Wheeler, Briggs, Schloss & The Strokers

Ein Kollege hat mir letztens diese CD ausgeliehen, nach dem Sean Wheeler, Zander Schloss und Pascal Briggs im Antifa-Cafe „Gegendruck“, einer echt winzig kleinen Klitsche in der Altstadt von Heidelberg, akustisch aufgespielt haben. Die Platte habe ich die letzten Tage im Auto  rauf und runter gehört, mit zunehmender Begeisterung. Sie besticht durch die ersten Songs, die handgemacht folkig daherkommen und später sumpfig-rockig-punkigen Klängen weichen und dann in recht melancholische, leise Töne umschlägt. Es ist diese Mixtur und das Erdverbundene, das mich an der Platte fasziniert und betört, anders kann ich es nicht ausdrücken. Am besten tatsächlich mal bei Amazon reinhören! –  An dieser Stelle möchte ich mal auf einen fellow-blogger verweisen, der dieses neue Projekt  um Pascal Briggs (Ex-TV Smith) mit ihrer neuen Platte noch ausführlicher würdigt.

Bulgakows Meister und Margarita in der Durlacher Orgelfabrik II

Durchaus konsequent reiht sich der Bulgakows „Meister und Margarita“ in der Aufführungsgeschichte der Durlacher Orgelfabrik ein; nach Kafkas Werken (Das Schloss, Der Proceß, Verwandlung) und Thomas Manns „Tod in Venedig“, um nur einige Stücke der letzten Jahre zu nennen, hat sich das Autorenteam Franco Rosa und Gabriele Michel wieder an eine Adaption eines großen düsteren Romanes gewagt. „Meister und Margarita“, 1940 geschrieben, danach jahrlang in der Sowjetunion auf dem Index und erst 1966 veröffentlicht, ist eine Satire auf die starr-bürokratische, dogmatisch-atheistische Sowjetunion und die geknechtete Kunst- und Kulturszene Moskaus. Die Orgelfabrik mit ihrem rauen, früh-industriellen Charme bietet für diesen Roman ein hervorragendes Setting. Die Architektur der Orgelfabrik  mit seinen vielen unterschiedlichenen Ebenen war entsprechend hervorragend genutzt und das Bühnenbild bis zum kleinsten Detail stimmig. Ein wahrer Augenschmaus! Die Umsetzung der Romanhandlung in ein Bühnenstück jedoch war erwartungsgemäß holprig. Da der Roman an sich schon expressionistisch dissoziiert anmutet und sehr stark von der Aneinanderreihung von surrealen Sequenzen und einem komplexen Geflecht von Handlungssträngen lebt, ist auch das Tempo des Stücks rasant, die Anzahl der Szenenwechsel beträchtlich und die Handlung durch die Überfülle der Eindrücke und Szenen ohne Lektüre des Buches nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Vielleicht wäre hier eine noch stärkere, radikalere Reduktion der Romanhandlung vonnöten gewesen, da das Stück bisweilen etwas überfrachtet erschien. – Videosequenzen sind an vielen Bühnen der letzte Schrei. Ihr Einsatz muss jedoch  motiviert sein. Weswegen die Truppe die Vorgeschichte der Beziehung des Meisters zu seiner Margarita gerade mit dieses Medium darstellt, erschließt sich dem Zuschauer nicht. Was auf der Bühne spielbar ist, muss gespielt werden! Eine Effekthascherei mit dem willkürlichen Einsatz von Medien hat die Orgelfabrik nicht nötig. – Die Stärke des Orgelfabriktheaters ist das hervorragende Ensemble, das mit ihrer Schauspielkunst, ihren Dialogen und Monologen brillierte. Mehr davon! Weniger „action“ hingegen wäre bisweilen ratsam gewesen! Die Umsetzung der surrealen und bedrohlichen Sequenzen im Buches, z.B. die Zaubervorstellung des Herr Volands und seiner Hexen, wirken hingegen überzogen und klaumaukhaft. Das Bedrohliche und Beklemmende, das im Buch im Hexentreiben spürbar wird, verschwindet im Stück an einigen Stellen gänzlich. – Im Ganzen muss man sagen, dass das ehrgeizige Unterfangen „Meister und Margarita“ für die Bühne leider nur mäßig geglückt ist. Bei einer Umarbeitung eines solchen Romanes wie „Meister und Margarita“ möge sich das Autorenteam auf die Stärken der Truppe besinnen, noch mehr riskieren beim Umschreiben der Vorlagen und bei schwer umsetzbaren phantastischen Szenen darauf achten, dass man nicht zu publikumsgefällig wird und dem Klamauk erliegt. Nichtsdestotrotz, ein Theaterbesuch in der Orgelfabrik  ist alleine Dank der starken schauspielerischen Leistung des Ensemles und den Räumlichkeiten der Orgelfabrik stark anzuraten.

Flares, sticks, snooker-balls – Studentenproteste in London

Ganz im Einklang mit der UK-Snooker-Championship finden rund um die parlamentarische Debatte um die Erhöhung der Studiengebühren in Groß-Britannien zur Minute massive Demonstrationen vor dem britischen Parlament statt. Erwartet wird ein Beschluss des „House of Commons“, der Studiengebühren auf bis zu £9,000 pro Jahr festsetzen soll. Tausende von Studenten und Sympathisanten wehren sich gegen den bevorstehenden Paralamentsbeschluss und wollen mit ihren Protesten darauf aufmerksam machen, dass dadurch vielen jungen Menschen der Zugang zu Hochschulen und Bildung verwehrt wird. Bemerkenswert ist hierbei nicht nur die Vehemenz mit der die Studenten im Londoner Parlamentsviertel streiten, sondern auch die kulturspezifischen Mittel, die hier zum Einsatz kommen: So sieht man in der Berichterstattung bezeichnenderweise Snooker-cues und Snookerkugeln als lebensgefährliche Geschosse durch die Luft schnellen. Schließlich ist Snooker ja der englische Nationalsport schlechthin!  Wenn, was in absehbarer Zeit der Fall sein wird, Studiengebühren in Deutschland ebenfalls in diesen Dimension steigen, stellt sich für mich die Fragen, ob sich deutsche Studenten ebenfalls mit ähnlicher Entschlossenheit auf die Straße bemühen und mit welchen Gegenständen sie dann werfen werden.

