitte, die Alexanders Aufenthalt in Mexiko schildern, Wie dreckig, chaotisch, laut, schrill und bunt ist da alles. Alles geht durcheinander, ohne Plan, ohne Ziel, ohne Vision, aber dafür mit der ungembremsten Wucht der westlichen Freiheit. Das Ende führt in der Verschmelzung des Autors mit dem eigentlichen Protagonisten des Romans aus der Fiktion hinaus ins Historisch-Dokumentiernde, was dem Roman nichts von seiner Bitterkeit nimmt, die man den Autor am Ende in der Melancholie der Erinnerung an das eigne Leben erfolglos zurücknehmen meint.
Ein guter Roman, der aber ein wenig daran krankt, dass es einem schwer fällt, zu einem der Protagonisten Sympathie aufzubauen. Der Vergleich mit den Buddenbrooks entbehrt vor allem darum jeder Grundlage, da hier im Gegensatz zu dort, vor allem dem korperliche und geistige Verfall der Figuren im Vordergrund zu stehen scheint. Der Niedergang einer Familie ist hier streng genommen nicht zu beobachten, da Familie hier nur als ein oberflächlich und äußerlich durchgeführtes Konzept bei den Umnitzers erscheint. Alle Familienmitglieder erscheinen kalt, keiner hegt für den anderen Sympathie oder gar Zuneigung, ja, je weiter der Roman fortschreitet desto deutlicher wird, dass der soziale Verband nicht aufgrund des Niedergangs der DDR zerfällt, sondern weil die „Familie“ Umnitzer von Anfang an eine Lüge war. Somit löst der Tod mit der Zeit auch die letzten (Ver-) Bindungen.

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