Duden-Stechen 4: erschossen sein wie Robert Blum

„erschossen sein wie Robert Blum“ – sich überanstrengt (erledigt) fühlen, kraftlos,völlig erschöpft, „am Ende“ sein.

So übersetzt Röhrich in seinem Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten dieses Sprichwort.  Verwendet wird diese idiomatische Wendung angeblich vor allem, um eine aussichtslose Lage eines jemanden auf mehr oder weniger scherzhafte Art und Weise zu bezeichnen.

heimweg

draußen regnet und windet es einem schräg ins gesicht. trotzdem ziehen die kinder mit ihren eltern und ihren hellerleuchteten st. martins-laternen durch den abendlichen schlosspark. das pferd des heiligen st. martins wollte gerade partout nicht zurück in seine box, ließ sich weder nach vorne noch nach hinten manövrieren. den großen moment des mantelzerteilens, den habe ich wohl verpasst. eine sehr schöne geschichte, wie ich damals schon als kind im kindergarten fand, sehr rührend; ich kann mich sehr lebhaft und eindringlich an ein großes roßkastanienbraunes pferd und den samtroten mantel erinnern, der reiter hoch zu roß und der zerlumpte bettler sind in der erinnerung allerdings stark verblasst. eine gutes bild aus den kindergartentagen, die sonst nicht unbedingt immer erfreulich waren. – am wochenende ist st. martins-markt im gewöbe des durlacher rathauses mit vielen kleinen beschaulichen kleinigkeiten und pitoresken, bunten geschenkideen, fein-gehäkelte seelenwärmer für die kalten monate. zwei wochen später fängt dann schon der mittelalterliche weihnachtsmarkt an mit feuerspuckern, gauklern, handwerkern, met etc. gefühlt immer etwa drei monate zu früh. immer was los in durlach. – es glänzt und spiegelt in den pfützen vor nässe, die autos zischen durch den regen. die leute sind alle eingemummelt in ihre mäntel, jacken, schals, zu dreiviertel unter ihren dunklen regenschirmen versteckt, wetzen sie alle nach hause. es ist aber auch plötzlich ziemlich kalt und klamm geworden. zeit für zuhause und feierabend. die eckkneipe zum rössel ist rappelvoll, die fenster beschlagen, die zeit dadrin vor vierzig jahren stehengeblieben, jedenfalls was die inneneinrichtung und die gäste am thresen anbetrifft. naja, sie scheinen ganz happy zu sein mit der bierblume oder der flasche in der hand. dann mal prost! – schnell noch zum brieflkasten: ikea-werbung, ein, zwei rechnungen. mein nachbar links hat einen hellerleuchteten kürbis in seinem fenster stehen. bin mir nicht sicher, ob er böse oder eher etwas einfältig dreinschaut. es sind die schräg nach obern gezogenen augen, die ihn dann doch wohl eher bedrohlich rüberkommen lassen. nehme mir vor, am wochenende physiognomie-studien an hokaido-kürbissen zu betreiben. – die fenster von den nachbarn rechts sind mit den oppulenten kandellabern und kerzen ausgesprochen freundlich aber überladen. – so, eingangsflur. die sizilianischen nachbarn von unten im haus kochen lecker, irgendwas mit zwiebeln und knoblauch, etwas tomatiges, noch etwas undefinierbares, weiß nicht was. der junge von denen hat etwas angst vor mir seitdem er weiß, dass ich lehrer bin. schlimm, wie einem der ruf vorrauseilt… schon blöd! – der weiße perserkater, der ab und zu mal herzzerreißend im flur miaut und zu der netten, alten dame um obersten stock gehört und sich neugierigerweise bisweilen bin in die wohnungen der anderen mieter vortraut, begleitet mich bis zum zweiten stock, vor meine tür. weiter mag er heute nicht. auch gut. bei mir ist eh grade etwas staubig. sonst wird der weiße kater noch grau.

Oscarnominierung für Michael Hanekes „Weisses Band“

Gestern ist Hanekes „Weißes Band“ für den Oscar nominiert worden und das gleich zweimal: zum einen für „Bester fremdsprachiger Film“ und dann noch für „Beste Kamera“. Ohne zu wissen was die Mitbewerber aus Argentinien, Peru und Israel zu bieten haben, denke ich, dass Haneke eine ausgezeichnete Chance hat.

Hanif Kureishi: „The Buddah of Suburbia“

buddha

buddha

Hanif Kureishi hat mit dem „Buddah der Vorstadt“ einen durchaus gelungenen Initiationsroman geschrieben, der vor allem durch Kureishis grandiosen Humor und durch die Schilderung einer Jugend besticht, die sich vor dem Hintergrund der musikalischen und politischen Entwicklungen im London der 70er Jahre abspielt.
Protagonist ist Karim, der Sohn des Pakistani Haroon und einer englischen Mutter, der sich gelangweilt vom Leben in den südlichen Vororten Londons auf die Suche nach dem ultimativen Kick, nach einem Lebensweg und einer Identität macht und dabei immer wieder knallhart auf die heuchlerische Realität der Erwachsenenwelt stößt. Als Haroon, Karims Vater, in einem esoterischen Anfall zum „Buddah der Vorstadt“ mutiert, Meditations-Kurse und Selbstfindungsabende für die überreizte und hyper-neurotische Londoner Oberschicht anbietet, und auf diesem Weg die Familie für die hippy-eske Eva verlässt, zerbricht Karims Welt zunächst unbemerkt. Im Laufe des Romans zieht Karim mit seiner neuen Familie (Haroon, Eva und Stiefbruder Charlie) nach London, erlebt dort den Aufstieg zu einem erfolgreichen Schauspieler, wird Zeuge der rassistischen Ausschreitungen der „National Front“, erhält Zugang in die Welt der freien Liebe und erlebt im Rausch der Drogen und der Hippie- und New Art-Musik die Geburt des New Wave und des Punk. Die Figur des Stiefbruders Charlie „Hero“ macht Karriere als Musiker und zeichnet die Lebensgeschichte David Bowies nach.

Helmut Krausser: Fette Welt


Aus irgendeinem Grund war ich davon überzeugt, dieses Buch noch nicht gelesen zu haben. Bereits nach den ersten Zeilen kehrte die Erinnerung zurück und Kraussers markante Roman-Gestalten wankten mir wieder aus dem nebulösen Nichts in 3-D entgegen. Zu dem Zeitpunkt hat mich die „Fette Welt“ erneut am Genick gepackt, geschüttelt (vor Ekel und Lachen) und bis zum Zuklappen des Buches nicht wieder losgelassen, wie bereits schon mal vor wohl zehn Jahren. Ich muss sagen, es hat mich zutiefst amüsiert, dieses Buch erneut zu lesen.
Held des Buches ist Hagen Trinker, ein defätistischer Wahl-Penner und selbsterklärter Poet in der Nobel-Stadt München, der fetten Welt des Romans. Aus der bürgerlichen Welt zieht dieser zynische Anti-Ritter zu Beginn des Romans aus Verachtung ganz aus und erlebt – gelegentlich von seiner so genannten Familie, einem bunten Sammelsurium von Randexistenzen, begleitet, – so manche Aventiure. Hagen Trinker trinkt sich einen, dichtet und philosophiert unterwegs über die Scheiß-Welt und ihre Existenz, reißt die Brücken hinter sich ein und verliebt sich in die sechzehnjährige Ausreißerin Judith, arbeitet als Totengräber in einem Bestattungsinstitut und überfällt einen Supermarkt. Überschattet und getrieben wird die Hagen-Geschichte durch einen Serienkiller mit dem Decknamen „Herodes“, der in München sein Unwesen treibt und Kleinkinder in ihren Kinderwägen die Kehle durchschneidet. In Nacht und Nebel und im Fieber-Delirium kommt es zu Begegnungen und misantrophen Dialogen zwischen Hagen und Herodes, wobei unklar bleibt (und das ist ein phantastischer Kniff des Autors), ob es sich bei den beiden nicht um ein und dieselbe Person handeln könnte. Einer meiner erklärten Lieblingsszenen, früher wie heute, ist die Beerdigung des griechischen Jünglings, ein Vorbild für groteske Schreibkunst mit Slapstick-Charakter.
Das Buch (übrigens das letzte von Kraussers Hagen-Triologie) wurde gefeiert, daran kann ich mich noch erinnern. Nicht zuletzt waren die Öffentlichkeit und die Literaturkritik fasziniert von dem Autor, der nach eigenen Angaben und Klappentext selbst (halb-) freiwillig ein Jahr als Berber zugebracht hat, als Totengräber jobbte und währenddessen provinzialrömische Archäologie studierte. Entsprechend wird Krausser seit „Fette Welt“ von Literatur-Seminar zu Literatur-Seminar als einer der Vertreter „Junger Deutscher Literatur“ herumgereicht, liest und doziert dort vor einem Publikum, das zu diesem Humor wohl nur schwer Zugang haben sollte. Kraussers Penner-Welt und ihre Lebensäußerungen sind authentisch, wenn man sich dieses Urteil als Uneingeweihter erlauben darf. An einigen Stellen weht den Leser der muffige Geruch des Straßenlebens so real und poetisch an, dass man zugleich kotzen, lachen und staunen möchte. Faszinierend und somit das eigentlich interessante ist jedoch Kraussers Sprache, die intelligent ist, starke Bodenhaftung aufweist und in ihrer unkonventionellen Verspieltheit und ihrem Erfindungsreichtum den Leser verblüfft und immer wieder vor Lachen in den Sessel drückt.
„Fette Welt“ ist ein starkes Stück Gegenwartsliteratur, das ich in zehn Jahren gerne wieder lese, denke ich. Übrigens ist der Roman dann auch mit Jürgen Vogel als Hagen Trinker verfilmt worden. Wäre auch mal zu überlegen, sich das anzuschauen.

Daniel Kehlmann „Die Vermessung der Welt“

Bildungsbürgerlicher Scheißdreck oder literarische Sensation, wunderbare Satire auf die deutsche Klassik oder blasierte Schreibereien eines ehemaligen Philosophiestudenten mit mathematischen-naturwissenschaftlichen Ambitionen? Die Geister spalten sich anscheinend, wenn es um dieses Buch von Jungautor Daniel Kehlmann geht. So jedenfalls meine Erfahrung, wenn man mit Leuten darüber ins Gespräch kommt. Ich fand es jedenfalls echt nicht schlecht, ziemlich subtil und vor allem wichtig: Gut gelacht habe ich auch an einigen Stellen. Bei der „Vermessung der Welt“ handelt es sich um eine Doppelbiographie. Im Wechsel der Kapitel erzählt Kehlmann, meist sehr raffiniert in indirekter Rede seiner Figuren, die sehr skurrilen Lebenswege und Abenteuer zweier genialer deutscher Wissenschaftler: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauss. Beide begeben sich von unterschiedlichen Richtungen her kommend auf die Vermessung der Welt. Der eine von Seiten der Mathematik herkommend, der andere von Seiten der Naturwissenschaften. Der Leser erfährt einiges über den Lebenswandel der beiden: Während Humboldt durch den Dschungel robbt, fast an Selbstversuchen mit giftigen Pflanzen krepiert, unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte und auch fast seine Lebens Sechstausender in Lateinamerika und lavaspeiende Vulkane ersteigt, nur um dort Messungen vorzunehmen, denkt Gauss schon als 16jähriger die herkömmliche Geometrie an seine Grenzen, errechnet später sagenhafte Formeln und beweist nebenbei die Krümmung des Raumes. Beiden Helden kommen die genialsten Ideen und Erfindungen, sehr zur Erheiterung des Lesers, meist in den banalsten Situationen. Gauss unterbricht zum Beispiel den Beischlaf mit seiner Braut während seiner Hochzeitsnacht, um ein paar wichtige Formeln zu notieren. Die Braut und manch anderer, dem Gauss auf diesen 300 Seiten begegnet, fühlt sich im Umgang mit dem Mathematiker manches Mal wie von einem Pferd getreten. Beide Figuren sind in ihrem Streben, die Welt zu erkennen und rational zu druchdringen absolut kompromisslos und dadurch gleichzeitig weltfremd. Humboldt ist in auf seinen Expeditionen ein geistiger Verwandter von Aguirre, ein Fitzcarraldo, ein Mr Kurtz. Gauss ist der Inbegriff des irren Professors. Beide dringen durch ihre Forschung aus der Finsternis der Aufklärung hinaus, erahnen nebenbei das Ende des absolutistischen Zeitalters und treten in die lichte, entzauberte Welt der naturwissenschaftlichen Rationalität. Und das alles mit beschwingender Leichtigkeit. Kehlmann kann reduzieren, das ist wohl das vielleicht geniale Verdienst hier in diesem Buch. Er hat es geschafft, diese beiden vitae auf einige essentielle Zeitspannen herunterzukürzen, so dass in ihnen sehr schön und klar Mentalität, Zeitgeist an der Schwelle einer neuen Epoche sichtbar werden. Die mathematischen Ausführungen zu dem Gaussschen Treiben jedoch, seien sie noch so mühevoll simplifiziert und reduziert, habe ich aber natürlich wieder nicht verstanden. Ich sag nur: Mathe 1 Punkt.

Georg Kreisler – Gibt es gar nicht

Zugegeben: Diese Biographie über Georg Kreisler ist eine Liebhaber-Geschichte. Wer die bitterbösen Lieder des Wiener Chansoniers kennt und schätzt, wird sie sich früher oder später zur Brust nehmen. Trotzdem ist es kein Fehler, ihr eine Blogg-Besprechung zu würdigen, da es sich bei dem Herrn mit der schweren schwarzen Hornbrille (s. Bild) um eine faszinierende Persönlichkeit mit einer interessanten Künstler-Vita in einer spannenden Wirkungszeit, die der 40er und 50er Jahre, handelt. – Zunächst zur Person und seinem musikalischen Oeuvre: Kreisler wird 1922 in Wien geboren. Kindheit und frühe Jugend sind unglücklich. Der Vater ist zu streng und beharrt auf einem Brotberuf für seinen Sohnemann. Dazu ist er noch Jude. Mit der Familie flieht er nach der Annektion Österreichs durch das Dritte Reich in die USA, wo er seine musikalische Laufbahn am Konzertflügel aufnimmt und in typischen Humphrey Bogart-Bars und Kaschemmen spielt. Er wird eingezogen in die US-Army und zieht aus in den Krieg. 1955 kehrt er nach zahlreichen Misserfolgen nach Wien zurück und kommt als Kabarettist in der ausgehenden 50ern und in den 60er Jahren zu Ruhm. Kreisler schreibt „schwarze“ Chasons und hat für alles Etablierte und Bornierte, Heuchlerische und Angepasste ein böses poetisches Wort, eine verbale Ohrfeige übrig. Heute lebt Kreisler fünfundachzigjährig nach drei verschlissenen Ehen, von der Welt vergessen, in der Nähe von Salzburg. Er schreibt Opern, mehr zur eigenen Erfüllung als zur Aufführung. – Die Autoren des Buches, Hans-Jürgen Fink und Michael Seufert, führen den Betrachter zu den wichtigen Stationen in Kreislers Leben und das vor allem in Gestalt gut und amüsant geschriebener Anekdoten. In diesen ganzen kleinen Geschichten, die in den Zeit der großen Umwälzungen und an den faszinierendsten Settings wie Hollywood, L.A., Berlin und Wien im Nachkriegsdeutschland spielen, erscheint der kauzige Kreisler als rebellischer Anarcho-Musiker, der seine Lieder schreibt, mal mehr, mal weniger fürs Publikum. Und bevor man sich versieht erlebt der Leser die ganz große Weltgeschichte im Kleinen. Einige Stories seien mal erwähnt: Die Biographie beginnt beispielsweise mit dem Familienbetrieb in Wien, in dem das Fußpuder „Teddy“ hergestellt wird. Hier begegnet man kurz einem arbeitslosen Künstler und Graphiker mit einem lächerlichen Schnauzbärtchen, der gelegentlich Aufträge für Werbetafeln gegen Schweißfüße in den Strassenbahnen zeichnet. Nach der Annektion taucht bei der jüdischen Familie Kreisler/Hochberg die Gestapo auf und verlangt alle Skizzen des frischgebackenen Reichskanzlers und ehemaligen Werbedesigners Hitler zurück. In seiner Zeit als GI wird wird Kreisler mit Henry Kissinger zum Verhörspezialisten ausgebildet, über den Kreisler kein einziges gutes Wort verliert. Nach dem Krieg leitet Kreisler die Vernehmungen von Nazi-Exgrößen wie Streicher (Chef des Völkischen Beobachters) in Nürnberg. Dieser erinnert sich lediglich und sehr beharrlich daran ein vertrottelter Volksschullehrer zu sein (was ja so unrichtig nicht ist). Auch Göhring gehört zu seinen Schäfchen. Göhring will Kreisler zum persönlichen Mitstreiter gegen den Russen machen und kreuzt dann zum letzten Gespräch dann doch nicht mehr auf. Zurück in den Staaten tingelt Kreisler mit seinen schwarz-humorigen Shows durch die Kneipen in L.A. und macht sich bei dem amerikanischen Kleinbürgertum der 50er Jahre eher unbeliebt durch seine Lieder „My psychoanalyst is an idiot“, „Please shoot your husband“. Und wie immer in Hollywood kommt dann auch zum Film. Er schreibt Filmmusik für Charley Chaplin, spielt selbst in kleinen Nebenrollen in Filmen mit. Der große Durchbruch erfolgt dann jedoch in Wien. Das Lied „Taubenvergiften“ gehört zwar zu seinen größten und wohl bekanntesten Hits. Er selbst hasst es wie die Pest. Die Größe liegt in den unauffälligeren Liedern, in denen er oft virtuos klassische Musikstücke zitiert („Die Triangel“). In den 68ern schlägt er sich auf die Seite der Studentenbewegung und singt das Lied von der durchbrochenen „Bannmeile“ und „Wer schützt die Polizei“. Ungeachtet der Publikumswünsche wendet er sich dann Dadaistischer Wortspielereien zu („Max auf der Rax“) und macht seit den achziger Jahren konsequent sein eigenes Ding. – Wie angedeutet, zuletzt hörte man von Kreisler, dass er an einer ganzen Opernserie schreibt… und das nur für die Schublade. Kreisler gibt keine Interviews (außer für Freunde wie Fink und Seufert), verweigert jegliche Preise, die man ihm für sein Lebenswerk andrehen will. Österreich, das ihn wieder als Bürger und Ehrenbürger haben will, wirbt heute täglich um ihn. Kreisler schickt jegliche Post zurück und besteht am Telefon für alle, die ihn nun totloben wollen, darauf: „Kreisler gibt es gar nicht!“ – Kreislers Lieder sind historische Aufnahmen. Als solche muss man sie als solche hören. Und vor allem, um ein Gefühl und vielleicht eine Begeisterung entwickeln zu können, muss man die Lieder live hören. Kreisler tritt ja selber nicht mehr auf und auf CD ist die Magie und Kraft oft nicht mehr spürbar. Am 12. Dezember gibt es allerdings in der Durlacher Orgelfabrik einen Kreislerabend, an dem Konstantin Schmidt am Flügel einen Auszug aus dem Kreislerschen Werk präsentiert. Dazu ist zu raten, auch wenn Schmidt ein dummer Lackaffe ist (wie ich neulich im Gespräch bemerken durfte). – Schlussendlich: Nette Biographie (keine Weltliteratur!) zu sehr guten Chasons eines zynischen Querulanten.
P.S.:
Ebenfalls hörenswert: Kreislerplatte von der Punk-Band „Die Kassierer“

Julian Barnes: Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln

Barnes versteht sein Handwerk und serviert mit seiner kleinen, amüsanten Weltgeschichte einen saftigen Leckerbissen, den ich Dir, Lynkeus heute Abend als ein verspätetes Geburtstagsgeschenk zukommen lassen werde.
Mit seinem Roman „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“ ist dem englischen Schriftsteller Julian Barnes 1989 zweifelsohne ein großer Wurf gelungen. Mit Fug und Recht darf man das Werk als modernen Klassiker bezeichnen; Mit Recht befindet es sich auch auf den „Have-to-read“-Listen der literaturwissenschaftlichen Seminare, die sich mit moderner englischer Literatur beschäftigen (Dieser Umstand hat zwar keine große Bedeutung, nur fallen mir solche Sachen natürlich erst nach Beendigung meines universitären Studiums auf!).
Nein, das Buch ist kein entspannender Lesegenuss! Es treibt dem Leser derweilen ganz ordentlich Schweißperlen in die Stirn. Das kleine Gehirnjogging, das Barnes dem Leser hier zumutet, fordert unsere Kondition und Konzentration durch den experimentellen Charakter, den er diesem Werk zugrunde legt. Das Schweißtreibende und zugleich das Faszinierende an dem Werk sind seine formalen Aspekte. Der Text in seiner Gesamtheit entzieht sich einer klaren gattungstypologischen Charakterisierung. Es ist kein herkömmlicher Roman aus einem Guss, sondern am ehesten vielleicht ein „Portfolio“, eine Zusammenstellung von unterschiedlichen Textsorten, Genres und Erzählperspektiven. Angefangen bei dem Bibelkommentar des ersten Kapitels aus der Perspektive eines blinden Passagiers, über den rasanten psychologischen Thriller des zweiten Kapitels, den Orginaldokumenten eines tierischen Schauprozesses mit den Elementen der Tierfabel bis hin zu Reise- und Katastrophenberichten und einer Bildbeschreibung ist an Textgattungen eine große Bandbreite ausgeschöpft. Verbunden sind diese Texte durch eine zentrale Metapher für das menschliche Dasein bzw. das Dasein der Schöpfung, die in unterschiedlicher Gestalt und Variation in den Texten immer wieder auftaucht: Die Gefährdung der Schöpfung durch die Sintflut und die Errettung durch Noah und seine Arche. Auch wenn die einzelnen Texte in die unterschiedlichsten Richtungen streben und oft gar nichts miteinander zu tun haben, sind sie durch die gemeinsame grundlegende Metapher miteinander verbunden. Sie schwebt quasi über allen Texten und bildet eine Synthese, die es dem Werk dann doch noch erlaubt als Roman bezeichnet zu werden.
Wie der Titel bereits bereitwillig Auskunft gibt, erwartet den Leser eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln. 413 Seiten hat sich der Autor dafür Platz genommen. Eine Hybris sondergleichen, denkt sich jeder Leser bei der ersten Begegnung. In dieser anmaßenden Verkürzung liegt aber gerade die verführerische Kraft: Sofort beginnt man zu überlegen, welche Ereignisse der Weltgeschichte von derartig herausragender Bedeutung sein könnten, dass sie in einer Dokumentation der Weltgeschichte Eingang finden könnten. Die Auswahl, die wir vorfinden, ist natürlich stark idiosynkratisch. Mal sind die Texte fiktiv, mal historisch belegt. Die Abfolge der Kapitel ist weder chronologisch geordnet noch kausallogisch miteinander verknüpft. Der Eindruck der Beliebigkeit drängt sich dem Leser auf. Die Romanüberschrift, die an Sir Walther Raleigh´s „The History of the World” (1614) angelehnt ist, variiert diese, indem sie den bestimmten Artikel durch den unbestimmten ersetzt. War Raleighs monumentales Werk noch durch das ehrgeizige Ansinnen geprägt, die Geschichte der Welt seit ihrer Schöpfung als eine lineare Entwicklung wiederzugeben, so stellt sich Barnes Weltgeschichte dem Publikum als eine unter vielen vor. Der Gültigkeitsanspruch ist dem Autor in dieser Zeit verloren gegangen. Durch die zahlreichen heterogenen Kapitel, die wie ein Strauss von Feld- und Wiesenblumen in einer Vase auf dem Tisch stehen, zusammengehalten durch eine zentrale Metapher, zeugen von einer zyklischen Geschichtsauffassung. Die Wahrnehmung der Geschichte ist hier geprägt durch die Fragmentierung und Diskontinuität moderner Wirklichkeitserfahrung. Eine lineare Geschichtsschreibung wie bei Sir Raleigh, das große historische Erzählen ist nicht mehr möglich. Im Vordergrund steht die Erkenntnis, dass jeglicher historischer Zusammenhang arbiträr ist und nur von einer interpretierenden Geschichtsschreibung zusammengehalten wird. Chronologie, Kausalität und Fortschritt werden in dem Roman angezweifelt. In der Geschichte wiederholen sich lediglich immer wieder dieselben Phänomene. Der gesamte Komplex der Sintflut und der Arche, wie sie im ersten Kapitel beschrieben wird, hat auch in heutiger Zeit ihre Gültigkeit und wird im Roman zur zentralen Metapher für die menschliche Existenz.
Alles in allem hat der Autor etwas Ähnlichkeit mit einem mittelalterlichen Bibelkommentator. Er kommentiert und interpretiert im ersten Kapitel den Bibeltext und wendet ihn in den folgenden Kapiteln auf Situationen in der neueren Geschichte an. Er argumentiert überzeugend, dass das in der Bibel enthaltene Grundprinzip, sei es hier noch so bitterböse und zynisch interpretiert, Gültigkeit für das Leben des Menschen im Allgemeinen wie durch die Geschichte hindurch besitzt.

Fred Paronuzzi: Als wären wir schön

Dieses kleine Büchlein habe ich geschenkt bekommen, von jemandem, den ich kaum kenne bzw. der mich nicht im Entferntesten kennt. In diesem Umstand liegt vielleicht bereits das größte Problem. Die begleitenden Worte hierzu waren: „Du wirst es lieben!“ und „… eine schöne kleine, spritzige Liebesgeschichte mit Happy End.“. Das nächste Problem ist, ich lese solche kleinen spritzigen Liebesgeschichten grundsätzlich nicht! – und lese sie dann doch. Aus Höflichkeit. es bleibt einem aber dann auch nichts übrig, als dem geschenkten Buch auch ins Maul hinein zu schauen, sei´s auch noch so übel riechend, und dann zu begründen, warum es nicht gut riecht.
Von dem Autor hat man hierzulande noch nichts gehört und nichts gelesen. Dies ist sein erstes Buch, das aus der italienischen in die deutsche Sprache gefunden hat. Fred Paronuzzi ist ein 67er Jahrgang, Englischlehrer seines Zeichens, lebt in einem Bergweiler in den Savoyen und, ach ja genau, er schreibt Romane.
Einige Sätze zum Inhalt: Es gibt zwei Handlungsstränge. Im ersten Strang begegnet der Leser dem Protagonisten Jeremie, einem mittezwanzigjährigen Franzosen, der traumatisiert durch die Abtreibung seines ungeborenen Kindes, sich zu therapieren sucht. Hierzu nimmt er regelmäßig an der Schwangerschaftsgymnastik im Schwimmbad teil und unterzieht sich einer Kochtherapie bei einem gewissen Dr. Boo. Jeremie bekommt von dem Direktor einer Schule den Auftrag, eine Gruppe von Praktikanten in die USA zu begleiten, wo er diese herum chauffieren soll. An dieser Stelle treffen die beiden Handlungen und deren Protagonisten aufeinander. Rose ist die Protagonistin des zweiten Handlungsstranges. Der Erzähler beschreibt Rosa als eine frustrierte, chipsessende, fernsehende Mittevierzigerin aus Inglewood, Illinois. Sie ist geschieden von ihrem prügelnden, rassistischen Ehemann und hat die Hoffnung auf die wahre Liebe im Leben aufgegeben. Jeremie begegnet Rose, als er bei ihr als Untermieter einzieht. Trotz des Altersunterschiedes verlieben die beiden sich auf den ersten Blick, flüchten sich nach Atlantic City, wo sie heiraten und ihren Honeymoon gemeinsam verbringen.
Paronuzzi zeichnet die beiden Protagonisten seines Buches durch Einblicke in deren Alltag und deren merkwürdigen Angewohnheiten und Umfelder als isolierte, vereinsamte und traurige Zeitgenossen. Beide sind durch schwere Schläge des Schicksals geprägt und desillusioniert und wagen nicht, auf eine Trendwende zum Guten im Leben zu hoffen. Die tiefe Traurigkeit im Inneren der Figuren des Romans kontrastiert stark mit den vielen skurril-humorvollen Kleinigkeiten und Begebenheiten vor allem im Leben des Jeremie, die dem Leser gelegentlich ein nachdenkliches Schmunzeln abringen. Nicht ohne Witz und gut beobachtet ist die Episode mit Jeremie im Schwimmbad. Die Vergleiche und Bilder, die der Erzähler Jeremie bei der Beobachtung der Schwangerengymnastik anstellt, führen den Leser in die verträumte Welt des jungen Manns. Auch die Nebenfiguren unterstützen den Eindruck von geträumten Welten fernab der schwierigen Realität. Ein älterer, seniler Onkel Jeremies streut aus dem Kontext gerissene Erinnerungsbruchstücke an sein Leben in Afrika in die Gespräche und Situationen des Romans. Der träumerische Eskapismus beider Figuren, Jeremie und Rose, deren Begegnung und deren Liebe auf den ersten Blick inmitten skurriler Begebenheiten erinnert an den lieblichen und phantasievollen Jeunet/Caro Film „Amelie“. Nur die Umsetzung ist längst nicht so gelungen. Die Kommentare des Onkels geraten später im Buch zu einem schlechten, eher verstörenden „running gag“. Auch die Eindrücke, Gedanken und Situationen der Figuren hängen wie ein Flickenteppich aneinander. Die Übergänge von einem Handlungsstrang in den anderen sind mal fließend, mal sind sie klar abgehoben. Einerseits unterstreicht diese Machart die innere Verstörtheit der Protagonisten durch ein Trauma; andererseits scheint es dem Leser auch, als hätte der Autor seinen Text nicht wirklich im Griff. Einen inkohärenten, zerrissen Text zu verfassen mag zwar einen modernen Touch haben und auch in der Intention des Autors liegen, es kann allerdings auch als schriftstellerische Unfähigkeit ausgelegt werden. Der Verdacht, dass es sich bei diesem Buch um letzteres handelt, liegt hier leider näher.
Das Happy End gestaltet der Autor, indem er die verschrobenen, einsamen Persönlichkeiten zueinander finden lässt und diese sich, geradezu märchenhaft von der ersten Begegnung an lieben „als wären sie schön“. Der Titel besagt, dass nur diejenigen, die wirklich schön sind, sich auch wirklich lieben können. Die große hässliche Masse müsse es sich im Gefühlsrausch einbilden, schön zu sein, um in den Genuss der Liebe zu kommen. Auch bei der Titelwahl liegt die Vermutung nahe, dass der Autor nicht wirklich wusste, was er tut. Jedenfalls fehlt im Buch eine ausreichende Beschäftigung mit der Bedeutung des Titels.
Das Buch ist sehr kurz geraten. Man merkt am Layout, dass hier Luchterhand Mühe gehabt hat, den wenigen Text so zu strecken, dass es sich in Buchform pressen lässt. Auch, wenn einige Elemente originell sind, so fehlt es an einigen Ecken und Enden und man erwartet schlicht und ergreifend mehr und ein ausführlicheres Erzählen. Darüber hinaus wird man das Gefühl nicht los, dass Paronuzzi mit seiner USA-Schilderung anti-amerikanische Klischees bedienen will. Der Nachgeschmack insgesamt ist fahl und leicht bitter. Dass Paronuzzi mal einen guten Roman präsentiert ist nicht ausgeschlossen, dafür muss er jedoch noch etwas wachsen, lernen und vor allem noch üben, üben, üben…

meint Iwan Jakowlewitsch

Gruß aus Weimar

Ich danke Dir für den Glückwunsch und grüße Dich aus Goethens Heimstatt Weimar. Habe mich anlässlich meines Wiegenfestes auf eine kleine Reise begeben und erfülle mir somit einen lang gehegten Traum. Heute stand das Goethe Haus im Frauenplan, das Gartenhaus und – kontrastierend dazu – der Besuch in Buchenwald auf meinem Tagesplan. Nun werde ich noch mit einigen Bauhausstudenten einen Humpen Köstritzer heben gehen. Ich hoffe, dass wir uns vielleicht am Wochenende begegnen. Dein Iwan Jakowlewitsch

Goya II

Lion Feuchtwanger hat 1951 mit „Goya oder dem argen Weg der Erkenntnis“ einen historischen Roman vorgelegt, der das Leben und Wirken des spanischen Malers Francisco de Goya y Lucientes zum Gegenstand hat. Eine Biographie und eine historisch korrekte Wiedergabe der Ereignisse in seiner Lebenszeit sind hierbei jedoch nicht entstanden. Feuchtwanger verändert die Geschichte, schichtet sie um, verändert ihre Reihenfolge an einigen Stellen so wie es ihm gerade für die Handlung zuträglich erscheint. Feuchtwanger ist bei der Bearbeitung seines historischen Materials selbst schaffender Künstler: Er verändert, formt, gestaltet neu und versucht dadurch, der Aussage des Textes zur größtmöglichen Geltung zu verhelfen und seinem zentralen Thema die schärfsten Konturen zu verleihen.
Das Anfangkapitel erläutert in deutlichen Worten die Grundproblematik und die Situation Spaniens am Ende des 18. Jahrhunderts und lässt das Konfliktpotential für den Roman bereits erahnen: „Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts war fast überall in Westeuropa das Mittelalter ausgetilgt. Auf der iberischen Halbinsel … dauerte es fort.“. Europas Angesicht ist durch die Beben, welche durch die Aufklärung und die französische Revolution verursacht wurden, grundlegend verändert worden. In Spanien hält sich jedoch das Königsgeschlecht der Bourbonen weiterhin auf dem Thron, regiert scheinbar unbeeindruckt in verschwenderischer Manier und ungeachtet jeglicher existentieller, finanzieller und politischer Nöte des Landes. Über allen schwebt bedrohlich, gleich einem Damoklesschwert, die Inquisition der katholischen Kirche und verbreitet Angst und Schrecken.
Feuchtwanger gestaltet den Roman und seinen Protagonisten auf eine Art und Weise, welche über die Figur „Goya“ hinausweist auf den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Am Leben und Wirken Goyas, an seiner allmählichen Persönlichkeitsentwicklung hin zu einem Künstler mit politischem und gesellschaftskritischem Bewusstsein, vollzieht Feuchtwanger exemplarisch den paradigmatischen Umbruch innerhalb der gesamten spanischen Gesellschaft. „Der arge Weg der Erkenntnis“, den der Maler Goya in den drei Teilen dieses Buches beschreitet, wird als ein Prozess des Erwachens aus einer Zeit der Unvernunft, der blinden Religiosität und bedingungslosen Hörigkeit dargestellt. Im ersten Teil des Buches tritt Goya als unpolitisches, charakterloses Individuum auf, das sich seiner gesellschaftlichen Funktion als Maler, seiner Rechte, Pflichten und Grenzen bewusst ist. In dieser Phase malt er ausschließlich Vorlagen für Wandteppiche und harmlose und verklärende Herrscherportraits. Der zweite Teil zeigt Goya als der Maler des Bildes „Die Familie Karls IV“. Goya wagt an diesem Bild Unerhörtes, indem er die königliche Familie nicht wie sonst üblich schönt, sondern sie in einem unbarmherzigen Realismus darstellt: Stupide Gesichter und plumpe Körper stecken in pompösen Rokokokostümen. Als gläubiger Katholik und Monarchist ist er zwar noch linientreu. Allmählich erscheinen ihm jedoch Hirngespinste, die auf eine gefährliche Unordnung in seinem Inneren schließen lassen: Mittags aus heiterem Himmel kriecht ihm El Yantar, das krötenartige Mittagsgespenst, über den Weg. Aberglaube und übernatürliche Erscheinungen scheinen Goya und seinen Zeitgenossen nichts allzu Ungewöhnliches zu sein. Der Leser erfährt, dass auch anderen Personen, z.B. der Herzögin Alba, Geister begegnen. Von dem Gruselkabinett Familie Karls IV über seine ersten Entwürfe vom Krötengeist bis zu den berühmten Caprichos, der Serie von Radierungen, die Goya im dritten Teil des Buches anfertigt, ist es für den Betrachter eine nachvollziehbare konsequente Entwicklung. Mit der zunehmenden Erkenntnis, die Goya durch einschlägige Gespräche mit Freunden und schicksalhafte Erlebnisse von den Umständen in Spanien gewinnt und die er in seinen Bildern verarbeitet, vermag er auch dem spanischen Volk, die wahre Natur des Klerus und der Monarchen zu entdecken: Die Caprichos stellen Mitglieder der königlichen und adligen Gesellschaft als eingebildete Affen und Esel dar, ein Pfaffe sitzt auf den Schultern eines arbeitenden Bauern, hässliche Mönche verschlingen mit großen Mündern gierig Speisen auf einem Tisch. Diese Zeichnungen sind Ausdruck des Loslösungsprozesses von den alten Herrschaftsgebilden. Feuchtwanger stellt das Leben Goyas und seinen „argen Weg der Erkenntnis“ somit als exemplarisches Heraustreten des Menschen des Mittelalters aus seiner Unmündigkeit hinein in die aufgeklärt kritische Welt der individuellen Verantwortung dar, in der blinder Glaube und Aberglaube keinen Platz mehr hat. Der Schlaf der Vernunft hat die Dämonen herbeibeschworen, deren wahre Gestalt der Erwachende nun deutlich zu erkennen vermag.
Die Dämonen des Francisco Goya hat Feuchtwanger in einem genialen Kunstkniff mehrdeutig in den Roman hineingearbeitet: Es bleibt bis zuletzt unklar, wo ihre Ursprünge zu suchen sind. Sind sie Produkt der Verwirrung eines geisteskränkelnden Francisco Goyas wie es sich in den ersten beiden Teilen des Buches vermuten ließe? Oder treibt Goyas Furcht vor dem langen Arm der spanischen Inquisition dunkle Blüten? Handelt es sich bei Goyas Dämonen um paranoide Angstvisionen, die er, ein katholisch erzogener und geprägter Mann, gestalterisch nur in Form von bedrohlichen Dämonen aus der Hölle umzusetzen weiß? Festzustellen ist, dass die Visionen sich bei Goya immer dann verstärken, wenn er dem grausamen Wirken der spanischen Inquisition ausgesetzt ist. Das christlich-ikonographische Inventar der Hölle mit seinen mannigfaltigen Ausgeburten, wie es sich die katholische Kirche und ihre Inquisition durch das ganze Mittelalter hindurch stets zur Einschüchterung der Gläubigen zunutze gemacht hat, kehrt sich in Goyas Caprichos gegen die Kirche und die Mächtigen selbst. In diesem Sinne schlägt Goya die Kirche bewusst oder unbewusst mit ihren ureigenen Waffen. Die Dämonen Goyas sind zwar noch immer gemäß der christlichen Tradition gefallene Engel, die Gefolgschaft des Teufels; Goya – und mit ihm die spanische Gesellschaft – erkennt letztlich aber in den Vertretern des Klerus und des Adels die eigentlichen höllischen Dämonen wieder und begreift sie als Wurzel allen Übels.
Der „Goya“-Roman gleicht insgesamt einem riesigen Goblin-Wandteppich, wie er für den Repräsentationsraum in einem spanischen Herrschaftssitz wie Escorial gefertigt worden sein könnte. Liebevoll gewoben und geknüpft zeigt er wie die Handlungsstränge und das Personal des Romans miteinander verwoben und verknüpft sind. Thomas Mann sprach nach seiner Lektüre von einem „düster glänzenden Riesengemälde“, das Feuchtwanger hier entworfen hätte. Der Roman hat seine Längen, in denen der Leser seinen Atem beweisen muss. Der eigentliche Höhepunkt des Romans, die Anklage Goyas durch das Heiligen Offizium, der sich allerdings als spannendster Teil des Buches liest, ist leider nur Gegenstand der letzten 40 Seiten. Die Beschreibung der Genese einzelner Werke und die Bildbesprechungen ziehen den historisch- und kunstinteressierten Laien jedoch in ihren Bann. Sie ermöglicht ihm durch Feuchtwangers farbenprächtige, adjektivreiche Sprache, sich die Bilder sehr detailliert vorzustellen, so dass der Roman einem streckenweise zu einem Besuch in einer Kunstausstellung gerät. Mit dem historischen und psychologischen Hinterbau zu Goyas Werk, der Verknüpfung von persönlichem Schicksal und Spaniens Geschichte, gelingt es Feuchtwanger, dem Leser ein Eintauchen in eine dreidimensionale Welt zu ermöglichen.
Der Autor zeigt auch in diesem Roman wieder seine Vorliebe für geschichtliche Umbruchs- und Umwälzungssituationen, deren weltanschauliche Konflikte vom individuellen ins historisch-allgemeine aufgeweitet werden können. Als der Roman 1951 in den USA erschien, wurde er von der Leserschaft begeistert aufgenommen. Die Implikationen waren damals vielleicht deutlicher als sie es dem heutigen Leser sein können: Die spanische Gesellschaft in „Goya“ wurde sechs Jahre nach Kriegsende als Allegorie auf die Zustände in Deutschland im Nationalsozialismus verstanden. Für diejenigen, die von der Kommunistenhatz der McCarthy-Ära betroffen waren, – auch Feuchtwanger gehörte dazu -, waren auch die Parallelen zu den Methoden der spanischen Inquisition augenscheinlich.

Grußworte

Ich danke Dir, lynkeus, für die Einladung in diesen Blogg. Ich bin gespannt, was sich daraus entwickelt. Deine Vorlagen sind spannend und ungemein anregend. Die Mischung aus eigenen literarischen Gehversuchen, die Rezensionen von Büchern und Musik und auch dein interdisziplinärer und vergleichender Ansatz macht den Blogg schon zu diesem Zeitpunkt zu einem Hochgenuss für den Leser und verspricht sehr viel. Es grüßt Dich, Dein Freund Iwan Jakowlewitsch.
%d Bloggern gefällt das: